Beginnend mit einem Einblick in den theoretischen Hintergrund der Märchen, werde ich zunächst das Märchen aus literaturwissenschaftlicher und literaturpädagogischer Sicht beleuchten, um einen groben Überblick über das Volks- und Kunstmärchen zu schaffen. Darauf folgt eine Einführung in die Entwicklung und Rezeption der Grimm’schen Märchen. Hauptsächlich soll sich diese Seminararbeit mit den grausamen Elementen in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm beschäftigen. Dabei soll vor allem auf folgende Fragen eingegangen werden: Wie veränderte sich das Motiv der Grausamkeit im Laufe der Jahre? Haben die Gebrüder Grimm besonders grausame Stellen gestrichen oder verändert? Wo genau findet sich das Motiv der Grausamkeit in den Grimm’schen Märchen wieder? Sind es die Kinder, die besonders grausam sind/handeln? Und weshalb wird diese dunkle Seite der Märchen oft übersehen, manchmal gar nicht wahrgenommen?
Grimms Märchen – bewundert und vielfach kritisiert! Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm gelten, mit ihrer 180 Jahre währenden Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, als die Klassiker der deutschsprachigen Kinderliteratur. Nach der Erstveröffentlichung ihrer Bände in den Jahren 1812 bzw. 1815 erhielten sie neben begeisterter Zustimmung auch deutliche Kritik. Allein die Sammlung Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bietet eine Vielzahl grausamer Handlungen. Zwar haben die Gebrüder Grimm einige der grausamen Elemente später rausgestrichen, um die Sammlung kindgerechter zu gestalten, doch das meiste ist stehen geblieben. Die Frage nach der Grausamkeit im Märchen führt heute noch zu einer kontroversen Diskussion. Einerseits tragen die grausamen Elemente zu einer Anti-Märchen-Stimmung bei ("Böses kommt aus Kinderbüchern"), andererseits führen sie auch zu neuen Rechtfertigungen des Märchens ("Kinder brauchen Märchen").
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Definition von Märchen aus literaturwissenschaftlicher und literaturpädagogischer Sicht
2.1.1 Volksmärchen
2.1.2 Kunstmärchen
2.2 Bedeutung und Funktion des Märchens
2.3 Märchen in der Erziehung
3 Entwicklung und Rezeption der Grimm'schen Märchen
4 Grausamkeiten in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm
4.1 Das böse Kind im Märchen
4.2 Konkrete Beispiele physischer und psychischer Grausamkeiten im Volksmärchen
4.3 Zwecke der Grausamkeit
5 Die Volksmärchen in der literaturpädagogischen und literaturdidaktischen Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts
6 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Grimms Märchen - bewundert und vielfach kritisiert! Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm gelten, mit ihrer 180 Jahre währenden Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, als die Klassiker der deutschsprachigen Kinderliteratur.1 Nach der Erstveröffentlichung ihrer Bände in den Jahren 1812 bzw. 1815 erhielten sie neben begeisterter Zustimmung auch deutliche Kritik, denn ihre Märchen galten „neben de[n] zunächst für unkünstlerisch gehaltenen Stil- und Präsentationsform[en] vor allem pädagogisch und moralisch bedenklich“.2
In keiner anderen Erzählgattung „wird so viel geköpft, zerhackt, gehängt, verbrannt oder ertränkt wie im Märchen“.3 Allein die Sammlung Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bietet eine Vielzahl grausamer Handlungen: Kinder, insbesondere Waisenkinder, werden von „ihren Stief- oder Pflegeeltern gepeinigt, ausgesetzt, verstoßen oder sogar ermordet“.4 Zwar haben die Gebrüder Grimm einige der grausamen Elemente später rausgestrichen, um die Sammlung kindgerechter zu gestalten, doch das meiste ist stehen geblieben.5
Die Frage nach der Grausamkeit im Märchen führt heute noch zu einer kontroversen Diskussion. Einerseits tragen die grausamen Elemente zu einer Anti-MärchenStimmung bei (,Böses kommt aus Kinderbüchern'6 ), andererseits führen sie auch zu neuen Rechtfertigungen des Märchens (,Kinder brauchen Märchen'7 ).8
Beginnend mit einem Einblick in den theoretischen Hintergrund der Märchen, werde ich zunächst das Märchen aus literaturwissenschaftlicher und literaturpädagogischer Sicht beleuchten, um einen groben Überblick über das Volks- und Kunstmärchen zu schaffen. Darauf folgt eine Einführung in die Entwicklung und Rezeption der Grimm'schen Märchen. Hauptsächlich soll sich diese Seminararbeit mit den grausamen Elementen in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm beschäftigen. Dabei soll vor allem auf folgende Fragen eingegangen werden: Wie veränderte sich das Motiv der Grausamkeit im Laufe der Jahre? Haben die Gebrüder Grimm besonders grausame Stellen gestrichen oder verändert? Wo genau findet sich das Motiv der Grausamkeit in den Grimm'schen Märchen wieder? Sind es die Kinder, die besonders grausam sind/handeln? Und weshalb wird diese dunkle Seite der Märchen oft übersehen, manchmal gar nicht wahrgenommen?
