Im Zentrum der Arbeit steht die Fragestellung: Wie hat die sowjetische Autokultur den Alltag der Menschen in der Sowjetunion beeinflusst? Welche illegalen Geschäfte sind entstanden? Mein Forschungsinteresse ist anhand der sowjetischen Autoindustrie den sowjetischen Alltag und die Faktoren, welche das Alltagsleben beeinflusst haben sollen, darzustellen. Die Arbeit behandelt insbesondere, welche illegalen Geschäfte verbunden mit der Autokultur entstanden sind. Das Thema ist in der Sozial- und Kulturgeschichte gut und umfassend erforscht. Es gibt viele Publikationen, welche die Autokultur anhand der damaligen politischen Lage erläutern bzw. Schlussfolgerungen ziehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Weg in die Massenmobilisierung
3. Die Konsumenten und ihre alltäglichen Erfahrungen
4. Die Vorteile vom Besitz eines Autos und die damit verbundenen Nachteile
5. Togliatti, Die Stadt von Lada
6. Schluss
7. Quellenverzeichnis
8. Literatur und Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
In Russland heisst es, dass das Auto den Menschen zweimal Freude bereitet. Erstens, wenn Sie es kaufen, und zweitens, wenn Sie es verkaufen. Was dazwischen liegt, ist die Folter selbst.1 So dachten zumindest zwei britische Autoren, die in den 1980er Jahren die Widersprüche - oder vielmehr die Absurditäten - ihres privaten Autolebens in einer staatssozialistischen Gesellschaft sarkastisierten. Schliesslich behauptete der Staatssozialismus, eine viel rationalere soziale Organisation als der Kapitalismus zu schaffen, da er die individuellen Wünsche, Ziele, einschliesslich der Verlagerung, den Bedürfnissen der Gemeinschaft unterordne. Tatsächlich hat sich die Sowjetunion in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens nur in Ausnahmefällen mit dem Problem der Privatwagen befasst. Der Zweck dieser Seminararbeit ist es aufzuzeigen, wie sowjetische Autofahrer mit der Last des Eigentums umgegangen sind. Die täglichen Praktiken (zB. die Fahrzeuge reparieren), die am Rande der Legalität standen, waren fast so verbreitet und leicht zu erkennen wie die von der UdSSR hergestellten Autos (Moskwitsch, Wolga, etc.) selbst.
Trabant, Dacia, Lada, Schiguli, Cajka oder Volga hiessen die Traummodelle eines automobilisierten Lebens im Staatssozialismus. So sehr viele Konsumenten ein eigenes Auto begehrt haben mögen, so sehr stand dieser Wunsch in einem vielfältigen Spannungsfeld: Die Propaganda zeichnete das Bild einer egalitären sozialistischen Gesellschaft, während die Gesellschaftspolitik Konsumprivilegien als Leistungsanreize setzte und unverhohlen soziale Hierarchien steuerte, in denen das Auto als besonderes Statussymbol hervorstach. Daneben erschwerten kommandowirtschaftliche Engpässe und mangelnde Infrastrukturen für Verkehr und technische Wartung einen massenhaften individuellen Autobesitz. Im Zentrum der Arbeit steht folgende Fragestellung: Wie hat die sowjetische Autokultur den Alltag der Menschen in der Sowjetunion beeinflusst? Welche illegalen Geschäfte sind entstanden? Mein Forschung Interesse ist, anhand der sowjetischen Autoindustrie den sowjetischen Alltag und die Faktoren, welche das Alltagsleben beeinflusst haben sollen, darzustellen. Es fragt sich vor allem, welche illegalen Geschäfte verbunden mit der Autokultur entstanden sind. Das Thema ist in der Sozial- und Kulturgeschichte gut und umfassend erforscht. Es gibt viele Publikationen, welche die Autokultur anhand der damaligen politischen Lage erläutern bzw.
