Die Tonleiter Von Franz Hohler
Manchmal, wenn ich dasitze und Cello spiele, ist es mir, als könne ich einen Deckel öffnen und ich stiege eine Leiter hinunter. Vorsichtig würde ich die Füsse von der letzter Sprosse auf einen sanften Boden aufsetzen und fände mich in einer Gegend, die einem Urwald gleicht, ich müsste mich behutsam zwischen dicken Stämmen und herunterbaumelnden Lianen durchtasten, würde dabei von Schlangen beobachtet, die sich um Äste gewickelt hätten, würde mich von weichen Affenhänden ducken, die mich berühren möchten, stiesse vielleicht auf ein leise glucksendes Rinnsal, dem ich entlanggehen würde, und das Rinnsal würde zu einem Bach, und ich käme in ein tiefes Bergtal und würde nun mit federnden Schritten in der Nähe das Wassers talwärts wandern, zwischen Geröllhalden und Schneeflächen, über breite Alpweiden mit Dotterblumen und Wollgras, und irgendeinmal wäre ich dann in einer Ebene, allein unter einem grossen Himmel, und diese Ebene läge am Meer, und ich würde mich in den Sand setzen und hinausschauen auf die Brandung und die Wolken und die kleinen Felseninsel am Horizont, und dann wüsste ich nicht, soll ich mich jetzt auf den Rückweg machen und den Deckel wieder suchen, durch den ich gestiegen bin in diese Welt, der alles fehlt, was sie böse und unerträglich macht, oder soll ich einfach hierbleiben und sogar noch hinausschwimmen auf die Insel, auch wenn ich Angst habe, ich könnte dabei ertrinken oder es wäre dort draussen so schön, dass ich vergässe, wo ich hingehöre und nie mehr zurückkäme?
Ich spiele zwar selber nicht Cello, aber viele andere Instrumente und kenne dieses Traumgefühl sehr gut. Wenn ich mich hinein gespielt habe in eine andere Welt, würde ich am liebsten nicht mehr aufhören und immer nur weiter spielen. Alles andere verliert an Wert und nur die Töne und die Melodie zählen noch. Der Text wirkt deshalb auf mich wie eine Beschreibung meiner Gefühle und Empfindungen während des musizierens.
Zuerst kommt das hinabsteigen in eine andere Welt, zu vergleichen mit dem "sichhineinfühlen" in ein Stück um mit der Melodie zu atmen. Dann entdeckt man vorsichtig die Traumwelt. Note für Note tastet man sich vorwärts, freut sich über unverhoffte Passagen und entdeckt neue Nuancen.
Zu Beginn spielt man noch verhalten, leise, nur für sich selber vor sich hin. Man geht diesem Rinnsal entlang und dieses Rinnsal wird zu einem Bach. Die Musik gewinnt an Fülle und an Macht. Der ganze Raum füllt sich mit Musik und vermittelt einem das Gefühl weit weg zu sein.
Höhen und Tiefen folgen, ausgedrückt d urch diminuendi und creshendos, die nicht nach Notation sondern gefühlsmässig gespielt werden. Jetzt wird das Stück wirklich frei, wenn sich sein Interpret in die Welt dieser Melodie hinein träumt, sich hinein fühlt und seine Empfindungen zum Ausdruck bringt.
Dann kann man sich geistig nach hinten lehnen, die Brandung und das Meer geniessen und aus vollem Herzen mit ganzem Körpereinsatz und doch innerlich entspannt spielen. So erlangt man Befriedigung, Erfüllung und eine Friedlichkeit, die einen nur noch schwer zurückkehren lassen will in die reale Welt, ohne den Klang seines Instrumentes. Der Traum ist beendet.
Am liebsten würde man ewig verweilen und sich in der Melodie treiben lassen. Doch spätestens wenn jemand den Raum betritt und schroff nach etwas fragt, oder wenn das Telefon klingelt, bricht der Traum brüsk ab. Manchmal macht man sich auch selber auf den Rückweg, spielt noch ein paar Takte, sucht den "Deckel" wieder durch den man hineingekommen ist und lässt die Musik ausklingen. Das ist der schönste Ausgang eines Musiktraumes.
Franz Hohler thematisiert mit dieser Kurzgeschichte seine eigenen Erlebnisse während des Cello spielens. Es sind seine Gefühle, die er mit seiner ihm typischen Skurillität übertreibt und überspitzt wiedergibt. Für viele ist diese Geschichte einfach eine weitere lustige und komische Erzählung von Franz Hohler. Für manche aber, enthält sie erlebte Gefühle und ein sich-selber-Erkennen in dieser Beschreibung.
