Mit der Frage, ob das Sturmlied Goethes den Geist des genialen Erschaffens widerspiegelt und inwiefern die Genieästhetik in seinem Werk verwirklicht wird, soll zunächst allgemein auf die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts eingegangen werden, um anschließend die genialistischen Attribute am Gedicht zu prüfen.
Dieses Bild des selbstschöpferischen, auserwählten Menschen wurde im Sturm und Drang das Leitbild einer Epoche, die nach Originalität und Eigenschöpfertum strebte. Die Abwendung vom Schönen und Sittlichen, hin zum Lebendigen und Schaffenden bildete die Grundlage für das Entstehen einer Genieästhetik, dessen Auswirkungen man noch weit über die Epoche des Sturm und Drang hinaus spüren konnte. Das Genie soll nicht durch Regeln poetische Schönheit hervorbringen, sondern durch wahrhaftiges Empfinden die Natur- und Gefühlswelt abbilden. „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“ soll sein poetisches Seelenleben sein und keine dichterische Vorgabe sein Handwerk bestimmen. Wegweisend für die Entwicklung der Genieästhetik sind Herder und Hamann, die für Goethes dichterisches Schaffen eine prägende Rolle einnahmen. Als Höhepunkt der Geniezeit stehen Goethes Hymnen, wie solche des Wandrers Sturmlied, welches den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Die Genieästhetik im 18. Jahrhundert
1.1 Die Bedeutung Pindars in der Genieästhetik
2 Der genialistische Wanderer im Sturm
2.1 Historischer Abriss des Gedichtes
2.2 Odenform und Genieästhetik im Sturmlied
3 Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Alles geben Götter die unendlichen
Ihren Lieblingen ganz
Alle Freuden die unendlichen
Alle Schmerzen die unendlichen ganz.“1
Der sokratische Daimonion ist die berühmte innere Stimme Sokrates, welcher in der Funktion eines Schutzgeistes dem antiken Dichter bei Rat und Not zur Seite stand. Sokrates sah seinen Schutzgeist als individuelles Geschenk für den ausgezeichneten Einzelnen an, welches nicht jedem zuteilwurde. Diese Auffassung bietet die Grundlage für den Charakter des Genius, welcher in Anlehnung an den griechischen Dämon in der römischen Antike entstand. Der römische Genius war gleich dem Dämon ein Schutzgeist, der den Auserwählten als begleitende Macht dem Schöpferisch-Himmlischen näherbrachte. Während dem Genius das Talent (ingenium) zuteil war, musste der gewöhnliche Mensch durch Gelehrsamkeit (studium) seinem Wissen nachgehen.
Dieses Bild des selbstschöpferischen, auserwählten Menschen wurde im Sturm und Drang das Leitbild einer Epoche, die nach Originalität und Eigenschöpfertum strebte. Die Abwendung vom Schönen und Sittlichen, hin zum Lebendigen und Schaffenden bildete die Grundlage für das Entstehen einer Genieästhetik, dessen Auswirkungen man noch weit über die Epoche des Sturm und Drang hinaus spüren konnte. Das Genie soll nicht durch Regeln poetische Schönheit hervorbringen, sondern durch wahrhaftiges Empfinden die Natur- und Gefühlswelt abbilden. „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“2 soll sein poetisches Seelenleben sein und keine dichterische Vorgabe sein Handwerk bestimmen. Wegweisend für die Entwicklung der Genieästhetik sind Herder und Hamann, die für Goethes dichterisches Schaffen eine prägende Rolle einnahmen. Als Höhepunkt der Geniezeit stehen Goethes Hymnen, wie solche des Wandrers Sturmlied, welches den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt. Mit der Frage, ob das Sturmlied Goethes den Geist des genialen Erschaffens widerspiegelt und inwiefern die Genieästhetik in seinem Werk verwirklicht wird, soll zunächst allgemein auf die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts eingegangen werden, um anschließend die genialistischen Attribute am Gedicht zu prüfen. Im Folgenden wird die Frankfurter Ausgabe3 „Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg.: Eibl, Karl. Berlin 2013“ als Textgrundlage der Untersuchungen dienen.
