Was, wenn die Wahrheit nur ein flüchtiger Moment ist, vergänglich wie ein Holzscheit im flackernden Feuer? In Günter Kunerts tiefgründiger Parabel wird ein reisender Rabbi zum Sinnbild einer uralten Frage, als er in einer bescheidenen Hütte um Unterkunft bittet. Statt barer Münze erbitten die Hüttenbewohner von ihm die Antwort auf eine der Menschheit ältesten Fragen: "Was ist Wahrheit?". Der Rabbi antwortet mit dem Bild eines Holzscheits und entfaltet vor den Augen seiner Zuhörer ein faszinierendes Gedankenspiel über Vergänglichkeit, Erinnerung und die Möglichkeit der Wiederentdeckung. Kunert verwebt geschickt die Geschichte des Baal Schem Tov, des Begründers des Chassidismus, mit einer zeitlosen Reflexion über den Wert von Tradition und die Herausforderungen des Wandels. Ist die Wahrheit von heute die Asche von morgen? Kann aus der vermeintlichen Nutzlosigkeit vergangener Überzeugungen neues Leben entstehen? Diese Parabel, eingebettet in den Kontext der DDR der 1970er Jahre, regt dazu an, über das Judentum, über verlorene Werte und die stetige Suche nach Sinn zu reflektieren. Sie ist eine Einladung, hinter die vordergründige Einfachheit des Bildes zu blicken und die verborgenen Schichten der Bedeutung zu entdecken. Eine Geschichte, die den Leser nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern ihn auch mit der Frage konfrontiert, welchen Wert er der Wahrheit in seinem eigenen Leben beimisst. Eine kurze aber intensive Lektüre über Glaube, Identität und die beständige Suche nach dem Funken Hoffnung in einer Welt des ständigen Wandels. Ein literarisches Kleinod, das die Leser noch lange nach dem Zuklappen des Buches gedanklich beschäftigen wird und zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und dem eigenen Weltbild anregt. Ein Muss für jeden, der sich für jüdische Geschichte, deutsche Literatur und philosophische Fragestellungen interessiert. Lassen Sie sich von dieser allegorischen Erzählung verzaubern und tauchen Sie ein in eine Welt voller Weisheit und tiefgründiger Erkenntnisse.
07.04.2000
Günter Kunert: Das Holzscheit
1. Interpretation
In der Parabel „Das Holzscheit“ aus dem Jahre 1972 erzählt Günter Kunert, wie ein jüd. Rabbi versucht, den Begriff Wahrheit zu erklären. Dabei verfährt er wie folgt: Einleitend schildert Kunert eine Rahmenhandlung. Ein reisender Rabbi bittet an einer Hütte um Unterkunft und wird aufgenommen. Die Bewohner der Hütte erkennen in ihm einen Gelehrten. Anstatt einer Bezahlung bitten sie um die Beantwortung der Frage, was Wahrheit sei (Z. 1-14). Der Rabbi vergleicht die Wahrheit mit einem Holzscheit, antwortet also mit einem Bildteil.
Da der Text eine in sich geschlossene Handlung bietet, in welcher ein Sachbestand mit Hilfe der Übertragung auf einen Bildteil dargestellt wird, handelt es sich hierbei um eine Parabel.
Zu Beginn der Erklärung geht der Rabbi auf die Vergänglichkeit des Holzscheits ein. So sei es zuvor noch ein Baum gewesen und werde in Zukunft, also nachdem es genutzt wurde, nur noch Asche sein (Z. 17-19). Um die Nutzlosigkeit und Abwendung von dieser Asche zu verdeutlichen kratzt er welche zusammen und bezeichnet sie als „die Wahrheit von gestern“ (Z. 20-25). Somit ist auch die Wahrheit nicht ewig, sondern nur von begrenzter Dauer von Nutzen. Dies bedeutet, dass der Mensch sich irgendwann von der heutigen Wahrheit, also den vorherrschenden Zuständen, abwenden könnte. Der Rabbi verdeutlicht die Nutzlosigkeit überholten Wissens. Denn er bemerkt, dass auch die Asche ohne Nutzen für den Menschen ist und daher abstoßend auf diesen wirkt (Z.26-30). Als einer der Zuhörer hinzufügt, diese Asche könne nie wieder brennen, behauptet der Rabbi, dies sei nicht ganz richtig, da nur kein Mensch dazu in der Lage sei, sie wieder zum Brennen zu bringen. Dies bedeutet, dass es theoretisch jedoch möglich sei(Z.31-38). Übertragen auf die Wahrheit drückt der Rabbi aus, dass die Wahrheiten, also Begebenheiten, von denen sich die Menschen abgewandt haben, zwar heute nicht mehr genutzt werden, theoretisch aber neu entdeckt werden könnten. Diesen Zustand, wieder als Wert anerkannt zu werden, bezeichnet der Rabbi als „die Wahrheit von morgen“ (Z. 39-42).