Schlussfolgerungen ziehen. Der Forschungsstand bietet viele Anregungen, Ansätze zur Weiterentwicklung. Die Seminararbeit bezieht sich hauptsächlich auf den Zeitraum zwischen I960 und 1985. Die sowjetische Autokultur wurde in der weltweiten Presse und im Zuge des Kalten Krieges der Agenda breit behandelt, wobei eine Zeitschrift besonderes Aufsehen erregte. Als Hauptquelle meiner Seminararbeit verwende ich daher sechs Ausgaben der Monatszeitung Za Rulem. Die seit Ende der 1920er Jahre unregelmässig erschienene Monatszeitung war von parteikontrollierten Organisationen und galt praktisch als die einzige Zeitschrift, die sich mit der Thematik Autokultur in der Sowjetunion auseinandersetzte. Zu der Hauptquelle der Arbeit zählen noch Artikel aus dem Jahre 1971, von der bekanntesten russischen Tageszeitung, Pravda. Die Seminararbeit ist in vier Kapitel unterteilt. In der ersten Einheit stelle ich den Weg der sowjetischen Autokultur in die Massenmobilisierung, in dem darauffolgenden Abschnitt die Konsumenten und ihre alltäglichen Erfahrungen vor. Des Weiteren werden die Vorteile, die sich aus einem Autobesitz erschlossen und die damit verbundenen Nachteile dargestellt. Aufgrund moralischer oder ideologischer Überlegungen oder struktureller Ungleichgewichte in der sowjetischen Wirtschaft, gab es im ganzen Land einen Mangel an Komponenten, Treibstoff und Serviceangeboten. Schliesslich wende ich mich in der vierten Struktureinheit der Arbeit der damals grössten Autofabrik der UdSSR, dem Lada, welche die Autokultur und ihre Dynamik der Sowjetunion geprägt hat, zu.
2. Der Weg in die Massenmobilisierung
Die Blütezeit der sowjetischen Autokultur fand in den letzten zwei Jahrzehnten der Sowjetunion statt und fiel mit einer relativ kurzen Zeit der Massenproduktion und des Massenkonsums von Autos zusammen. Der Präsenz der Autokultur war in verschiedenen Teilen des Landes unterschiedlich und hing von der Anzahl der in Privatbesitz befindlichen Autos ab. Das Auto war schon zu Stalins Lebzeiten Teil der offiziellen Inszenierungen des ,guten‘ sozialistischen Lebens, stand aber nie im Mittelpunkt.2 Nur langsam löste sich das Auto aus der stalinistischen Verteilungslogik, die nur wenige soziale Gruppen privilegierte.3 Bis zu Beginn der Breznev-Ära lautete eine populäre Redewendung, dass es nicht wichtig sei, ein Auto fahren zu können, sondern eines zu besitzen.4 Die Propaganda zeichnete das Bild einer egalitären sozialistischen Gesellschaft, während die Gesellschaftspolitik Konsumprivilegien als Leistungsanreize einsetzte und unverhohlen soziale Hierarchien steuerte, in denen das Auto als besonderes Statussymbol hervorstach. Daneben erschwerten kommandowirtschaftliche Engpässe und mangelnde Infrastrukturen für Verkehr und technische Wartung einen massenhaften individuellen Autobesitz.5 6
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1.: Beste Erholung am Feiertag.
Die sowjetische Autokultur rührt von einem öffentlichen krankheitsähnlichen, dauerhaften Mangel her.7 Bis zur Produktion der gigantischen Wolga-Automobilfabrik (VAZ) in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren baute die Sowjetregierung hauptsächlich Autofabriken, in denen Lastwagen hergestellt wurden, die zum Bewegen und Transportieren von Gütern und nicht von Menschen benötigt wurden. Infolgedessen rollten in den 1930er Jahren fast neunmal so viele Lastwagen wie Personenkraftwagen von den sowjetischen Autolinien. In den 1940er Jahren betrug das Verhältnis 8:1 (LKW zu PKW), und als Stalin 1953 starb, betrug das Verhältnis immer noch 4:1.8 Neben der wirtschaftlichen Rationalität rechtfertigte die Ideologie auch die niedrige Priorität, die Autos eingeräumt wurde.9 Die auf den Strassen gesehenen Autos gehörten grösstenteils Ministerien und anderen Behörden. Am Steuer befand sich - normalerweise - ein Berufsfahrer.10
Gatejel zeigt auf, wie die staatssozialistischen Regime die Produktion der PKWs förderten, weil sie sich besonders als Symbol des Wohlstandes und der materiellen Zufriedenheit eigneten.11 Damit sollten sie zur politischen Legitimation nach innen beitragen und zugleich im Systemwettbewerb die westlich-kapitalistische Anerkennung für die technologische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit staatssozialistischer Betriebe gewinnen.12