1 Die Genieästhetik im 18. Jahrhundert
Die Genieästhetik entwickelt sich aus dem allgemein gesellschaftlichen Wandel des 18. Jahrhunderts, welcher sich im Zuge der Aufklärung vom Weg der Unterdrückung bis hin zum autonomen und unabhängigen Menschen vollzieht. Kritik und Aufklärung sind die Schlüsselbegriffe des gesamten 18. Jahrhunderts, welche sich in allen Bereichen der Gesellschaft manifestieren und einen Umsturz der bisher geltenden Autoritäten zur Folge haben.4 Die Aufstieg der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert bildet die Grundlage für das Aufkommen empirischen Denkens und für emanzipatorischer Bewegungen, welche sich auch im literarischen Diskurs in der Literatur wiederspiegeln. Das Streben nach „sozialer, rechtlicher, weltanschaulicher und politischer Freiheit und Unabhängigkeit“5 ist maßgeblich für die literarische Epochenentwicklung des Sturm und Drang. Als Leitgedanke dieser Epoche gilt die Proklamation der Autonomie, aus der die Begrifflichkeit des Genies geboren wird. Sie wird als „Manifestation[...] des unabhängig gewordenen [...] Menschen“6 verstanden, der jedwede Autorität verneint.7 Entscheidend im Genie-Diskurs ist Edward Young mit seinem Werk „Conjections on Original Composition“, in welchem er das Genie mit seinem Anspruch auf Authentizität vom Gelehrten als Meister abgrenzt, dessen „Gelehrsamkeit, Bildung und Wissen“8 dem eigenschöpferischen Genius nur Instrument zur Produktion sind.9 Weiterhin bezeichnet Young sämtliche Regeln als„Krücken“ für das Genie, die „eine nothwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden“10, seien. Dies gilt für die Dichter des Sturm und Drang als Grundsatz.11 Demgegenüber lässt Gottsched verlauten, dass jedes ingenium (Talent) dieser Hilfsmittel der Gelehrsamkeit bedarf, da es „für sich selbst noch roh und unvollkommen“ ist.12 Die spinozistische Gleichsetzung Gottes mit der Natur, wodurch eine Ablösung des Gottbegriffes durch den Naturbegriff stattfindet, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Dichter essenziell, und impliziert ein neues Gefühl der Eigenverantwortung durch die Abwendung vom Göttlichen hin zum Natürlichen. Die Säkularisation impliziert zugleich die Abkehr von einer repressiven Gesellschaftsordnung als einen „Akt der Selbstbefreiung“13, woraus die Aufwertung des Einzelnen resultiert. Die Schöpferwürde wird dem Göttlichen abgesprochen und auf den Menschen übertragen, was sich im häufigen blasphemischen Zitieren der Bibel in der Literatur der Stürmer und Dränger niederschlägt.14 So geht die neue Auffassung mit ihren Erwartungen an ein neues literarisches Verständnis und ein neues dichterisches Selbstbild über den ursprünglichen Streit zwischen den Alten und den Modernen (Querelle des ancienes et des modernes) hinaus. Es wird nicht mehr nur die Frage aufgeworfen, ob das Genie durch ingenium oder durch studium (Gelehrsamkeit) die antike Dichtung überbieten kann, vielmehr wird ein Streben nach einer „Produktionsästhetik“15 evoziert, welche sich von der reinem „Darstellungs- und Wirkungsästhetik“16 abhebt.