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Definition von Märchen aus literaturwissenschaftlicher und literaturpädagogischer Sicht
Das Wort ,Märchen' leitet sich aus dem mittelhochdeutschen Wort maere und vom Althochdeutschen mâri ab, deren Bedeutung Kunde, Bericht, Erzählung oder Nachricht sind. Daran lässt sich erkennen, dass das Märchen ursprünglich nicht eine Erzählung von etwas Unglaubhaftem oder Unwirklichem war, sondern diesen Sinngehalt erst später angenommen hat.9 Seit Johann Gottfried Herder und den Brüdern Grimm nahm das Märchen folgende Bedeutung an:
Eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung, besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die hoch und niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie diese unglaublich finden.10
Der Begriff „Märchen“ wurde als literarische Form erst mit den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm bedeutend. Ihr Name entwickelte sich „zu einem allgemein gültigen Markenzeichen, in dem Personenname (Grimm) und die literarische Gattung (Märchen) zu einer unlösbaren Einheit verschmolzen sind“.11
Auch wenn man unter dem Begriff „Märchen“ weitestgehend eine Art Erzählung meint, lässt sich der Begriff vieldeutig anwenden. Zum einen tritt er umgangssprachlich oftmals auf, wenn man eine Lüge voraussetzt („Erzähl mir doch keine Märchen“) und zum anderen wird er mit etwas Prachtvollem oder Wunderbarem verbunden. Rein wissenschaftlich umfasst der Begriff „Märchen“ ein relativ weites Spektrum, daher hat die Märchenforschung die Verlegenheitsbegriffe „Märchen im eigentlichen Sinn“ und „eigentliche Zaubermärchen“ eingeführt.12
Die Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmärchen kam um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf, als von den Dichtern J. G. Herder und Gottfried August Bürger, den Brüdern Grimm und den Romantikern die Termini „Volk, Volksüberlieferung [...] und darunter auch Volksmärchen für die politische und ästhetische Debatte instrumentalisiert und ideologisch positiv besetzt wurden“.13 Die drastische Unterscheidung zwischen dem Volks- und Kunstmärchen geht auf die Brüder Grimm zurück.14 Erst seitdem die „Kunstpoesie von der begrifflich neu geprägten Naturpoesie abgegrenzt wurde, mußten alle Märchen, die nicht anonym [...], nicht alt [...] und vor allem nicht ,naiv’ [...] waren, als [Kunstmärchen] gelten“.15 Jacob Grimm löst bereits im Jahr 1811 eine Debatte über die Verschiedenartigkeit zwischen dem Volks- und dem Kunstmärchen aus. Diese wird seither als Grundlage für eine Unterscheidung zwischen den beiden Gattungen verwendet. Etwa 150 Jahre später findet sich bei dem Schweizer Literaturwissenschaftler und Märcheninterpret Max Lüthi eine ähnliche, um den Aspekt der mündlichen Tradierung ergänzte, Trennung zwischen dem Volks- und dem Kunstmärchen:
Zum Begriff des Volksmärchens gehört, dass es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist, während man das Kunstmärchen zur Individualliteratur rechnet, geschaffen von einzelnen Dichtern und genau fixiert, heute meist schriftlich, in früheren Kulturen durch Auswendiglernen überliefert.16
Demgemäss dienen die Autorlosigkeit eines literarischen Textes und dessen Überlieferungsart als Kennzeichen für das Volks- und Kunstmärchen. Ein anschliessender Überblick soll darüber aufklären, welche weiteren Abgrenzungen sich zwischen den beiden Gattungen vornehmen lassen und wie die Volks- und Kunstmärchen jeweils definiert sind.
