Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
1. DIE ZWEI IDEOLOGIEN UND DIE ROLLE DER BEWUßTHEIT
1.1 DIE ARBEITER UND DIE ORGANISATION DER ARBEITER
1.2 DIE BERUFSREVOLUTIONÄRE UND DIE AVANTGARDE
2. LENINS KONZEPT ZUM STRATEGISCHEN PLAN
2.1 PROLETARISCHES UND POLITISCHES KLASSENBEWUßTSEIN
2.2 DER ÜBERGANG DES ELEMENTAREN KLASSENKAMPFES IN EINEN
REVOLUTIONÄREN K LASSENKAMPF
SCHLUSSGEDANKEN
LITERATUR
Einleitung
In dieser Arbeit soll Lenins Theorieentwurf der Entstehung des politischen Klassenbewußtseins bei den Arbeitern Rußlands vorgestellt werden. Im ersten Teil der Arbeit gehe ich auf die beiden laut Lenin bestehenden Ideologien, nämlich die bürgerliche und die sozialistische, und auf die Rolle der Bewußtheit, d.h. in wieweit diese Ideologien im Bewußtsein des russischen Proletariats verankert sind, ein. In diesem Zusammenhang soll die Bewußtseinslage der Arbeiterschaft beleuchtet werden und der theoretische Entwurf Lenins für die Notwendigkeit der Mobilisierung der Arbeitermassen durch eine revolutionäre Vorhut dargestellt werden.
„In seiner Arbeit „Was tun?“, die im Mai 1902 in Stuttgart veröffentlicht wurde, entwickelte Lenin seinen Plan für die Gründung einer großen, konspirativen Organisation.“1 Dieser Plan ist Gegenstand des zweiten Teils meiner Arbeit. Mit diesem Plan werden konkrete Strategien für die ununterbrochene Verwirklichung Lenins revolutionären Programms formuliert, welches zum Ziel hatte, das bis dahin vorherrschende proletarische Klassenbewußtsein in ein politisches umzuwandeln, um somit die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution zu schaffen.
1. Die zwei Ideologien und die Rolle der Bewußtheit
Die Auseinandersetzung der Ideologien und die verschiedenen Formen der Bewußtheit spielen in Lenins Theorie eine wichtige Rolle.
Nach Lenin gibt es nur zwei sich bekämpfende Ideologien: „[...],so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine dritte Ideologie hat die Menschheit nicht ausgearbeitet, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, keine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann).“2
„Dem Kampf für die soziale Revolution geht der Kampf zwischen der Ideologie der herrschenden Klasse und den neuen Ideen der revolutionären Klasse voran.“3 Das bedeutet, daß das proletarische Klassenbewußtsein überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit der Ideologie der Herrschenden entwickelt wird. Die Ausformung einer Ideologie, einer „Bewußtheit“, ist wichtig für den Erfolg und die Beschleunigung des elementaren Klassenkampfes. „In der Tat, bisher scheint niemand daran gezweifelt zu haben, daß die Stärke der heutigen Bewegung im Erwachen der Masse (und vor allem des Industrieproletariats) liegt, ihre Schwäche aber im Mangel an Bewußtheit und Initiative der revolutionären Führer.“4
Lenin vergleicht in „Was tun?“ die spontanen Streikbewegungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit denen aus den neunziger Jahren und stellt einen „Schritt vorwärts“ fest: „Verglichen mit diesen »Rebellionen« kann man die Streiks der neunziger Jahre sogar als »bewußte« bezeichnen [...]. Das zeigt uns, daß das spontane Element eigentlich nichts anderes darstellt als die Keimform der Bewußtheit.“5 Waren die Rebellionen des frühen 19. Jahrhunderts noch mehr Ausdruck der Verzweiflung als ein Kampf, zeigen die Streiks der neunziger schon erste Anzeichen von Bewußtheit: Bestimmte Forderungen werden aufgestellt, man berät sich und tauscht sich auch mit Streikgruppen aus anderen Regionen über die Erfahrungen aus. „Waren die Rebellionen lediglich eine Auflehnung unterdrückter Menschen, so brachten die systematischen Streiks bereits Keime des Klassenkampfs zum Ausdruck, aber eben erst Keime.“6
Die Bewußtheit, beziehungsweise die Entwicklung eines proletarischen Klassenbewußtseins, ist für die Beschleunigung des elementaren Klassenkampfes unerläßlich. Elementarer Klassenkampf ist zu verstehen als Streik, als aktive Aktionen.