Das heteronome Dichten, welches seither durch die Antike geprägt ist und das Sprechen des Dichters durch einen Gott oder eine Muse impliziert, transformiert sich hin zur Auffassung, dass wahre Dichtkunst eine Begabung des Dichters als ein Geschenk der Götter ist.17
Nach Young zeichnet sich geniale Dichtkunst durch die schöpferischen Erzeugnisse von Schönheiten aus, welche durch kein vorgegebenes Regelwerk kreiert werden können. Ein solches Erleben von Schönheit lässt sich demnach nicht durch Mimesis erzeugen, sondern ausschließlich durch das Nacheifern des mustergültigen Dichters.18 Hierdurch prägt Young den Geniebegriff als Gottesbild in uns, der sich in Anlehnung an den sokratischen Daimonion über die Regeln der Gelehrsamkeit hinwegsetzt, der als vom Himmel stammender Genius interpretiert werden kann.19 Trotz der angestrebten Formlosigkeit und der Unbegrenztheit von Ausdruck und Gefühl in der Literatur des Sturm und Drang wird dennoch keine regellose Kunst postuliert, sondern vielmehr ein Reflektieren der bisher existierenden Regeln,20 wie es auch im Folgenden am Sturmlied zu erkennen gilt. Den Anspruch Youngs an das „Genie“ erfüllt der antike Dichter Pindar, welcher folglich als Leitfigur der Dichtung im Sturm und Drang aufgefasst wird.21 In dieser modernen Literatur ist es Shakespeare, der als Inbegriff des Genies apostrophiert wird,22 da er durch ein neues und fruchtbares Vokabular die Subjektivität des Menschen exponiert, welche die Stürmer und Dränger als „die Wahrheit des Kunstwerks“ begreifen.23
1.1 Die Bedeutung Pindars in der Genieästhetik
Pindars Denkbilder und Stilhaltungen sind für die Vertreter des Sturm und Drang die Grundlage ihres literarischen Kanons. Der antike Dichter gilt als Muster des elementar-naturhaften, genialen Dichters, welches das gesamte 18. Jahrhundert hinweg nicht an Aktualität verliert. Er etabliert die im Sturm und Drang später festverankerten Grundsätze, wie zum Beispiel jenen der zentralen Antithese des von Natur aus begnadeten Menschen und den sterilen, regelbefolgenden Gelehrten24 und wird darüber hinaus zur „ideologischen Autorität“25. Addison deklariert Pindar im Jahre 1711 als ein „great Genius [...], who was hurried on by a natural Fire and Impetuosity“26 und erhebt ihn somit zum Paradigma des genialen Dichters, ähnlich wie Herder Shakespeare später als Inbegriff des Genies apostrophiert.27 Als „Schlüsseltext“ der Pindar-Rezeption und der daran anknüpfenden Genie-Metaphorik gilt Horaz Ode carm. IV, 2. Wegweisend für Pindars Epinikien ist die Metaphorik des großen Stroms, der durch sein bewegtes, fruchtbares Vorwärtsströmen die Verkörperung des Genius abbildet, sowie die Verbildlichung des Feuers, welches durch seine glühende Eigenschaft das euphorische Streben in der Genieästhetik vertritt. Der naturhafte und freiheitsliebende Charakter der pindarischen Dichtung drückt sich des weiteren in der Spontaneität, der Regellosigkeit und der Neuschöpfung der Sprache aus, da Genialität Originalität voraussetzt. Auch das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein ist ein unmissverständliches Indiz der Pindar-Rezeption, welches sich in vielen Schriften des 18. Jahrhundert wiederfindet. Obwohl der antike Dichter, dessen Bedeutung noch weit in die Epoche der Weimarer Klassik hineinreicht, als Exempel der irrational-genialischen und ekstatischen Poesie aufgefasst wird, darf nicht vergessen werden, dass pindarisches Dichten stilisieren bedeutet.28 In diesem Paradoxon bewegt sich auch Goethe mit seinem Sturmlied, welches im Folgenden näher betrachtet werden soll.
2 Der genialistische Wanderer im Sturm
2.1 Historischer Abriss des Gedichtes