2.1.1 Volksmärchen
Dem europäischen Volksmärchen „wohnt eine eigenartige Wirkungskraft inne“17, denn es übt seine Macht nur an Kindern jeder Generation aus, sondern auch der Erwachsene „erfährt wieder und wieder seinen Zauber“.18 Seit Charles Perrault das Volksmärchen im Jahre 1696/1697 literaturfähig machte, hat der Reiz dieser neuen Erzählform die Dichter, Leser und Forscher nicht mehr losgelassen. Für die Epoche der Romantik wird das Märchen zum „Kanon der Poesie“. Der deutsche Schriftsteller Novalis (eig. G. P. Friedrich von Hardenberg) sagte einst: „Alles Poetische muß märchenhaft sein“.19 Zudem: „Im Märchen glaube ich am besten meine Gemütsstimmung ausdrücken zu können. Alles ist ein Märchen.“20 Mit der Märchensammlung der Gebrüder Grimm (1812/1815) gewinnt die Erzählform dann schliesslich an beachtlicher Bekanntheit und Beliebtheit.21
Als wesentliches Merkmal des Volksmärchens lässt sich zunächst festhalten, dass es keinen namentlich bekannten Verfasser hat. Daher hat sich im Vergleich zum Kunstmärchen, „das einen Verfasser besitzt und durch dessen individuelle Handschrift geprägt ist, die Bezeichnung ,Volksmärchen' in der Forschung durchgesetzt“.22 Durch die jahrzehntelange mündliche Erzähltradition kam es natürlich zu etlichen Veränderungen bzw. verschiedenen Variationen. Das Volksmärchen ist stilistisch geprägt durch folgende Merkmale: [E]inen parataktischen Satzbau, formelhafte Wendungen (z.B. Eingangs- und Schlussformeln), direkte Rede, Verse, durch Typisierung der Personen und Schwarzweißmalerei, durch Kontrastierung und Polarisierung (schön - hässlich, gut - böse), durch Symbolik (z.B. Zahlen- und Farbsymbolik) und schließlich durch das Happy End.23
Das Volksmärchen zeichnet sich grundsätzlich „durch die Neigung zu einem bestimmten Personal, Requisitenbestand und Handlungsablauf und durch die Neigung zu einer bestimmten Darstellungsart“.24 Des Weiteren „teilt [es] die Neigung, Übernatürliches, Wunderhaftes in seinen Rahmen aufzunehmen“.25 Wesentlicher Unterschied zu anderen Wundergeschichten ist, dass sich das Volksmärchen dadurch abgrenzt, dass es Wunderbares mit Natürlichem unmerklich vermischt.26
In den meisten Fällen ist die Hauptfigur ein Kind, ein Mädchen oder ein Junge. Es kann auch „ein Zicklein oder ein anderes vertrautes Tier sein, mit dem Kinder sich gern eins wissen“.27 Die Hauptgestalt muss nicht zwingend eine kindliche Gestalt sein, ebenso kann sie ein heranwachsendes Mädchen oder ein abenteuerlustiger Bursche sein. Gibt es Geschwister, so „setzt sich die Hauptgestalt entweder kräftig dagegen ab (sie werden zu Stiefgeschwistern erklärt), oder ein eng verbundenes Geschwisterpaar besteht das Abenteuer gemeinsam“.28 Wer auch immer in dem Abenteuer verwickelt ist, meistens gibt es nur zwei mögliche Ausgänge: Entweder die Hauptgestalt/en vernichten den Dämon und kehren mit hinzugewonnenem Selbstwert zurück oder aber die Hauptgestalt/en haben sich so sehr von der Faszination des Dämonischen ergreifen lassen, dass sie zerrissen und gefressen werden.29
In seinem Werk Das europäische Volksmärchen nennt der Schweizer Märchenforscher Max Lüthi fünf Wesensmerkmale des europäischen Volksmärchens: Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit, Sublimation und Welthaltigkeit.30
Unter der Eindimensionalität versteht man, dass man im Volksmärchen keine Unterscheidung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits macht, es gibt also nicht zwei unterschiedliche Dimensionen. Menschliche Figuren treffen auf übermenschliche Wesen (Feen, Zwerge etc.) als ob sie ihresgleichen wären.31 Mit der Flächenhaftigkeit meint Lüthi folgendes: „Seine Gestalten sind Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt; ihnen fehlt die Beziehung zur Vorwelt und zur Nachwelt, zur Zeit überhaupt“.32 Das Merkmal „Isolation und Allverbundenheit“ ist ein wesentliches; es meint, dass Märchenfiguren, sowohl im Jenseits als auch im Diesseits, isoliert nebeneinander stehen. Sie begegnen sich zwar, bauen jedoch keine dauerhafte Beziehung zueinander auf.33
