Übung zur Einführung in die Sozialstrukturanalyse
13. 6. 2000
Essay von Nadia Shehadeh
Thema: Bildungsexpansion in modernen Gesellschaften
Das vorliegende Essay bezieht sich auf den Artikel „Dauerhafte Ungleichheiten“ von HansPeter Blossfeld und Yossi Shavit, der 1993 in der „Zeitschrift für Pädagogik erschien“. Blossfeld und Shavit beschäftigen sich in ihrem Aufsatz mit den Ergebnissen eines Projekts, das die Veränderungen der Bildungsungleichheit in dreizehn industrialisierten Ländern untersuchte. Das Ergenis zeigte, dass in elf der dreizehn Länder trotz der zunehmenden Bildungsbeteiligung unterer sozialer Schichten die herkunftsbezogenen Bildungschancen weitgehend unverändert geblieben sind. Aufgrund dieses Forschungsergebnisses wird die These vertreten, dass die Bildungsexpansion eine wichtige Voraussetzung für die anhaltende Ungleichheit der herkunftsbezogenen Bildungschancen bildet.
Im Essay soll im ersten Teil der Bildungswandel im 20. Jahrhundert erklärt werden. Danach wird das Forschungsmodell von Robert Mares erläutert. Nach der Bechreibung der international durchgeführten Untersuchung und deren Ergebnissen sollen einige Kritikpunkte zu Blossfelds und Shavits Aufsatz genannt werden.
Zunächst erläutern Blossfeld und Shavit den wirtschaftlichen und sozialen Wandel der industrialisierten Länder im 20. Jahrhundert: Die Tendenz zur Bürokratisierung und Rationalisierung und die Expansion auch hatten demnach eine Wechselwirkung auf das Bildungssystem: Auf der einen Seite beeinflussten sie den Trend zur nachindustriellen Gesellschaft, auf der anderen Seite musste das Bildungssystem aber auch auf die wirtschaftlichen Veränderungen eingehen. Im 20. Jahrhundert verstärkte sich die Rolle der Bildung sehr; darüber hinaus steigt die Verbreitung der Bildung in der Bevölkerung. Der Erwerb einer Grundbildung ist in den meisten Industrieländern weitgehend selbstverständlich und höhere Ausbildungen sind prinzipiell jedem zugänglich. Verschiedene Studien aber zeigen, dass die Bildungsungleichheit zwischen den sozialen Schichten über lange Zeiträume hinweg weitgehend stabil geblieben sind.
Allerdings spiegeln die theoretischen Überlegungen verschiedener Forscher die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Bildungschance in der Diskussion wider, und natürlich stellt sich die Frage, wie denn der Wandel der Bildungschancen verschiedener sozialer Klassen überhaupt zu messen sei.
1980 beschrieb nun aber Robert Mare in einem Aufsatz die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen
1.) der Erhöhung der Ausbildungsplätze im Bildungssystem und
2.) der Verteilung der „Auszubildenden“ aus verschiedenen sozialen Klassen auf die vorhandenen Ausbildungsplätze.
Deswegen propagiert Mare folgendes Modell, dass beide Mechanismen der Bildungsexpansion trennt: Dieses Modell vergleicht Bildungskarrieren aufeinander folgender Geburtsjahrgänge als eine stufenweise Abfolge von zu meisternden Hürden. Ob man die verschiedenen Bildungshürden erfolgreich durchlaufen kann hängt dabei von der Anzahl der Ausbildungsplätze und von den sozialen Allokationsmechanismen ab. Dieses Modell sei vor allem deshalb effektiver und realitätsnäher als andere, da sich Expansionen nicht in allen Bereichen des Bildungssystem im selben Umfang vollziehen. Dasselbe gilt für den sozialen Status verschiedener Generationen.
Mares Meinung nach soll außerdem nicht das Absolvieren einer bestimmten Anzahl von Schuljahren Erfolgsindikator sein; vielmehr solle man die herkunftsbezogenen Chancen betrachten, erfolgreich verschiedene Stufen des Ausbildungsprozesses zu erreichen.