Bis Ende der 1950er Jahre wurden viele Autos an Beamte zum „privaten Gebrauch“ übergeben oder durften gekauft werden. Dieser Trend ist so weit gegangen, dass die Regierung das Bedürfnis verspürte, zu diesem Thema Stellung zu beziehen. Dies geschah im Jahr 1956 auf dem zwanzigsten Parteitag, als Nikita Chruschtschow vorschlug, ein System „offizieller Taxiflotten“ zu organisieren.13 Es ist wichtig zu erwähnen, dass viele Leute anders dachten, auch wenn einige das Auto nicht brauchten. Obwohl sich die Qualität des öffentlichen Verkehrs im ganzen Land erheblich verbesserte, war es immer noch schwierig, zur Datscha zu gelangen oder Dorfverwandte mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu besuchen. Laut einer Umfrage unter Moskauer Arbeitern und Studenten im fünften Studienjahr Ende der 1950er Jahre hofften viele, dass sie in Zukunft ein Auto besitzen würden. In beiden Kategorien wurden 85 Personen befragt, von denen 52 Studenten (62%) und 23 Arbeiter (27%) angaben, dass dies innerhalb von zwei bis drei Jahren geschehen könnte, während 28 (33%) Studenten und 31 (36%) Arbeiter glaubten, in mindestens vier bis sechs Jahren ein Auto kaufen zu können. Nur 5 Studenten - aber 31 Arbeiter - dachten, sie würden niemals ein Auto haben.14 Es gab ein Minenfeld von Hindernissen zwischen dem Wunsch, ein Auto zu kaufen, und dem tatsächlichen Kauf. Die meisten Hindernisse wurden vom Staat in einer eher groben Form der Rationalisierung geschaffen.15 Es reicht nicht aus, den Zugang zu der Liste derjenigen, die auf ein Auto warten, förmlich einzuschränken. Ausserdem musste für ein Auto eine riesige Endsumme gezahlt werden, die sich auf mehrere Jahre Lohn belief. 25% des gesamten Kaufpreises mussten zum Zeitpunkt der Bestellung im Voraus bezahlt werden und der verbleibende Betrag bei Lieferung musste in bar beglichen werden.16 Es dauerte durchschnittlich vier bis sechs Jahre. Manchmal gab es auch zehn Jahre Wartezeit, bis das Auto endlich in Besitz genommen wurde.17 Aber selbst als die Zahl der produzierten Autos in den frühen 1980er Jahren eine Million pro Jahr betrug, überstieg die Nachfrage das Angebot fast unermesslich bei weitem.18 Es ist kein Zufall, dass ein ausgedehnter Gebrauchtwagenmarkt entstanden ist, bei dem die vom Staat diktierten Preise zusätzlich zu den tatsächlichen Preisen in den Schatten gestellt wurden.19 Nachdem um I960 die Weichen auf eine Massenmotorisierung gestellt worden waren, nutzten die Regime das Auto, um bestimmte Gruppen - Parteikader, Fachkräfte oder auch Veteranen - zu privilegieren. Dabei blieben Verteilung und Zugang zum Auto höchst ungerecht, Autobesitzer liefen stets Gefahr, in Beschwerden der unberechtigten Vorteilsnahme bezichtigt zu werden.20 Das Auto zu einem Mangel zu machen, war eine Frage der politischen Entscheidung, die sich aus marxistischen wirtschaftlichen und ideologischen Motiven ergab. Aber was war der Grund für die Mängel bei Service und Teileversorgung? 1963 hatten rund 70.000 Moskauer Autobesitzer acht technische Tankstellen. Bis 1978 war die Zahl auf dreizehn gestiegen, während die Zahl der Autos bereits 250.000 überschritten hatte.21 1982 konnte die Kapazität von Autoservice-Stellen im ganzen Land nur „knapp 30%“ der Nachfrage decken. Aufgrund des Mangels an Teilen warteten die Eigentümer monatelang auf Reparaturen. Während dieser Zeit entfernten die Servicemitarbeiter wahrscheinlich verbrauchbare Batterien aus ihren Autos, um sie in die Fahrzeuge anderer einzubauen. Laut einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 1968 erwähnten drei Viertel der Autofahrer einen Mangel an Teilen, als sie die Probleme auflisteten, auf die sie gestossen waren.22
Es erschliessen sich keine Beweise dafür, dass der Staat absichtlich einen Mangel an Teilen und Dienstleistungen verursachte, der private Autofahrer in eine schwierige Lage brachte und das Fahren völlig unmöglich machte. Im Gegenteil, die für die Lösung des Problems zuständigen Ministerien - die Behörden, die die Automobilproduktion, den Autotransport, das Autodesign und den Bau der Produktionsbasis überwachten - haben wiederholt Pläne zur Erweiterung der Produktion und zur Verbesserung der Tankstellen ausgearbeitet.23
Die Hauptquelle der Seminararbeit, die bereits erwähnte Zeitung «Za Rulem» (die in den 1970er Jahren monatlich mehr als zwei Millionen Mal verkauft wurde) publizierte häufig Beschwerden und Vorschläge von Autofahrern.