Unter dem Aspekt „Welthaltigkeit“ versteht Lüthi Themen und Motive der Volksmärchen, die menschliche und zwischenmenschliche Beziehungen aufzeigen. Im Vordergrund stehen dabei „die Motive des Wunderbaren und die Darstellungen menschlicher Wünsche“.34 Dem „abstrakten Stil“ ordnet Lüthi das Wunder zu. Die Erzählkonstruktion ist „einfach aber konsequent“.35 Märchen gleichen sich in ihrem eingliedrigen Aufbau. Sie „führen die Hauptgestalt, den Träger der Identifikation des Zuhörers, zum Zusammenstoß mit einem Dämon. Sie stürzen ihn in mannigfache Vernichtungs- und Verschlingungsabenteuer“.36 Gewöhnlich wird die Hauptgestalt zum Ausgangspunkt des Dramas zurückgeführt: zum Elternhaus.37 Max Lüthi bezeichnet diese Situation auch als „Suchwanderung“: [Die meisten Märchen] beginnen mit einer Mangel- oder Konfliktsituation, die dazu führt, dass der Märchenheld von zu Hause ausziehen muss, um in der Fremde den Mangel zu beheben oder den Konflikt zu lösen. Er begibt sich also auf eine ausgedehnte Wanderschaft, die ihn in fremde Reiche und in dunkle Wälder führt und großen Gefahren aussetzt, die er aber alle glücklich überwindet.38
2.1.2 Kunstmärchen
Das Kunstmärchen wird als Gegenbegriff zum Volksmärchen gebraucht. Man versteht darunter „die literarisch fixierte Erzählung eines namentlich bekannten individuellen Schöpfers“. In erster Linie unterscheidet sich das Volksmärchen vom Kunstmärchen durch die mündliche Tradierung.39 Das Kunstmärchen spiegelt nicht die Lebenserfahrung eines Volkes wieder, sondern die Lebenserfahrung eines einzelnen Menschen, weshalb es zur Individualliteratur zu zählen ist.40
Volker Klotz definiert das Kunstmärchen, in Abgrenzung zum Volksmärchen, wie folgt:
Kunstmärchen dagegen [...] sind literarische, geschichtlich und individuell geprägte Abwandlungen der außerliterarischen, geschichtlich unbestimmten, anonymen Gattung Volksmärchen durch namhafte Autoren. Diese Autoren rufen also bei ihrer Leserschaft sowohl das vertraute Muster jener markanten erzählform ab wie auch die eher diffusen Vorstellungen, die man ihr, im Lauf der Zeit abgewonnen hat. Die Summe der Kunstmärchen ergibt ihre eigenartige, aber zunächst uneigenständige Gattung.41
Im Kunstmärchen bedient sich der Autor vor allem an Elementen wie „Verzauberung und Entzauberung, dreifache Variation der Handlung mit Achtergewicht, Erfolg des Schwachen etc., die der Leser bzw. Hörer mit traditionellen Märchen assoziiert“.42 Diese Merkmale haben das Kunst- und Volksmärchen grösstenteils gemeinsam, denn beide bedienen sich an übernatürlichen, wunderbaren Elementen. Ausserdem ist bei beiden Gattungen kein Bezug zum Ort oder der Zeit der Handlung vorzufinden. Des Weiterem lässt sich in beiden Formen eine Moral finden.
In den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm sind einige Märchen vorhanden, die, „obwohl teils vorgeblich ,aus dem Volksmund’ gesammelt“43, eindeutig zu den Kunstmärchen gehören, so beispielsweise Fürchten lernen, Hans im Glück oder Jorinde und Joringel.
2.2 Bedeutung und Funktion des Märchens
Alle Kinder sind begeistert, wenn man ihnen zu Hause, in der Schule oder im Kindergarten Märchen erzählt. Doch was geht eigentlich im Zuhörer vor, wenn er einem Märchen zuhört? Welche Bedeutung und Funktion hat das Märchen?