Für den revolutionären Klassenkampf - also den Klassenkampf, der die völlige Umwälzung der bestehenden Gesellschaft zum Ziel hat - braucht man dagegen revolutionäres Bewußtsein. „Dieses Bewußtsein könne nur von einer revolutionären sozialistischen Intelligenz bürgerlicher Herkunft entwickelt werden, die das nötige Verständnis für abstrakte Theorie besitze.“7
Lenin trennt also die Gesellschaft vorerst in zwei Gruppen: die Masse der Arbeiter und die Avantgarde, beziehungsweise die Organisation der Arbeiter und die revolutionäre Organisation. „Der politische Kampf der Sozialdemokratie ist viel umfassender und komplizierter als der ökonomische Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung. Genau so (und infolgedessen) muß die Organisation der Arbeiter für diesen Kampf anderer Art sein als die Organisation der Arbeiter für diesen Kampf.“8
1.1 Die Arbeiter und die Organisation der Arbeiter
Lenin geht von der Prämisse aus, daß die Arbeiter nicht von Anfang an eine homogene Gruppe darstellen. Sie sind vielmehr ein loser Zusammenschluß, der erst langsam ein Bewußtsein - das proletarische Klassenbewußtsein - entwickelt. Unterschiedliche Herkunft, verschiedene Arbeitsvoraussetzungen, differierende Wohnorte beeinflussen die Charakterstärke, den Kampfwillen und das Selbstbewußtsein des einzelnen Arbeiters und tragen wesentlich zur Heterogenität der Arbeiterklasse bei.
So sind zum Beispiel die Arbeiter in der Stadt größtenteils alphabetisiert und haben schon Erfahrungen mit gewerkschaftlichen Organisationen gesammelt, während auf dem Lande ein kollektiv gestaltetes Leben noch weitgehend unbekannt ist. Auch die Größe des Betriebes kann Auswirkungen auf die Entwicklung eines proletarischen Klassenbewußtseins haben. So fördern in einem Großbetrieb „sowohl die ökonomischen als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse die Entwicklung eines elementaren Klassenbewußtseins (des Bewußtseins, daß die »soziale Frage« nur durch kollektive Tätigkeit und Organisation gelöst werden kann)“9, was in einem Kleinbetrieb nicht der Fall ist. Es gibt also zwei Arten von Arbeitern - die Masse und die, die im Bewußtseinsprozeß schon fortgeschrittener sind.
Lenin sagt klar, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches, beziehungsweise revolutionäres Bewußtsein gar nicht haben und auch nicht allein entwickeln könnten. „Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse aus eigenen Kräften nur ein trade- unionistisches Bewußtsein herauszuarbeiten vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen,...“.10 Diese Verbände - die Organisation der Arbeiter - stellt er sich folgendermaßen vor: „Die Organisation der Arbeiter muß erstens eine gewerkschaftliche sein; zweitens muß sie möglichst umfassend sein; drittens möglichst wenig konspirativ (...).“11 Um eine große Anzahl von Arbeitern in dieser Organisation zu vereinigen, sind nicht nur sozialdemokratische, sondern alle Arbeiter zur Mitarbeit gefragt, denn „das eigentliche Ziel der Gewerkverbände wäre gar nicht zu erreichen, wenn diese Gewerkverbände nicht sehr breite Organisationen wären.“12
Die Organisation der Revolutionäre ist genau das Gegenteil - geheim, klein und konspirativ. Sie ist notwendig, um den Arbeitern das politische Klassenbewußtsein zu vermitteln, denn dieses „kann in den Arbeiter nur von auß en hineingetragen werden“.13
1.2 Die BerufsrevolutionÄre und die Avantgarde
„Die Organisation der Revolutionäre muß [...] vor allem und hauptsächlich Leute erfassen, deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist (darum spreche ich auch von der Organisation der RevolutionÄre,...).“14 Diese Leute bezeichnet Lenin mit dem Begriff der „Berufsrevolutionäre“15.