Eine wichtige Rolle spielt auch der Rabbi selbst in der Parabel. Er stellt sich als Baal Schem vor. Dieser ist eine reale Person. Baal Schem, eigentlich Israel Ben Elisier war der Begründer des Chassidismus, einer Richtung des jüdischen Glaubens. Als jüdischer Gelehrter und Begründer einer konkreten Richtung des Glaubens kann er in der Parabel als Vertreter anderer Juden oder sogar als Personifikation des gesamten Judentums angesehen werden. Dies bedeute, das nicht nur der Rabbi sich auf einer Reise befindet und um Hilfe bittet, sondern das gesamte Judentum.
Da Günter Kunert 1972 in der DDR, also einem sozialistischen Staat, lebte, und die Zahl der Juden in der DDR auf ca. 400 gesunken war, besteht mit großer Wahrscheinlichkeit die Absicht Kunerts, auf das schwächer werdende Judentum aufmerksam zu machen und dabei gleichzeitig ein noch mögliches Wiederaufleben des Judentums in Aussicht zu stellen. Denn da es sich in der Geschichte nicht um irgendeinen Juden handelt, sondern um einen angesehenen, als weise geltenden Gelehrten, können mit den Wahrheiten die Lehren des Judentums gemeint sein. So wie die Gefahr besteht, dass das Holzscheit in Zukunft als nutzlos und überholt in Form von Asche vergessen wird, könnte auch das Judentum, wenn immer weniger Menschen an ihm festhalten, bald als eine „Wahrheit von gestern“ angesehen werden und untergehen.
Kunert stellt dem Judentum aber Aufwind in Aussicht, da es wie die Asche eventuell doch noch wieder entzündet werden kann, momentan aber das Problem besteht, dass keiner weiß, wie dies zu bewerkstelligen ist.
Häufig gestellte Fragen zu Günter Kunert: Das Holzscheit
Worum geht es in der Parabel „Das Holzscheit“ von Günter Kunert?
Die Parabel erzählt von einem jüdischen Rabbi, der auf Reisen an einer Hütte um Unterkunft bittet. Die Bewohner, die ihn als Gelehrten erkennen, bitten ihn, die Wahrheit zu erklären. Der Rabbi vergleicht die Wahrheit mit einem Holzscheit, das vergänglich ist und zu Asche wird.
Was bedeutet der Vergleich mit dem Holzscheit und der Asche?
Der Rabbi erklärt, dass das Holzscheit einst ein Baum war und später zu Asche wird. Die Asche bezeichnet er als „die Wahrheit von gestern“, um zu verdeutlichen, dass auch die Wahrheit nicht ewig ist, sondern nur von begrenzter Dauer. Die Asche ist nutzlos und wirkt abstoßend, ähnlich wie überholtes Wissen.
Was bedeutet die Aussage, dass die Asche nie wieder brennen könne?
Einer der Zuhörer sagt, dass die Asche nie wieder brennen könne. Der Rabbi entgegnet, dass dies nicht ganz richtig sei, da nur kein Mensch dazu in der Lage sei. Dies impliziert, dass es theoretisch möglich wäre, die Asche wieder zum Brennen zu bringen. Übertragen bedeutet dies, dass alte Wahrheiten, von denen man sich abgewandt hat, theoretisch wiederentdeckt und als wertvoll erkannt werden könnten.
Wer ist der Rabbi und welche Bedeutung hat er in der Parabel?
Der Rabbi stellt sich als Baal Schem vor, eine reale Person und Begründer des Chassidismus, einer Richtung des jüdischen Glaubens. Er kann als Vertreter des Judentums oder sogar als Personifikation des gesamten Judentums gesehen werden, was bedeutet, dass nicht nur der Rabbi sich auf einer Reise befindet, sondern das gesamte Judentum.
Welche Bedeutung hat der Text im Kontext der DDR und des Judentums?
Günter Kunert lebte 1972 in der DDR, wo die Zahl der Juden stark gesunken war. Es wird angenommen, dass Kunert mit der Parabel auf das schwächer werdende Judentum aufmerksam machen und gleichzeitig ein mögliches Wiederaufleben in Aussicht stellen wollte. Die Wahrheiten, von denen der Rabbi spricht, könnten die Lehren des Judentums repräsentieren.
Wie könnte das Judentum wieder "entzündet" werden?
Kunert deutet an, dass das Judentum, wie die Asche, eventuell doch wieder entzündet werden kann, obwohl momentan unklar ist, wie dies geschehen soll. Er stellt somit einen Aufwind in Aussicht, auch wenn die momentane Situation schwierig erscheint.
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- Johannes Rehm (Author), 2000, Kunert, G. - Das Holzscheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/96571