Die Funktion des Märchens ist von zwei Aspekten abhängig: Einerseits „von der Art seiner Schöpfer und Pfleger; zugleich aber, und dies ungleich wesentlicher, von den Bedürfnissen der Hörer“.44
Doch welche Bedürfnisse haben die Hörer? Lange Zeit war die Antwort auf diese Frage „ausschliesslich Unterhaltung“, doch schnell wird klar, dass es den Zuhörern und Lesern um viel mehr geht, und zwar um „die Erfassung von Wesen und Funktion“45 dieser Erzählform:
Das Märchen ist eine welthaltige Abenteuererzählung von raffender, sublimierender Stilgestalt. Mit irrealer Leichtigkeit isoliert und verbindet es seine Figuren. Schärfe der Linien, Klarheit der Formen und Farben vereinigt es mit entschiedenem Verzicht auf dogmatische Klärung der wirkenden Zusammenhänge. Klarheit und Geheimnis erfüllen es in einem.46
Es gibt im Bereich der Märchen keine Sicherheit und Eindeutigkeit darüber, wie die ursprünglichen Fassungen lauteten und wer sie erzählte. Was jedoch eindeutig zu erschliessen ist, dass das Märchen trotz jeglicher Veränderungen und Umfunktionierungen, seine Stellung behauptet hat. Es war und ist eine Möglichkeit für das Kind, „seine Ablösungs- und Selbstfindungskonflikte mitten in seinem eigenen gesellschaftlichen Konfliktfeld zu bewältigen“47. Das Durchspielen des Märchens soll dem Kind dabei helfen, ein Selbstvertrauen und eine Liebesfähigkeit zu schaffen. Dabei entwickelt das Durchspielen und Tagträumen die Kräfte der Imagination und „es ist [...] ein unersetzbarer Weg zu tiefgreifender menschlicher Erfahrung“48.49
Um zu verstehen, was für eine enorme Bedeutung das Märchen auf Kinder hat, muss man sich mit einigen wesentlichen Merkmalen des Märchens vertraut machen. Dazu gehört, dass man als Zuhörer das Märchen erleben muss, dass man „seinen Gedanken gestatten muß, die eigenen Konflikte auf die vom Erzähler berichteten Ausgangslagen zu übertragen'“.50 Sinn des Märchens ist es nämlich, dass man es „aus der eigenen seelischen Konfliktlage miterlebt, daß man es mit Hingabe durchspielt und in ausgiebigen Tagträumen durcharbeitet“.51
Märchen enttäuschen den Leser nicht, vielmehr erfüllen sie unsere Erwartungen. Sie stürzen uns nicht in Ängste, denn sie sind „so erzählt, daß sie in aller Regel unsere seelischen Bedürfnisse befriedigen“.52 Diese wohltuende Funktion haben Märchen im Laufe der Jahrhunderte angenommen. Folglich gibt es in den Märchen, „die von uns erwartete und erhoffte ,Gerechtigkeit’“53. Unvollkommene Lösungen kommen kaum vor und die Bösewichte werden stets bestraft.54 Die Welt wird im Märchen dichterisch bewältigt. Was in der Wirklichkeit „schwer ist und vielschichtig, unübersichtlich in seinen Bezügen, wird im Märchen leicht und durchsichtig und fügt sich wie in freiem Spiel in den Kreis der Dinge“.55
2.3 Märchen in der Erziehung
Häufig basieren die Märchen der Gebrüder Grimm auf literarischen Quellen, auf alten Volksbüchern oder Novellen, und sind nicht alle für Kinder geeignet. Daher empfiehlt es sich zunächst, wenn man ein Grimm'sches Märchen weitergeben möchte, sich darüber zu informieren, woher es stammt. Vor allem die kurzen Geschichten sind meistens nicht für Kinder geeignet, da sie oft einen „anekdotischen Charakter mit einer ausgeprägten Moral“.56 Das Märchen liebt die Extreme, sowohl im Guten als auch im Bösen, „deshalb sind außergewöhnliche Grenzfälle wie die Ermordung mit dem Deckel einer Truhe oder das unwissentliche Verzehren der eigenen Kinder in Volksdichtung und Literatur immer wieder aufgegriffen worden“.57
Nach einer intensiven Beschäftigung mit dem vielseitigen Bild des Märchens stellt sich aus pädagogischer Sicht nun die Frage, welche Bedeutung das Märchen für die Erziehung des Kindes spielt. Im Laufe der Erziehungsgeschichte, von der Romantik bis zur Gegenwart, spielt die erzieherische Bedeutung der Grimm'schen Märchen eine grosse Rolle.
Märchen zeigen das Kind in „völliger Abhängigkeit und Untertänigkeit, den Eltern und Vorgesetzten mit Leib und Leben ausgeliefert“.58 Allerdings sind sie keine moralischen Lehr- und Beispielgeschichten. Das erkennt man vor allem daran, dass sie „ursprünglich nicht ausgesprochene Kinderliteratur waren, so wie auch heute noch nicht alle unbedenklich in jedem Alter angeboten werden können“.59
[...]