Da, wie oben schon erwähnt, die Arbeiter von sich aus kein revolutionäres Bewußtsein entwickeln können, muß nach Lenin eine relativ kleine konspirative Gruppe von ausgebildeten Leuten den Kampf zwischen den spontanen Aktionen weiterführen, denn „...so werden wir die Widerstandsfähigkeit der Bewegung als Ganzes sichern und sowohl sozialdemokratische als auch eigentlich tradeunionitische Ziele verwirklichen können.“16
Diese Vorhut rekrutiert sich aus allen Klassen, „vornehmlich aber aus der bürgerlichen Intelligenz“.17 Denn, so Lenin, „die Lehre des Sozialismus ist [...] aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgewachsen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden.“18 Auch Marx und Engels gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Klasse an, argumentiert Lenin weiter.19 Der Weg zum Berufsrevolutionär ist speziell und langwierig. „..., denn die Menge wird dann wissen, daß es nicht genügt, wenn sich ein paar Studenten und einen ökonomischen Kampf führende Arbeiter zusammentun, um ein Komitee zu bilden, sondern daß es notwendig ist, sich durch jahrelange Arbeit zu einem Berufsrevolutionär auszubilden.“20
„Die Revolutionäre mußten durch die Organisierung der Arbeiter und durch die zentralisierte Agitation und Propaganda den »spontanen Kampf gegen die Unterdrücker« in den Kampf einer Arbeiterpartei für bestimmte »politische und sozialistische Ideale« verwandeln.“21
Mit der Erfüllung dieser Anforderungen macht die revolutionäre Organisation die Bildung einer Elitepartei - einer Avantgarde - erst möglich. „Außerhalb dieser Verbindung erzeugt revolutionäre Tätigkeit allenfalls einen Partei kern, nicht aber eine Partei.“22
Die Wichtigkeit einer revolutionären Organisation und die Rahmenbedingungen dafür faßt Lenin in fünf Behauptungen zusammen:
„Und nun behaupte ich, daß 1. keine einzige revolutionäre Bewegung ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben kann; 2. je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein [(...)]; 3. eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen; 4. je mehr wir die Mitgliedschaft einer solchen Organisation einengen, und zwar so weit, daß sich an der Organisation nur diejenigen Mitglieder beteiligen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen und in der Kunst des Kampfes gegen die politische Polizei berufsmäßig geschult sind, um so schwieriger wird es in einem absolutistischen Lande sein, eine solche Organisation „abzufangen“, und 5. um so breiter wird der Kreis der Personen aus der Arbeiterklasse wie aus den übrigen Gesellschaftsklassen sein, die die Möglichkeit haben werden, an der Bewegung teilzunehmen und sich in ihr aktiv zu betätigen.“23
Die Berufsrevolutionäre bilden den revolutionären Untergrund, auf dem die Partei - die Avantgarde - aufgebaut werden kann.
„Avantgarde zu werden in der russischen Revolution bedeutete, daß die Partei von Berufsrevolutionären gestützt werden mußte, die diszipliniert und verbindlich den Anweisungen des Zentralkomitees gehorchten, selbst aber alle revolutionären Erfahrungen in die Parteidiskussion einbrachten, damit die Partei der jeweils veränderten Position angepaßt werden konnten.“24
2. Lenins Konzept zum strategischen Plan
In seinem Werk „Was tun?“ entwickelt Lenin einen zentralen Plan, der die elementaren, versprengten und lokalen Widerstandsbewegungen in einer Partei- Agitation zusammenfaßt.25 Der Plan hat zum Ziel, die einzelnen revolutionären Kader mit den fortgeschrittenen Arbeitern zu verbinden, denn um eine ununterbrochene Verwirklichung des revolutionären Programms zu garantieren, ist eine Avantgarde, die sich nicht durch das Auf und Ab der Massenbewegungen beeinflussen läßt, unerläßlich.