Das Gedicht „Wandrers Sturmlied“ von Johann Wolfgang von Goethe ist vermutlich auf einer seiner Wanderungen zwischen Frankfurt, Bad Homburg und Darmstadt im Frühjahr 1772 verfasst worden. Es handelt von einem Wanderer, der sich durch den aufkommenden Sturm seinem Genius nahefühlt und thematisiert wie kein anderes Werk Goethes die Genieästhetik des 18. Jahrhundert sowie die Abgründe der Genialität. Rückblickend ordnet Goethe es trotz seines artifiziellen Charakters in einen von „Spontaneität und impulsiver Schaffenslust bestimmten Entstehungskontext“29 ein. In seinem berühmten Brief vom 10. Juli 177230 wird die Relevanz Pindars für den Dichter herausgestellt und die intensive Beschäftigung Goethes mit Pindars Epinikien sowie den antiken Dichtern Anakreon und Theokrit („gerieth an Theokrit und Anakreon, zuletzt zog mich was an Pindarn wo ich noch hänge“31 ) gezeigt. Im August 1774 erreicht Friedrich Heinrich Jacobi eine Handschrift des Gedichtes, erst 1815 wird es im Zuge einer Werkausgabe veröffentlicht.32 Wie in allen Werken Goethes wird das Gedicht durch einen „exzentrische Erlebnisrhythmus“33, durch die Oszillation des lyrischen Ichs zwischen genialischem Schöpfertum und irdischer Schwermut bestimmt.34
2.2 Odenform und Genieästhetik im Sturmlied
Dem Hymnus der Antike entspricht in der neueren Literatur des 18. Jahrhundert die Hymne oder die Ode, die durch ihren feurigen, leidenschaftlichen und pathetischen Charakter den kirchlichen Lobgesängen in der Antike nahekommt.35 Als Kennzeichen der deutschsprachigen Odendichtung haben sich die durch Horaz überlieferten antiken Odenstrophen durchgesetzt. Neben dem Aspekt des Sangbaren folgen darüber hinaus unter anderem als Merkmale der Ode im 18. Jahrhundert die die vielen Verse in einer Strophe, Reimlosigkeit sowie die Auflösung der Alternation, welche durch die streng regulierte Verteilung der Hebungen und Senkungen in jedem einzelnen abgelöst wird.36 Wegweisend für die Odendichtung sind unter anderem Nicolas Boileau mit seinem „Discours sur l´Ode Encyclopédie“, Rémond de Saint-Mard, der die Idee des Erhabenen etabliert, Johann Gottfried Herder, der später den Begriff der Logik des Affektes prägt und Pierre-Antoine Lebrun, der in Frankreich als einer der größten Oden-Dichter des 18. Jahrhunderts gewertet wird.37 Als Vorreiter im deutschsprachigen Raum zählt Friedrick Gottlieb Klopstock, dessen Oden von einem Ton hymnischer Feier bestimmt werden. Themen wie höchste Menschheitswerte, Freundschaft, Frühlingsfeier, Natur sowie enthusiastische und empfindungsvolle Hingabe werden durch Klopstock in seiner Odendichtung manifestiert.38 Alle folgenden Beobachtungen werden sich auf das Modell der pindarischen Ode beziehen, die, aufgrund der beispielhaften Rolle Pindars, die Basis der Odentheorie des 18. Jahrhundert bildet.39 In seinen Fragmenten einer Abhandlung über die Ode beschreibt Herder die Ode den „Ursprung der Dichtung “40, die somit ganz der Auffassung des Begriffs des Genius durch seine Ursprünglichkeit und Natürlichkeit im 18. Jahrhundert entspricht. Er eruiert in jeder Ode einen „Faden der Leidenschaft“41 und sieht die Odendichtung als aus der Empfindung heraus geboren an,42 was sich zweifellos auch in den Hymnen Goethes widerspiegelt, der mit seiner naturhaften, ursprünglichen und von leidenschaftlicher Empfindung beseelten Dichtungsart einen Meilenstein in der Geschichte der Ode darstellt. Damit gewinnt Herder für die Lyrik neue Wertmaßstäbe, welche sich vom vorhergehenden rationalistischen Programm absetzen. Auch die zentrale Bedeutung Pindars in dem vermeintlich regellosen Dichten der Stürmer und Dränger manifestiert sich in Herders Fragmenten, da Pindar seiner Meinung nach durch seine