Ein Schlüsselfaktor für das Verständnis des spezifischen Mangels an Autokultur ist, dass Autos grosse Mengen und verschiedene Arten von Teilen benötigen, dass ihre Verbraucherbedürfnisse unvorhersehbar waren und dass öffentliche Einrichtungen Vorrang vor den Bedürfnissen einzelner Benutzer hatten. Zugang zu Kraftstoff und anderen Ressourcen. Das unter Stalin entwickelte System der zentralen Planung, das den Bau gigantischer Stahlhütten, Dämme und Fabriken ermöglichte, zeigte seinen Vorteil während des Grossen Vaterländischen Krieges, warjedoch weniger geeignet, wenn ein spezielles Teil in der richtigen Menge zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort gelangen musste.24 Bei Autos hätte die Lieferung von Rohstoffen an das Werk, aus denen sie dann zu Batterien der richtigen Grösse verarbeitet und dann dorthin transportiert werden, wo sie benötigt werden, im Gegensatz zur Lagerung, ein hohes Mass an Zusammenarbeit zwischen den Ministerien oder ihren Abteilungen ermöglicht. Dies wäre notwendig gewesen, aber eine solche Zusammenarbeit gab es in der Realität nie.25
So wie die Oberseiten der Öfen selten passten oder der Kühlschrank nicht in den Raum passen konnte, passten die Bremsbeläge nicht unbedingt zu den Bremsscheiben. Somit waren die Reifen schneller abgenutzt als geplant, damit beispielsweise neue an der Tankstelle eintrafen.26 Die Scheibenwischer und Seitenspiegel waren in so geringen Mengen erhältlich, dass Autofahrer sie beim Parken automatisch zerlegten, damit andere sie nicht stehlen konnten. Eine westliche Studie aus dem Jahr 1987 schätzt, dass etwa drei Viertel des Kraftstoffverbrauchs von Privatwagen im Jahr 1982 - 7,5 Milliarden Liter - illegal von Autofahrern bezogen wurden.27
[...]
1 Vgl. Turner, Automania, S. 167.
2 Vgl. Parker, Industry, S. 503.
3 Ebd., S. 507.
4 Vgl. Turner, Automania, S. 163.
5 Vgl. Turner, Automania, S. 164.
6 Krokodil' von 1962, S.15.
7 Vgl. Siegelbaum, Socialist, S. 90.
8 Vgl. Parker, Industry, S. 520.
9 Ebd„ S. 521.
10 Vgl. Parker, Industry, S. 521.
11 Vgl, Gatejel, Sozialismus, S. 121.
12 Ebd., S. 156.
13 Vgl. ZaRulem,vol. 12, 1959, S. 8-9.
14 Ebd., S. 19.
15 Vgl. Kramer, Policy, S. 20.
16 Vgl. Kramer, Policy, S. 21.
17 Vgl. Pyle, Ownership, S. 42.
18 Ebd„ S. 43.
19 Ebd., S. 44.
20 Vgl. Gatejel, Sozialismus, S. 9.
21 Vgl. ZaRulem,vol. 9, 1978, S. 17.
22 Vgl. Za Rulem, vol. 9, 1968, S. 19.
23 Pravdavon 24. Juli 1971,S.3.
24 Vgl. Portes, Disequilibrium, S. 563.
25 Ebd., S. 570.
26 Vgl. Reid, Kitchen, S. 314.
27 Vgl. Alexeev, Underground, S. 17.