Lenin möchte nicht mißverstanden werden, er hält die spontanen Aktionen für einen wichtigen Bestandteil der Revolution. „Wir haben die ganze Zeit nur von einer systematischen, planmäßigen Vorbereitung gesprochen, doch wollten wir damit keineswegs sagen, daß der Absolutismus unter dem Druck ausschließlich durch eine regelrechte Belagerung oder einen organisierten Sturmangriff gestürzt werden kann. [...] Im Gegenteil: Es ist durchaus möglich und historisch weitaus wahrscheinlicher, daß der Absolutismus unter dem Druck eines jener elementaren Ausbrüche oder unvorhergesehener politischer Komplikationen fallen wird, die ständig von allen Seiten her drohen.“26
Durch eine umfassende politische Tätigkeit, die sämtliche Fragen der inneren und äußeren Klassenverhältnisse aufwirft und durch die Annahme aller fortschrittlichen Forderungen und Bewegungen sämtlicher unterdrückter Gesellschaftsschichten kann die Entfaltung des proletarischen Klassenbewußtseins zu einem politischen Klassenbewußtsein vollzogen werden.
„In Wirklichkeit aber kann die »Steigerung der Aktivität der Arbeitermassen« nur dann erreicht werden, wenn wir uns nicht beschränken auf die »politische Agitation auf ökonomischen Boden«. Und Lenin schreibt weiter: „Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter es nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle der Willkür und Unterdrückung, der Gewalttaten und Mißbräuche zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen,...“.27
Im folgenden sollen die Prämissen für die Entfaltung eines proletarischen und eines politischen Klassenbewußtseins beziehungsweise für den Übergang des elementaren Klassenkampfes in einen revolutionären Klassenkampf erläutert werden.
2.1 Proletarisches und politisches Klassenbewuß tsein
Die breite Masse der Arbeiter nimmt nur an spontanen Massenaktionen, die in der Regel die sofortige Befriedigung von ökonomischen oder sozialen Mißständen zum Ziel haben, teil. Sie kämpft intuitiv, aber ohne Ausdauer - früher oder später zieht sie sich in das Privatleben zurück.
Diese Aktionen führen nicht zur massenhaften Entwicklung von revolutionären Klassenbewußtsein, denn die Erfüllung dieser Ziele ist auch im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Ziele durchaus erreichbar. Revolutionäres, beziehungsweise politisches Bewußtsein ist aber - wie oben bereits erwähnt - vonnöten, wenn die bestehende Gesellschaft gestürzt und durch eine neue ersetzt werden soll. Doch einige aus dieser Arbeitermasse nutzen ihre Erfahrungen aus den spontanen Aktionen. Sie erkennen, daß sie den Weg zur kontinuierlichen Organisation und zum wachsenden Klassenbewußtsein beschreiten müssen, um lang anhaltenden Erfolg zu haben. „Weil der Kampf zeigt, daß die Auflösung der Widerstandskassen nach jedem Streik der Wirksamkeit des Streiks und der Substanz der Kasse schadet, wird der Versuch gemacht, zum dauerhaften Streikfonds überzugehen. Weil die Erfahrung zeigt, daß ein gelegentlich gedrucktes Flugblatt weniger Wirkung hat als eine ununterbrochen erscheinende Zeitung, wird die Arbeiterpresse gegründet.“28 Lenin betont die Wichtigkeit einer gesamtrussischen Zeitung in seinem Artikel „Womit beginnen?“, erschienen in der vierten Ausgabe der Ende 1901 unter anderem von ihm ins Leben gerufenen Zeitung „Iskra“ (Der Funke) und im seinem Werk „Was tun?“ noch einmal ausführlich behandelt. Für ihn ist das der erste Schritt zu einer gesamtrussischen Bewegung. „Schließlich, wir brauchen unbedingt eine politische Zeitung.“29 Und weiter, „Die Rolle der Zeitung beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Verbreitung von Ideen, nicht allein auf die politische Schulung und Gewinnung politischer Bundesgenossen. Die Zeitung ist nicht nur kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator. In dieser Beziehung kann sie mit einem Gerüst verglichen werden, das um ein im Bau befindliches Gebäude errichtet wird; es zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch die organisierte Arbeit erzielten allgemeinen Resultate zu überblicken.“30
Entspringt politisches, also revolutionäres Klassenbewußtsein bei den Massen aus objektiv revolutionärer Kampferfahrung, so entsteht es bei den fortgeschrittenen Arbeitern aus der Lebens-, Arbeits- und Kampferfahrung überhaupt, die durchaus nicht revolutionär zu sein braucht.