Kritik wird an den vielen unterschiedlichen Studien geübt, die in verschiedenen Ländern unter Berücksichtigung teilweise sehr differierender Gesichtspunkte durchgeführt wurden (zum Beispiel Studien, die sich nur auf Männer oder nur auf Frauen beziehen) und deshalb zu keinen Ergebnissen kommen, die untereinander vergleichbar wären. Von diesen Forschungen unterscheidet sich jenes Projekt, das Thema des Aufsatzes von Blossfeld und Shavit ist: In dreizehn verschiedenen Ländern wurde die Veränderung der Bildungsungleichheit von ähnlich angelegten Studien untersucht. Trotzdem wurden spezielle Gegebenheiten eines Landes hinsichtlich Kultur, politischem System etc. in der Studie beachtet. Zunächst aber bestehen viele Hypothesen bezüglich der Chancengleichheit bzw. Chancenungleichheit betreffend der Bildungsmöglichkeiten. Zu ihnen gehören beispielsweise die „These des kulturellen Kapitals“ und die „These der ökonomischen Ressourcen“. Kulturelle und ökonomische Kapazitäten beeinflussen laut der beiden Thesen die Bildungschancen der Kinder. Darüber hinaus bestehen noch andere Thesen wie zum Beispiel die „Modernisierungstheorie“, die „These der kulturellen Reproduktion“ und die brisante Theorie der beiden Soziologen Adria Raftery und Michael Hout von 1990: In dieser wird behauptet, dass in modernen Gesellschaften die Ungleichheit der Bildungschancen immer im maximalen Umfang aufrechterhalten werde. Auch die „Sozialistische
Transformationshypothese“, die „Lebensverlaufshypothese“ und die „Statistische Selektionshypothese“ versuchen das Phänomen der Bildungsungleichheit zu erklären.
In der internationalen Studie, über die in dem Aufsatz referiert wird, wurden die dreizehn Länder in drei Hauptgruppen eingeteilt, nämlich in:
- westlich kapitalistische Länder
- nicht-westlich kapitalistische Länder und
- westlich sozialistische Länder.
Die Auswertung der Studie zeigte, dass die Bildungsexpansion in allen untersuchten Ländern stattfand, dass das durchschnittliche Bildungsniveau sich in allen Ländern beträchtlich erhöht hat und eine gewisse Grundbildung in den meisten Ländern selbstverständlich geworden ist. Bei den höheren Bildungsebenen verzeichnet sich allerdings eine Abnahme („Flaschenhälse“) der „Bildungsteilnehmer“. Die Bildungsmöglichkeits-Entwicklungen scheinen in allen in der Untersuchung beachteten Länder ähnlich zu sein. Ebenso scheint die berufliche Lage des Vaters in allen Ländern eine gewichtige Bedeutung in Bezug auf die Ausbildungsmöglichkeiten der Kinder eine Rolle zu spielen. Nur in zwei Ländern haben die ökonomischen und kulturellen Herkunftseffekte an Bedeutung verloren.
Fraglich ist, welche Aussagekraft man einer derartigen Studie beimessen soll. Schließlich hat man es schließlich mit teilweise sehr unterschiedlichen Gesellschaften zu tun. Man nehme das Beispiel Israel: Wie kann man ein Land, das in eine sehr große politische Problematik verwickelt ist, in dieselbe Schiene pressen wie beispielsweise die ehemalige Bundesrepublik? Ist es möglich, die verschiedenen Länder, die teilweise sehr unterschiedliche Schul- und Ausbildungsformen (Beispiel USA - ehemalige Bundesrepublik) ihr eigen nennen, in einer Studie soweit „anzugleichen“, so dass sie eine allgemeine Aussagefähigkeit besitzen können? Zwar weisen die Autoren zwar auf diese Problematik hin und versuchen die Untersuchung durch die vielen Besonderheiten, die in der Studie beachtet wurden, zu rechtfertigen. Vom Forschungsergebnis scheinen sie allerdings sehr überzeugt zu sein. Allerdings darf man natürlich nicht vergessen, dass jede Studie - sei sie jetzt auf ein großes oder kleines Spektrum angelegt - ihre Vor- und Nachteile mit sich bringt. In diesem Fall aber bin ich davon überzeugt, dass bei dieser internationalen Studie der Grad der Verallgemeinerung so groß ist, dass infolgedessen wohl kaum konkrete Aussagen über den „Bildungswandel“ gemacht werden können.
Generell kann auch festgestellt werden, dass die Studie nur ein sehr oberflächliches Bild der Realität widerspiegelt: Es werden keine konkreten Ursachen und Erklärungen geliefert; allein die verschiedenen Theorien sollen die Analyse erläutern. Darüber hinaus könnte man sich die Frage stellen, ob die Hypothesen unabhängig voneinander bestehen oder ob nicht eher eine Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Thesen besteht. So ist beispielsweise doch ein sehr starker Zusammenhang zwischen kulturellen und ökonomischen Ressourcen vorhanden: Schließlich bestimmen die finanziellen Mittel doch auch im gewissen Maße die Höhe des kulturellen Kapitals.
