Der vorliegende Essay versucht die Frage "Sind Erbschaftssteuern gerecht?" zu beantworten. Hierzu wird die Gerechtigkeitstheorie des amerikanischen Philosophen John Rawls herangezogen. Es wird mit Rawls die These aufgestellt, dass Erbschaftsteuern insgesamt ungerecht sind und in ihrer jetzigen Form Ungleichheit fördern. Das bedeutet aber nicht, die Steuern für Erben noch weiter zu senken – im Gegenteil: Die Erbschaftssteuersätze sollten viel eher deutlich angehoben werden.
Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Theorie der Gerechtigkeit gegeben und ausgeführt, warum sich die Gerechtigkeitskonzeption von Rawls besonders eignet, um die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit zu beantworten. Auf dieser Grundlage werden in der Diskussion Argumente für und gegen eine Erbschaftssteuer in Bezug auf deren Gerechtigkeitsgehalt abgewogen, um abschließend im Fazit einige Schlussfolgerungen in Bezug auf die Fragestellung zu ziehen.
Sind Erbschaftssteuern gerecht?
1 Einleitung
«Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern», postulierte der nordamerikanische amerikanische Staatsmann und Schriftsteller Benjamin Franklin einmal. Auch wenn er mit dieser Aussage in seiner Zeit richtig gelegen sein mag, ist die Lage bezüglich der Steuern heute weniger eindeutig (Schulz, 2014). In der heutigen Gesellschaft scheint jeder auf die Frage nach einer gerechten Steuerverteilung eine ganz individuelle Antwort zu haben, bei der er - bewusst oder unbewusst - versucht, seinen eigenen Vorteil zu maximieren. Besonders häufig in den Fokus dieser Diskussion rückt hierbei die Erbschaftssteuer. Eines der Probleme in Deutschland ist, dass Erbschaften und Schenkungen im achtstelligen Bereich gar nicht oder nur mit geringen Steuern belastet werden. Darüber hinaus ermöglicht es der Fiskus den Erben von Familienunternehmen seit Jahren, ihre Vermögen steuerfrei zu vererben (Bollmann, 2013).
Der vorliegende Essay versucht die Frage «Sind Erbschaftssteuern gerecht?» zu beantworten. Hierzu wird die Gerechtigkeitstheorie des amerikanischen Philosophen John Rawls herangezogen. Es wird mit Rawls die These aufgestellt, dass Erbschaftsteuern insgesamt ungerecht sind und in ihrer jetzigen Form Ungleichheit fördern. Das bedeutet aber nicht, die Steuern für Erben noch weiter zu senken - im Gegenteil: Die Erbschaftssteuersätze sollten viel eher deutlich angehoben werden.
Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Theorie der Gerechtigkeit gegeben und ausgeführt, warum sich die Gerechtigkeitskonzeption von Rawls besonders eignet, um die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit zu beantworten. Auf dieser Grundlage werden in der Diskussion Argumente für und gegen eine Erbschaftssteuer in Bezug auf deren Gerechtigkeitsgehalt abgewogen, um abschließend im Fazit einige Schlussfolgerungen in Bezug auf die Fragestellung zu ziehen.
2 Diskussion
Von Sokrates bis Jürgen Habermas machen sich seit vielen Jahrtausenden schon zahlreiche Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen über die Thematik der Gerechtigkeit Gedanken. Eine eindeutige Antwort bleibt jedoch aus. Zu komplex und umfangreich scheint die Frage nach einer Definition dieses breit diskutierten Begriffs.
Für den vorliegenden Essay wurde lediglich ein ethischer Referenzrahmen der politischen Philosophie herangezogen, der maßgeblich zur Prägung des Gerechtigkeitsbegriffs beigetragen hat: John Rawls mit seinem Hauptwerk «A Theory of Justice» (1971). Seine Gerechtigkeitskonzeption eignet sich besonders gut, um die Frage, ob Erbschaftssteuern gerecht sind, zu beantworten. Denn er beachtet als einer der wenigen liberalen Theoretiker die Tatsache, dass natürliche und soziale Faktoren den Erfolg eines Individuums maßgeblich beeinflussen (Becker, Schmidt, & Zintl, 2012). So gelang es ihm mit seinerTheorie, die an die Grundgedanken von Hobbes und Locke anknüpfen, die Gerechtigkeitsfrage in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wieder in das Blickfeld der philosophischen Debatten zu rücken.
Bei dem Versuch, die Strukturen der Gesellschaft als Ganzes zu ergründen, befasst Rawls sich nicht nur mit ihren grundlegenden institutionellen Einrichtungen, sondern bewertet auch deren Verteilung der sozialen Güter (social primary goods), unter die neben den Grundfreiheiten auch Einkommen und Vermögen fallen. Weil das Vorhanden bzw. Nichtvorhandensein einer Erbschaftssteuer das Vermögen eines Individuums maßgeblich bestimmen kann, lohnt es sich die Erbschaftssteuer mit der Theorie des amerikanischen Philosophen zu verknüpfen, wenn man deren Gerechtigkeitsgehalt beurteilen möchte.