Das politische Klassenbewußtsein und die Befreiung der Mehrheit der Unterdrückten von der Herrschaft der bürgerlichen Ideologie kann jedoch nur in der Revolution ihre volle Entfaltung gewinnen31, was eine innere Dialektik darstellt.32
Die Kategorie der revolutionären Klasse geht davon aus, daß der Sozialismus eine Wissenschaft ist, die sich letztendlich nur individuell aneignen läßt.33 Da der Marxismus als Wissenschaft mit der höchsten Entfaltung des proletarischen Klassenbewußtseins gleichzusetzen ist, können sich dieses Klassenbewußtsein, also das politische Denken, nur die erfahrensten, klügsten und kämpferischsten Mitglieder des Proletariats aber auch anderer Gesellschaftsklassen, aneignen. „Dazu ist es notwendig, daß die Intellektuellen uns [...] mehr davon sagen, was wir noch nicht wissen, was wir aus unserer eigenen Fabrik- und „ökonomischen“ Erfahrung nie lernen können, nämlich: politisches Wissen.“34
Es ist laut Lenin nicht möglich, den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, indem man nur unter die Arbeiter geht. Lenin betont, daß das „politische Klassenbewußtsein [...] in den Arbeiter nur von auß en hineingetragen werden“ kann, „außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“35 Denn das „Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, ist das Gebiet der Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, das Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“36 Um den Arbeitern also dieses revolutionäre, politische Wissen zu vermitteln, „müssen die Sozialdemokraten unter alle Klassen der Bevölkerung gehen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.“37
2.2 Der Übergang des elementaren Klassenkampfes in einen revolutionären Klassenkampf
Die spontanen Massenaktionen entzünden sich für die breiten Massen immer nur an den unmittelbaren Lebensfragen. Um jedoch aus dem Klassenkampf einen revolutionären zu machen, das heißt, einen Klassenkampf, der den Fortbestand der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Produktionsweise in Frage stellt, muß eine hohe Anzahl fortgeschrittener Arbeiter vorhanden sein. Die müssen in der Lage sein, die Massen für weitreichendere Ziele zu mobilisieren.
Folgende Punkte haben eine zentrale Bedeutung beim Übergang des Klassenkampfes in einen revolutionären Klassenkampf: Übergangsforderungen, strategische Standorte von bereits in der Propaganda von Übergangsforderungen geübter Arbeiter und das historische Gewicht der revolutionären Organisation, die allein fähig ist, ein umfassendes Programm von Übergangsforderungen auszuarbeiten, das sowohl den objektiven historischen Bedingungen als auch den subjektiven Bedürfnissen der Massen entspricht. Nur wenn alle diese Faktoren miteinander verbunden sind, „ist eine siegreiche Revolution möglich.“38
Die Übergangsforderungen werden an die unmittelbaren Bedürfnisse und Ziele der Arbeiteraktionen geknüpft. Dies ist ein wichtiger Punkt revolutionärer Strategie, denn diese Forderungen sind nicht mehr im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung integrierbar und sie lösen somit eine revolutionäre Dynamik aus, die zu einer Kraftprobe zwischen den zwei entscheidenden Gesellschaftsklassen führen muß.