Dithyramben das Ideal der Einheit zwischen dem Gedanken und dem sprachlichen Ausdruck verwirklicht. In Herders Augen ist geniale Dichtkunst gegeben, wenn der schöpferische Gedanke sich so zum sprachlichen Ausdruck verhält, wie die Seele zu ihrem zugehörigen Körper.43 Somit kann die Ode als reine und ungezwungene Ursprungsform der Poesie den schöpferischen Moment am unmittelbarsten repräsentieren und den innovativen Ausdruck des Genies abbilden.44 Durch die Beschäftigung mit Herders Fragementen zur Ode, findet sich das pindarische Orientierungsmuster auch in Goethes Hymnendichtung wieder.45 Aber nicht erst durch Herder oder Horaz46 wird Pindar zum Genie erhoben, sondern auch er selbst präsentiert sich in seiner Dichtung als schöpferische Ausnahmeerscheinung47 und kreiert hierbei die Abgrenzung zwischen dem belesenen, vielwissenden Mannes und dem mit genialer Schöpferkraft Begabten, dem sein Können als Geschenk der Natur zuteilwird. Die hervorgerufene Diskrepanz zwischen angeborenem Genie und uninspirierter Nachahmung spielt in der Genie Ästhetik des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle.48 Somit fokussierte sich Goethe nicht nur thematisch auf das Genie-Ideal, sondern evozierte auch durch die Verwendungen der Odenform den ekstatischen Originalcharakter des schöpferischen Genius.49
Alle Charakteristika, die für die Odenform kennzeichnend sind, lassen sich auch in Wandrers Sturmlied Goethes ausmachen, weshalb es sich somit konsequent sowohl in der Tradition der pindarischen Ode als auch in der Auffassung der Odentheorie des 18. Jahrhunderts bewegt.50
Die von der Odentheorie geforderte Form des Stürmisch-Erlebnishaften, der scheinbar chaotisch-assoziative Duktus, zieht sich ausnahmslos durch das Gedicht. Pindar gleich meidet Goethe meisterhaft eine genaue logische Komposition, um durch die fehlende Stringenz die Seele der lyrischen Poesie zu evozieren.51
Der verworrene Zustand wird durch das Einsetzen der vielen Bilder („Feuerflügel“ V. 12, „Blumenfüßen“ V, 14) und die mythischen Anspielungen („Deukalions flutschlamm“ V. 15, „Hüterfittigen“ V. 22, „Ceder Grün“ V. 68) sowie der nur locker und assoziativ miteinander verknüpften Gedanken hervorgerufen, die durch eine kühne und unförmliche Sprache (Komposita wie „Schlammpfad“ V. 11, „Fürstenblick“ V. 65 oder parallele Adjetivbildungen wie „blumenglücklich“ V.91) untermalt werden.52 Goethe macht sich die pindarische Regelverletzung zu eigen und stiftet bei den Lesern Verwirrungen, die bis heute nicht ganz aufgelöst werden können. Somit lebt das Sturmlied von seinem Spiel aus Regelverletzung und seiner sprachschöpferischen Geschicklichkeit.53
Was im ersten Moment als ein unbändiges-gesetzloses, im Regen gesungenes Lied erscheint, wird de facto durch eine vollständig ausgeprägte literaturtheoretische Konvention hervorgerufen.54 Nicht nur die vielschichtige und kunstvolle Komposition des Liedes, sondern auch der „ungestüme[r] Stil“55 mit seinen universalen Stil- und Denkbildern evoziert einen stürmischen und dranghaften Gesamteindruck, welcher aber bei genauer Analyse eine Ordnung und eine Logik zu Tage befördert, die bis ins kleinste Detail hinein reflektiert und konstruiert ist.56