Er schreibt die Kurzgeschichte "Die Tonleiter" in nur zwei Sätzen. Der erste Satz beschreibt kurz die Ausgangssituation: "Manchmal, wenn ich das sitze und Cello spiele..." Der zweite Satz ist die ganze eigentliche Beschreibung seines Traumes, nachdem er über die Tonleiter hinunter gestiegen ist. Er gebraucht nur Kommas um Atempausen zu schaffen und neue Erlebnisse zu trennen, denn alles ist miteinander verbunden. Etwas das nicht aufzuhören scheint und immer weiter läuft.
Franz Hohler zeichnet in seiner Beschreibung eine Landschaft, Tiere die er sieht und die Stimmung, die dort herrscht. Er verwendet Adjektive um diese Tiere und Landschaften näher zu beschreiben, zum Beispiel: herunterbaumelnde Lianen, glucksendes Rinnsal, tiefes Bergtal.
Die Natur beschreibt er mit konkreten Begriffen, wie: Rinnsal, Geröllhalden, Schneeflächen, Alpweiden, Dotterblume, Wollgras, Brandung... dadurch kann sich der Leser ein ganz konkretes Bild davon machen, von der Traumwelt in der Franz Hohler sich bei seinem Spiel befindet.
Nach dem ersten einleitenden Satz und der langen zusammenhängenden Beschreibung seines Traumes, folgt zum Schluss ein Fragezeichen als unklare Definition. Eine Frage, gestellt von Franz Hohler an seine Leser und an sich selber:
Häufig gestellte Fragen zu "Die Tonleiter Von Franz Hohler"
Worum geht es in "Die Tonleiter"?
Die Kurzgeschichte "Die Tonleiter" von Franz Hohler beschreibt die Gefühle und Erlebnisse des Autors während des Cellospielens. Er vergleicht das Spielen mit einer Reise in eine andere Welt, einer Art Traumwelt, in die er über eine Tonleiter hinabsteigt.
Wie beschreibt Hohler diese Traumwelt?
Hohler beschreibt eine üppige, naturnahe Umgebung, die von einem Urwald über ein Bergtal bis hin zu einer Ebene am Meer reicht. Er verwendet bildhafte Sprache und detaillierte Beschreibungen von Tieren, Pflanzen und Landschaften, um diese Traumwelt lebendig werden zu lassen.
Welche Rolle spielt die Musik in der Geschichte?
Die Musik ist der Schlüssel zur Traumwelt. Das Cellospiel ermöglicht es dem Autor, sich in eine andere Realität zu begeben. Die Melodie und die Töne führen ihn durch die verschiedenen Landschaften und Stimmungen.
Welches Gefühl vermittelt die Geschichte?
Die Geschichte vermittelt ein Gefühl der Freiheit, der Entspannung und der Erfüllung, das durch das Musizieren entsteht. Sie thematisiert auch die Frage, ob man in dieser Traumwelt verweilen oder in die Realität zurückkehren soll.
Welche sprachlichen Mittel verwendet Hohler?
Hohler verwendet lange, verschachtelte Sätze, um den Fluss der Musik und die Kontinuität des Traumes widerzuspiegeln. Er bedient sich einer reichen Bildsprache mit Adjektiven und konkreten Naturbegriffen, um die Traumwelt zu veranschaulichen.
Was ist das zentrale Thema der Geschichte?
Das zentrale Thema ist die transformative Kraft der Musik und die Möglichkeit, durch sie in eine andere Realität einzutauchen. Es geht auch um die Auseinandersetzung mit der Frage, wo man hingehört und was es bedeutet, nach Hause zu kommen.
Wie ist die Geschichte aufgebaut?
Die Geschichte besteht aus zwei Hauptsätzen. Der erste Satz leitet die Situation ein ("Manchmal, wenn ich dasitze und Cello spiele..."), während der zweite Satz die gesamte Beschreibung der Traumreise umfasst. Am Ende steht eine Frage, die die Unentschlossenheit des Autors widerspiegelt.
Was ist das Besondere an Hohlers Schreibstil in dieser Geschichte?
Hohler vermischt in "Die Tonleiter" seine typische Skurrilität mit tiefen Gefühlen und persönlichen Erlebnissen. Er übertreibt und überspitzt seine Empfindungen, was die Geschichte sowohl lustig als auch berührend macht.
- Arbeit zitieren
- Sara Hess (Autor:in), 1998, Hohler, Franz - Die Tonleiter, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/95493