Häufig gestellte Fragen
Was ist das Thema des Essays "Bildungsexpansion in modernen Gesellschaften"?
Der Essay behandelt die Bildungsexpansion in modernen Gesellschaften und untersucht, ob die zunehmende Bildungsbeteiligung unterer sozialer Schichten tatsächlich zu mehr Chancengleichheit geführt hat. Er bezieht sich dabei hauptsächlich auf den Artikel "Dauerhafte Ungleichheiten" von Hans-Peter Blossfeld und Yossi Shavit.
Welche zentrale These wird im Essay diskutiert?
Die zentrale These ist, dass die Bildungsexpansion eine wichtige Voraussetzung für die anhaltende Ungleichheit der herkunftsbezogenen Bildungschancen bildet.
Wie wird der Bildungswandel im 20. Jahrhundert im Essay erklärt?
Der Essay beschreibt, dass die Bürokratisierung, Rationalisierung und Expansion im 20. Jahrhundert das Bildungssystem beeinflusst haben. Die Rolle der Bildung hat sich verstärkt, und die Verbreitung von Bildung in der Bevölkerung ist gestiegen. Trotzdem bleiben Bildungsungleichheiten zwischen sozialen Schichten bestehen.
Was ist das Forschungsmodell von Robert Mare und warum ist es wichtig?
Robert Mare unterscheidet zwischen der Erhöhung der Ausbildungsplätze und der Verteilung der Auszubildenden aus verschiedenen sozialen Klassen. Sein Modell vergleicht Bildungskarrieren verschiedener Geburtsjahrgänge als eine Abfolge von Hürden und berücksichtigt, dass Expansionen nicht in allen Bereichen des Bildungssystems gleich verlaufen.
Welche Kritikpunkte werden am Forschungsansatz von Blossfeld und Shavit geäußert?
Kritisiert wird die Vergleichbarkeit der Studien in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen sozialen und politischen Systemen. Außerdem wird bemängelt, dass die Studie nur ein oberflächliches Bild der Realität widerspiegelt und keine konkreten Ursachen oder Erklärungen liefert. Die Wechselwirkung zwischen kulturellen und ökonomischen Ressourcen wird ebenfalls angesprochen.
Welche Hypothesen werden bezüglich der Chancengleichheit bzw. Chancenungleichheit in der Bildung erwähnt?
Es werden verschiedene Hypothesen erwähnt, darunter die These des kulturellen Kapitals, die These der ökonomischen Ressourcen, die Modernisierungstheorie, die These der kulturellen Reproduktion, die These von Raftery und Hout (maximale Aufrechterhaltung der Ungleichheit), die Sozialistische Transformationshypothese, die Lebensverlaufshypothese und die Statistische Selektionshypothese.
Wie wurden die dreizehn untersuchten Länder in der internationalen Studie eingeteilt?
Die dreizehn Länder wurden in drei Hauptgruppen eingeteilt: westlich kapitalistische Länder, nicht-westlich kapitalistische Länder und westlich sozialistische Länder.
Welche Ergebnisse lieferte die internationale Studie zur Bildungsexpansion?
Die Studie zeigte, dass die Bildungsexpansion in allen untersuchten Ländern stattfand und das durchschnittliche Bildungsniveau gestiegen ist. Allerdings gibt es bei höheren Bildungsebenen eine Abnahme der Bildungsteilnehmer. Die berufliche Lage des Vaters spielt weiterhin eine wichtige Rolle bei den Bildungsmöglichkeiten der Kinder.
Welche abschließende Bewertung wird der Studie im Essay gegeben?
Der Essay äußert Zweifel an der Aussagekraft der Studie aufgrund der Verallgemeinerung unterschiedlicher Gesellschaften. Es wird argumentiert, dass die Studie zwar viele Besonderheiten berücksichtigt, aber der Grad der Verallgemeinerung so hoch ist, dass kaum konkrete Aussagen über den Bildungswandel gemacht werden können.
- Arbeit zitieren
- Nadia Shehadeh (Autor:in), 2000, Bildungsexpansion in modernen Gesellschaften, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/96682