Da die Ode durch ihre Akzentuierung auf das Ursprüngliche, das Natürliche, auf die Echtheit der Gefühle oft als „reine Poesie“ deklariert wird, nimmt auch im Sturmlied der Begriff der Reinheit einen Platz ein, beispielsweise im Musenanruf Ihr seyd rein... (V. 34f). Der Aspekt der Reinheit wird in dem Streben nach Innerlichkeit, nach glühender Begeisterung und intensiven Gefühlen herausgeboren, wodurch deutlich wird, dass sich die dichterische Reinheit und die dichterische Intensität bedingen57, was zugleich die für die Ode wichtige Komponente des Glühens und des Feuers aufwirft. Im Sturmlied lässt sich eine Vielzahl von Feuer-Metaphern erkennen, welche das schöpferische Moment verbildlichen. Gleich in der zweiten Strophe steht beispielsweise das Feuer zur Verbildlichung der göttlichen Inspiration des Dichters58 („Mit den Feuerflügeln“, V. 3) oder die mehrfache Verwendung des Verbes „glühen“ (Vers 4, Strophe 9, Vers 7 & 8, Strophe 12) sowie des Wortes „Glut“ (V. 4, V.12). Das Feuer, die Wärme und die Glut erschaffen im Gedicht eine Art magische Anziehung, um die das gesamte Bestreben des Wanderers aufgebaut ist. Erst durch die Metaphorik des Feuers, die hier mit den Worten „Feuerflügeln“ (V. 12), „Wärme“ (V. 26, 27), „feurige“ (V. 40) , „heulleuchtend umwärmend Feuer“ (V. 43), „innre Glut“ (V. 55), „glüh/glühte“ (V. 62 und V. 110) , „Glut“ (V. 115) dargestellt wird, bindet Goethe einen der wichtigsten Topoi der Odentheorie und der Pindar-Idolisierung ein, um die Signifikanz der leidenschaftlichen Gefühle herauszustellen.59
In antiken Gedichten lässt sich zu Beginn einer Hymne oft ein Musenanruf konstatieren, wodurch sich die fromme Überzeugung ausdrückt, dass das Wissen und Können des Dichters nicht aus eigenem menschlichen Vermögen hervorgehen, sondern als Geschenk einer höheren Macht aufgefasst werden.60 Auch im Sturmlied lässt sich ein solcher Anruf finden, mit dem Unterschied, dass das lyrische Ich nach seinem Genius ruft („Wen du nicht verlässest Genius“ V. 1) und die Musen in den folgenden Strophen herbeizitiert („Umschwebt mich ihr Musen“ V. 29).61 Während sich noch bei Klopstock das lyrische Ich dem hymnisch gefeierten Objekt zuwendet, löst Goethe, ganz in der Manier der Stürmer und Dränger, das Phänomen auf, indem er das lyrische Ich und das hymnisch gefeierte Objekt identisch werden lässt.62 Trotz der Kontrafaktur Goethes, welche die heteronome Charakterisierung des Dichters in eine autonome Selbstdarstellung transponiert,63 ist die Vorgabe der pindarischen Ode durch seinen Geniusanruf erfüllt.
[...]
1 Stein 1902, S. 77f., Brief Nr. 250, hier S. 77.
2 In „Egmont“, Trauerspiel von Johann Wolfgang von Goethe, 1775.
3 Eibl, Karl 1987, S. 142-145.
4 Vgl. Schmidt 1985, S. 5.
5 Ebd., S. 4.
6 Ebd.
7 Vgl. ebd.
8 Luserke 2010, S. 67.
9 Vgl. Young 1977, S. 27.
10 Ebd., S. 29.
11 Vgl. Luserke 2010, S. 67f.
12 Vgl. Gottsched 1962, S. 103.
13 Schmidt 1985, S. 6.
14 Vgl. ebd.
15 Luserke 2010, S. 67.
16 Ebd.
17 Vgl. Weimar 2007, S. 701ff.
18 Vgl. Luserke 2010, 68.
19 Vgl. ebd..
20 Vgl. Buschmeier /Kauffmann 2010, S. 66-78.
21 Vgl. Luserke 2010, S. 68.
22 Vgl. Fischer-Lamberg 1956, S. 75-79.
23 Vgl. Luserke 2010, S. 35f.
24 Vgl. Schmidt 1985, S. 179f.
25 Ebd., S. 184.
26 Addison, Steele 1711, Artikel Nr. 161 (und nicht wie fälschlicherweise immer zitiert ,Artikel Nr. 160´)
27 Vgl. Karthaus 200, S. 64.
28 Vgl. Schmidt 1985, S. 180ff.
29 Falk 2012, S. 98.
30 Vgl. ebd.
31 Vgl. ebd.
32 Vgl. ebd.
33 Ebd., S. 99.
34 Vgl. ebd.
35 Vgl. Viëtor 1961, S. 134.
36 Vgl. Weimar 2007, S. 735f.
37 Vgl. Ebd.
38 Vgl. Schmidt 1985, S. 196.
39 Vgl. ebd., S. 216.
40 Suphan 1899, S. 62.
41 Ebd., S. 73.
42 Vgl. Schmidt 1985, S. 197.
43 Vgl. Falk 2012, S. 95.
44 Vgl. Schmidt 1985, S. 198.
45 Vgl. ebd.
46 Ode IV
47 Vgl. Falk 2012, S. 96.
48 Ebd.
49 Vgl. Schmidt 1985, S.199.
50 Vgl. ebd., S. 203.
51 Vgl. ebd., S. 208.
52 Vgl. Vöhler 1999, S. 438f.
53 Vgl. ebd.
54 Vgl. Schmidt 1985, S. 207.
55 Vgl. Schmidt 1985, S. 207.
56 Vgl. ebd.
57 Vgl. ebd, S. 215.
58 Vgl. Otto / Witte 1996, S. 93.
59 Vgl. Schmidt 1985, S. 210, 239.
60 Vgl. ebd., S. 225.
61 Vgl. ebd., S. 224.
62 Vgl. ebd., S. 197.
63 Vgl. Schmidt 1985, S. 197.