Rawls vertritt die Auffassung, dass es «richtige» ethische Urteile über Gerechtigkeit gibt, denen keiner mit vernünftigen Argumenten widersprechen kann. Um zu einem solchen Urteil zu gelangen, müssten die Präferenzen der Individuen von persönlichen Interessen gereinigt sein. Die Individuen wissen folglich nichts über die Beschaffung der Gesellschaft, ihren ökonomischen und sozialen Status oder ihre Herkunft. Kurz: Sie sind frei von Interessen und völlig unvoreingenommen. Diesen Urzustand nennt Rawls den Schleier des Nichtwissens («veil of ignorance»). Die persönlichen Interessen kommen vor allem auf Grund von Vorteilen zustande, die durch soziale Herkunft, also die Situation, in die man hineingeboren wurde und die natürliche Komponente, also die Fähigkeiten, mit denen man bei der Geburt ausgestattet worden ist, zum Vorschein gebracht werden.
Diese fiktive Ausgangssituation ermöglicht ein faires Verfahren, welches wiederum zu einer gerechten Grundordnung führt. Hieraus resultiert auch die Bezeichnung der Theorie als «Gerechtigkeit als Fairness». Diese Grundordnung ist wiederum durch zwei fundamentale Grundsätze geprägt: Zum einen der Grundsatz der größtmöglichen gleichen Grundfreiheit (Prinzip der gleichen Freiheit) und zum anderen der Grundsatz, der die Verteilung von Grundgütern regelt. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind laut diesem nur dann gerecht sind, wenn sie allen offen stehen (Prinzip derfairen Chancengleichheit) und die am wenigsten Bevorteilten am meisten profitieren (Differenzprinzip oder Unterschiedsprinzip). Diese Begründung ergibt sich aus dem Urzustand: Die Individuen versuchen die am schlechtesten gestellte Gruppe so gut wie möglich zu stellen, weil nicht auszuschließen ist, dass sie selbst dieser Gruppe angehören (Herzog, 2019). Sowohl die Grundsätze als auch als die Bedingungen für die Verteilung der Grundgüter stehen in lexikalischer Ordnung. Folglich ist der erste Grundsatz immer dem zweiten Grundsatz vorzuziehen.
Und innerhalb des zweiten Prinzips muss der Grundsatz der fairen Chancengleichheit über dem Differenzprinzip priorisiert werden.
Die Erbschaftsteuer unter dem Schleier des Nichtwissens
Um die Gerechtigkeit der Erbschaftssteuern zu beurteilen, muss folglich die Frage gestellt werden, wie man unter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden würde. Weil sich der erste Grundsatz auf die Gestaltung der politischen Verfassung beruft, die das Prinzip der gleichen Freiheit gewährleisten soll (Becker et al., 2012), kann dieser als Fundament gesehen werde, das die Diskussion über soziale Probleme und die Verteilungen von Gütern - wie die über die Erbschaftssteuer - erst ermöglicht. In der folgenden Diskussion wird davon ausgegangen, dass diese Grundfreiheiten in der (deutschen) Gesellschaft (weitgehend) gewährleistet sind, um den zweiten Grundsatz in Bezug auf die Erbschaftssteuer genauer zu erörtern.
Nach dem zweiten Grundsatz werden ungleiche Positionen der Individuen zugelassen, sofern diese Ungleichheiten weder gegen das Prinzip der fairen Chancengleichheit noch gegen das Differenzprinzip verstoßen. Im Sinne des Differenzprinzips wäre eine Erbschaftssteuer dann gerecht, wenn die Besteuerung von Erbe eine Verbesserung für die am schlechtesten Gestellten nach sich ziehen würde. Im Umkehrschluss wäre eine Erbschaftssteuer dann ungerecht, wenn sich durch die Besserstellung der ohnehin besser Gestellten die Position des schlechter Gestellten zusätzlich verschlechtern würde oder wenn eine Besserstellung der schlechter Gestellten im gleichen Maße zu erwarten ist, da sich die Position der letzteren in der Gesellschaft so nicht verbessert.
Ein Blick auf die heutige Gesellschaft zeigt uns, dass schlechter Gestellte, die alle Einkünfte für ihren Lebensunterhalt brauchen, kein Vermögen bilden können. Denn wer kein Geld hat, kann es auch nicht für sich arbeiten lassen. Spitzenverdiener hingegen, die zum Lebensunterhalt nur einen Bruchteil ihres Einkommens benötigen, sammeln Vermögen an. Wenn sie dieses investieren, wird ihr Einkommen durch Kapitalerträge immer weitergesteigert.