1 Vgl. Rüdiger Steinlein: Märchen als poetische Erziehungsform. Zum kinderliterarischen Status der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin 1993 (Fachbereich Germanistik; Heft 29), S. 3.
2 Ebd. S. 3.
3 Lutz Röhrich: Grausamkeit. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hgg. von Rolf Wilhelm Brednich et. al. Berlin: Walter de Gruyter 1990 (Band 6), S. 98.
4 Ebd. S. 98.
5 Vgl. ebd. S.99.
6 Otto F. Gmelin: Böses kommt aus Kinderbüchern. Die verpaßten Möglichkeiten kindlicher Bewußtseinsbildung. München: Kindler 1972.
7 Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1977.
8 Vgl. Lutz Röhrich: Grausamkeit, S. 97.
9 Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg: Winter 1978, S. 14.
10 Quirin Gerstl: Der erzieherische Gehalt der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Inaugral- Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians- Universität zu München. München: UNI-Druck 1963, S. 3.
11 Martin Anker et. al.: Grimms Märchenwelten im Bilderbuch. Beiträge zur Entwicklung des Märchenbilderbuches seit Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Schriftenreihe RINGVORLESUNGEN der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Hg. von Kurt Frank. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015 (Band 14).
12 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 2., durchgesehene u. erweiterte Aufl. Bern: Francke 1960, S. 5-6.
13 Manfred Grätz: Kunstmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hgg. von Rolf Wilhelm Brednich et. al. Berlin: Walter de Gruyter 1996 (Band 8), S. 613.
14 Vgl. Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie, S. 11.
15 Manfred Grätz: Kunstmärchen, S. 613.
16 Max Lüthi: Märchen. 8., durchgesehene u. erg. Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler 1990, S. 5.
17 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 5.
18 Ebd. S. 5.
19 Jakob Minor (Hg.): Novalis Schriften. Jena: Diederichs 1923 (Band 3), S. 4.
20 Ebd. S. 4.
21 Vgl. Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S.5.
22 Günter Lange: Einführung in die Märchenforschung und Märchendidaktik. In: Märchen - Märchenforschung - Märchendidaktik. Hg. von Günter Lange. 3. unveränd. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2012 (Band 2), S.14.
23 Ebd. S. 15.
24 Max Lüthi: Märchen, S. 25.
25 Ebd. S. 25.
26 Vgl. ebd. S. 25.
27 Walter Scherf: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. München: K.G. Saur 1987, S. 79.
28 Ebd. S. 79.
29 Vgl. Ebd. S. 79.
30 Vgl. Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 8-75.
31 Vgl. ebd. 8-9.
32 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 13.
33 Vgl. ebd. S. 37.
34 Günter Lange: Einführung in die Märchenforschung und Märchendidaktik, S. 14.
35 Ebd. S. 14.
36 Walter Scherf: Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen. München: K.G. Saur 1987, S. 79.
37 Vgl. ebd. S. 79.
38 Günter Lange: Einführung in die Märchenforschung und Märchendidaktik, S. 14.
39 Manfred Grätz: Kunstmärchen, S. 612.
40 Vgl. Brigitta Schieder: Märchen — Nahrung für die Kinderseele. Einführung in den ganzheitlichen Umgang mit Märchen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996, S. 11.
41 Volker Klotz: Das europäische Volksmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart: Metzler 1985, S. 2.
42 Manfred Grätz: Kunstmärchen, S. 612.
43 Ebd. S. 613.
44 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 76.
45 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 77.
46 Ebd. S. 77.
47 Ebd. S. 27.
48 Ebd. S. 27.
49 Vgl. Ebd. 26f.
50 Walter Scherf: Bedeutung und Funktion des Märchens. München: Internationale Jugendbibliothek 1982, S. 4.
51 Ebd. S. 4.
52 Carl-Heinz Mallet: Kopf ab! Gewalt im Märchen. Hamburg: Rasch und Röhring 1985, S. 37.
53 Carl-Heinz Mallet: Kopf ab! S. 37.
54 Vgl. Ebd. S. 37.
55 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, S. 79.
56 Almut Bockemühl: Verstoßen, verschlungen, erschlagen, S. 9f.
57 Lutz Röhrich: Grausamkeit, S. 102.
58 Wolfram Ellwanger und Arnold Grömminger: Märchen - Erziehungshilfe oder Gefahr?. Freiburg im Breisgau: Herder 1977, S. 75.
59 Ebd. S. 75.