Der Unterschied zwischen einer spontanen Aktion und einer Aktion, in die die revolutionäre Vorhut lenkend mit eingreift, besteht hauptsächlich darin, daß in der spontanen Aktion dieses Eingreifen unorganisiert, improvisiert, diskontinuierlich und planlos geschieht, während das Bestehen einer revolutionären Organisation es erlaubt, das Eingreifen der Avantgarde in den spontanen Massenkampf zu koordinieren, zu planen, bewußt zu synchronisieren und kontinuierlich zu gestalten.39
Da der genaue Zeitpunkt von Massenaktionen nicht bestimmbar ist, sondern Zwischenfälle, Teilkonflikte und Zufälle eine wichtige Rolle spielen, ist eine revolutionäre Vorhut wirksamer als das vereinzelte Auftreten vieler fortgeschrittener Arbeiter. Denn denen fehlt meist der Überblick und die Konzentrationsfähigkeit, während die Vorhut dazu imstande ist, ihre Kraft im richtigen Moment auf das schwächste Glied zu konzentrieren.
Der elementare und der revolutionäre Klassenkampf sind untrennbar miteinander verbunden - genau wie auch die Arbeiter und die von Lenin entwickelte Kategorie der Berufsrevolutionäre, der Avantgardepartei unwiderruflich zueinander gehören. Im Vergleich mit der deutschen Bewegung definiert Lenin genau das Zusammenspiel:
„Dazu gehören doppelte Anstrengung auf dem Gebiet des Kampfes und der Agitation. Es wird namentlich die Pflicht der Führer sein, sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, sich mehr und mehr dem Einfluß überkommender, der alten Weltanschauung angehöriger Phrasen zu befreien und stets im Auge zu behalten, daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will. Es wird darauf ankommen, immer mehr geklärte Einsicht unter den Arbeitermassen mit gesteigertem Eifer zu verbreiten, die Organisation der Partei wie der Gewerkschaftsgenossenschaften immer fester zusammenzuschließen.“40
Schlußgedanken
Lenins Analyse des revolutionären Potentials in der Bevölkerung und sein zentraler Plan sollten die Revolution, also den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung ermöglichen, und sein Plan sollte in Erfüllung gehen. „Es gelang ihm, eine »eiserne«, »konspirative«, »zentralisierte« und streng »disziplinierte« Organisation zu schaffen.[...] Lenins Partei herrschte im größten Land der Welt 70 Jahre lang über Millionen von Menschen.“41 Schon damals und aber auch heute, nach dem Zerfall der Sowjetunion, wurde und wird Lenins Organisationstheorie diskutiert. Ein Kritikpunkt, der immer wieder auftaucht, ist die von Lenin propagierte zentrale Stellung der Avantgarde, die nach Meinung einiger Kritiker die Voraussetzung für den Stalinismus geschaffen habe.42
Wolfgang Leonhard dagegen stellt in seinem Artikel „War Lenin verantwortlich für den Stalinismus?“ unter anderem an acht Apekten fest, daß er „jegliche Kontinuität zwischen Leninismus und Stalinismus“ ablehne.43 Eine Vertiefung dieser Diskussion über Lenins Theorie, die gerade in Anbetracht der heutigen Situation in der ehemaligen Sowjetunion hochbrisant ist, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen möchte ich mit dem folgenden Zitat von dem russischen Autor Dimitri Wolkogonow schließen: „Das Schicksal unseres Volkes scheint untrennbar mit Lenin und seiner Lehre verbunden. Nur die Zeit kann die Menschen endgültig vom Leninismus heilen.“44
Literatur
Bergmann, Theodor/ Hedeler, Wladislav/ Keßler, Mario/ Schäfer, Gert
(Hrsg.): Lenin. Theorie und Praxis in historischer Perspektive. Beiträge zum
internationalen Lenin- Symposium, Wuppertal, 15. - 18. März 1993. Mainz 1995.
Lenin, Wladimir Iljitsch: Was tun?. Brennende Fragen unserer Bewegung. 4. Auflage. Berlin 1951.
Mattick, Paul (beteiligt): Lenin. Revolution und Politik. Mit Beiträgen von Paul Mattick, Bernd Rabehl, Juri Tynjanow und Ernest Mandel. Baden- Baden 1970.
Leonhard, Wolfgang: War Lenin verantwortlich für den Stalinismus?. Persönliche Betrachtungen eines Zeitzeugen. In: .S. 997 - 1007.