Erwerbstrieb als Motor der Wettbewerbsgesellschaft
An dieser Stelle ist zu beachten, dass eine Erbschaftssteuer als Hemmnis für Mehrarbeit gesehen werden kann (Horioka, Gahramanov, Hayat, & Tang, 2020). Weil die Menschen so über weniger Kapitel verfügen, würde dies in der Folge zu einem sinkenden Konsumverhalten und einer Reduzierung des Bruttoinlandprodukts führen. Der Staat hätte als Konsequenz weniger Steuereinnahmen und somit auch weniger Mittel zur Ausgestaltung des Sozialstaates. Trotz Erbschaftssteuer würde sich die Position des am schlechtesten Gestellten somit nicht verbessern.
Direkte Investitionen der globalen Geldelite
Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass sich viele Superreiche, wie beispielsweise Bill Gates, sich ihrer privilegierten Stellung bewusst sind und versuchen, sie zurückzuzahlen, indem sie diese an wohltätige Zwecke spenden. So hat Gates mit seiner Frau die Bill & Melania Gates Foundation gegründet, die bis heute über 7,5 Milliarden US-Dollar gespendet hat. Die Stiftung setzte sich vor allem für Gesundheitsprojekte in Entwicklungsländern wie Afrika und Asien ein (Bill & Melinda Gates Foundation, 2020). Auch wenn sich das hinzugezogene Beispiel nicht auf jeden Reichen übertragen lässt, ist die Frage, die es primär zu stellen gilt: Ist das Geld der Privilegierten nicht besser investiert, wenn sie es direkt bzw. über eine agilere Organisation für wohltätige Zwecke spenden und somit versuchen die Position der schlechter Gestellten zu verbessern, als wenn sie es über (Erbschafts-)Steuern an den Fiskus geben, bei dem es dann versickert? Da fast jeder schon Berichterstattungen über durch Steuereinnahmen erhobenes Geld gelesen hat, das durch Korruption, Bürokratie oder schlichte Unfähigkeit der Verwaltung auf der Strecke geblieben ist, wird die Frage von den meisten wahrscheinlich mit einem „Ja" beantwortet werden. Auf Grund der vorangegangen Argumentation für eine Erbschaftsteuer zu plädieren, istjedoch zu kurz gedacht.
Generationsübergreifende Förderung der Ungleichheit
Denn das Differenzprinzip darf nach Rawls erst dann angewandt werden, wenn die Erfordernisse der fairen Chancengleichheit berücksichtigt wurden. Wie eingangs bereits erwähnt, stehen die beiden Prinzipien der Verteilung der Grundgüter in lexikalischer Ordnung. Folglich steht die Chancengleichheit über dem Differenzprinzip. Dabei besagt Ersteres, dass «soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu regeln [sind], dass sie [...] mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gemäß der fairen Chancengleichheit offen stehen» (Rawls, 1979, S.81). Folglich dürfte eine schlechtere wirtschaftliche Lage eines Individuums nicht dazu führen, dass dieses eine schlechtere Chance hat, eine bestimmte soziale Position zu erreichen, wenn es die gleichen natürlichen Fähigkeiten wie ein privilegierteres Individuum hat. Dass dies in Deutschland nicht der Fall ist, lässt sich zum Beispiel an der Möglichkeit, ein Universitätsstudium aufzunehmen, erläutern: Auch wenn hierfür in Deutschland schon lange eine formale Chancengleichheit besteht, haben wirtschaftlich schlechter Gestellte eine geringere faire Chancengleichheit, weil ihnen die praktische Möglichkeit fehlt, das Studium zu finanzieren. Obwohl die Einführung des BAföG dazu beigetragen hat, die faire Chancengleichheit zu verbessern, ist die Diskrepanz der Bildung in Familien mit einem geringeren Einkommen im Vergleich zur Bildung in Familien mit einem besseren Einkommen immer noch zu kritisieren. Eine niedrigere Bildung auf Grund einer schlechteren wirtschaftlichen Lage erschwert es den Betroffenen folglich, eine gewünschte (z.B. berufliche) Position zu erreichen.
Während Reiche bei keiner oder einer geringen Erbschaftssteuer über Generationen hinweg immer mehr Geld anhäufen, haben schlechter Gestellte kaum eine Möglichkeit ihren Lebensstandard zu verbessern. Professor Dr. Christoph Butterwegge befürchtet auf Grund der immer größeren Konzentration von Reichtum sogar die Entstehung eines neuen Feudalismus in Deutschland:
«Wenn aufgrund des demografischen Wandels immer weniger Kinder der Reichen immer mehr erben, bildet sich ein Geldadel, der durch die Steuergesetze der vergangenen Jahre besondersprivilegiertist» (Zöllich, 2015).
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- Quote paper
- Anonymous,, Sind Erbschaftssteuern gerecht? Die Theorie der Gerechtigkeit nach John Rawls, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1362678