Lieber, Hans - Joachim (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn 1993
Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Berlin 1953.
Wolkogonow, Dimitri: Lenin. Utopie und Terror. Düsseldorf/ Wien/ New York/ Moskau1994.
[...]
1 Wolkogonow, Dimitri: Lenin. Utopie und Terror. Düsseldorf/ Wien/ New York/ Moskau 1994, S. 65.
2 Lenin, Wladimir Iljitsch: Was tun?. Brennende Fragen unserer Bewegung. 4. Auflage. Berlin 1951, S. 77.
3 Mandel, Ernest: Lenin und das Problem des proletarischen Klassenbewußtseins. In: Mattick, Paul/ Rabehl, Bernd/ Tynjanow, Juri/ Mandel, Ernest: Lenin. Revolution und Politik. BadenBaden 1970, S. 155.
4 Lenin: 1951, S. 64.
5 Ebd., S. 65.
6 Ebd., S. 66.
7 Hansen, William/ Schulz, Brigitte: Leninismus, Sozialismus und Demokratie. In: Bergmann, Theodor/ Hedeler, Wladislav/ Keßler, Mario/ Schäfer, Gert (Hrsg.): Lenin. Theorie und Praxis in historischer Perspektive. Beiträge zum internationalen Lenin- Symposium, Wuppertal, 15. - 18. März 1993. Mainz 1995, S. 113.
8 Lenin: 1951, S. 150.
9 Mandel: 1970, S. 158.
10 Lenin: 1951, S. 66.
11 Ebd., S. 150.
12 Ebd., S. 152.
13 Ebd., S. 117.
14 Ebd., S. 150.
15 Ebd., S. 161.
16 Lenin: 1951, S. 158.
17 Fenske, Hans: Politische Denken im 20. Jahrhundert. In: Lieber, Hans- Joachim (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn 1993, S. 752.
18 Lenin: 1951, S. 66.
19 Ebd., S.66.
20 Ebd., S. 164.
21 Rabehl, Bernd: Zur Methode der revolutionären Realpolitik des Leninismus. In: Mattick, Paul/ Rabehl, Bernd/ Tynjanow, Juri/ Mandel, Ernest: Lenin. Revolution und Politik. Baden- Baden 1970, S. 107.
22 Mandel: 1970, S. 158.
23 Lenin: 1951, S. 163 f.
24 Rabehl: 1970, S. 110.
25 Vergl.: Mandel: 1970, S. 167.
26 Lenin: 1951, S. 19.
27 Ebd., S. 106.
28 Mandel: 1970, S. 162 f.
29 Lenin: 1951, S. 16.
30 Ebd., S. 17f.
31 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Berlin 1953, S. 70.
32 Mandel: 1970, S.156.
33 Mandel: 1970, S. 159.
34 Lenin: 1951, S. 112.
35 Ebd., S. 117.
36 Ebd., S. 117.
37 Ebd., S. 117f.
38 Mandel: 1970, S. 165.
39 Ebd., S.173.
40 Lenin: 1951, S. 62.
41 Wolkogonow: 1994, S. 65.
42 Vergl.: Hansen/ Schulz: 1995, S. 110ff.
43 Leonhard, Wolfgang: War Lenin verantwortlich für den Stalinismus?.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in dieser Arbeit über Lenins Theorie zur Entstehung des politischen Klassenbewusstseins?
Die Arbeit untersucht Lenins Theorieentwurf zur Entstehung des politischen Klassenbewusstseins bei den Arbeitern Russlands. Sie befasst sich mit den zwei Ideologien (bürgerliche und sozialistische) und der Rolle des Bewusstseins, analysiert die Bewusstseinslage der Arbeiter und stellt Lenins theoretischen Entwurf zur Mobilisierung der Arbeitermassen durch eine revolutionäre Vorhut dar.
Was ist Lenins Plan zur Gründung einer konspirativen Organisation, der in „Was tun?“ entwickelt wurde?
Lenins Plan, der in „Was tun?“ dargelegt wird, umfasst konkrete Strategien zur Verwirklichung seines revolutionären Programms. Dieses Programm zielte darauf ab, das vorherrschende proletarische Klassenbewusstsein in ein politisches Bewusstsein umzuwandeln, um die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution zu schaffen.
Welche Rolle spielen Ideologien und Bewusstsein in Lenins Theorie?
Ideologien und verschiedene Formen des Bewusstseins sind zentral für Lenins Theorie. Er argumentiert, dass es nur zwei sich bekämpfende Ideologien gibt: die bürgerliche und die sozialistische. Die Entwicklung eines proletarischen Klassenbewusstseins erfolgt im Kampf gegen die Ideologie der Herrschenden, und Bewusstsein ist entscheidend für den Erfolg und die Beschleunigung des Klassenkampfes.
Was ist der Unterschied zwischen elementarem und revolutionärem Klassenkampf?
Elementarer Klassenkampf umfasst spontane Aktionen wie Streiks. Revolutionärer Klassenkampf zielt auf die völlige Umwälzung der bestehenden Gesellschaft ab und erfordert revolutionäres Bewusstsein, das laut Lenin nur von einer revolutionären sozialistischen Intelligenz bürgerlicher Herkunft entwickelt werden kann.
Wie unterscheidet Lenin zwischen der Organisation der Arbeiter und der Organisation der Revolutionäre?
Lenin unterscheidet zwischen der Organisation der Arbeiter (Gewerkschaften), die möglichst umfassend und wenig konspirativ sein soll, und der Organisation der Revolutionäre, die geheim, klein und konspirativ ist. Letztere ist notwendig, um den Arbeitern das politische Klassenbewusstsein zu vermitteln, das sie laut Lenin nicht von selbst entwickeln können.
Wer sind die "Berufsrevolutionäre" und welche Rolle spielen sie?
Die "Berufsrevolutionäre" sind Personen, deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist. Sie bilden eine relativ kleine konspirative Gruppe von ausgebildeten Leuten, die den Kampf zwischen den spontanen Aktionen weiterführen und den Arbeitern das politische Klassenbewusstsein vermitteln sollen.
Was ist Lenins Konzept zum strategischen Plan, um die Revolution voranzutreiben?
Lenins strategischer Plan, wie er in "Was tun?" dargelegt wird, zielt darauf ab, elementare, versprengte und lokale Widerstandsbewegungen in einer Partei-Agitation zusammenzufassen. Ziel ist es, einzelne revolutionäre Kader mit fortgeschrittenen Arbeitern zu verbinden und eine Avantgarde zu schaffen, die sich nicht von den Auf- und Ab-Bewegungen der Massen beeinflussen lässt.
Was versteht Lenin unter proletarischem und politischem Klassenbewusstsein?
Proletarisches Klassenbewusstsein bezieht sich auf das Bewusstsein der Arbeiter über ihre Ausbeutung und die Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen. Politisches Klassenbewusstsein, das revolutionäre Bewusstsein, geht darüber hinaus und beinhaltet das Verständnis für die Beziehungen aller Klassen zum Staat und zur Regierung sowie die Notwendigkeit, die bestehende Gesellschaftsordnung zu stürzen.
Wie erfolgt der Übergang vom elementaren zum revolutionären Klassenkampf?
Der Übergang vom elementaren zum revolutionären Klassenkampf erfordert eine hohe Anzahl fortgeschrittener Arbeiter, die in der Lage sind, die Massen für weitreichendere Ziele zu mobilisieren. Zentrale Bedeutung haben Übergangsforderungen, strategische Standorte von geübten Arbeitern und das historische Gewicht der revolutionären Organisation.
Was sind die Kritikpunkte an Lenins Organisationstheorie?
Ein Kritikpunkt an Lenins Organisationstheorie ist die zentrale Stellung der Avantgarde, die nach Meinung einiger Kritiker die Voraussetzung für den Stalinismus geschaffen habe. Andere argumentieren, dass es keine Kontinuität zwischen Leninismus und Stalinismus gibt.
- Quote paper
- FREDERIKE MEINERT (Author), 2001, Die Verknüpfung der Arbeitermasse mit der Avantgarde in Lenins Theorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/101267