Schafft Recht Gerechtigkeit? Und ist Recht somit notwendige Bedingung für Gerechtigkeit? Diese Arbeit soll unter anderem diesen Fragestellungen nachgehen. Hierbei wird das brandenburgische Paritätsgesetz als bildliche Darstellung und Leitfaden der Ausarbeitung näher betrachtet. Theoretischen Halt sollen die rechts- und gerechtigkeitstheoretischen Ausführungen von Immanuel Kant geben. Relevanz für diesen Forschungsgegenstand ist durch die Aktualität um das bundesweit erste Paritätsgesetz und die damit verstärkte Diskussion über die gleichberechtigte Beteiligung der Geschlechter an der politischen Willensbildung gegeben. Ebenso interessant erscheint die Verknüpfung der theoretischen Überlegungen Kants mit tagesaktuellen politischen Erscheinungen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
2 Recht und Gerechtigkeit
2.1 Rechtspositivismus vs. Naturrechtslehre
2.2 Kants Vorstellungen von Recht und Moral
2.2.1 Naturzustand und Menschenbild
2.2.2 Gesellschaftliche Vorstellungen
3 Paritätsgesetz
4 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einführung
„Das Land schreibt Gleichstellungsgeschichte“ (Hecht 2019) jubelt Elke Ferner, Sozialdemokratin und Vorstandsmitglied des Deutschen Frauenrates einen Tag vor der vorgesehenen Verabschiedung des bundesweit ersten Paritätsgesetzes durch den brandenburgischen Landtag gegenüber der Tageszeitung taz. „Geschlechtergerechtigkeit in den Parlamenten! Parität jetzt!“ (Frauenpolitischer Rat Land Brandenburg e.V. o.J) fordert der Frauenpolitische Rat auf seiner Homepage. „Das Gesetz ist sicher verfassungswidrig“ (Höhne 2019) urteilt der Rechtswissenschaftler Martin Morlok. Die „geschlechterbezogene Wahlrechtsregelungen greifen in die Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie in die Freiheit der Parteien ein“ (Wapler 2019: 1) befindet Friederike Wapler in einer Analyse für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Meinungen zum Paritätsgesetz könnten gegensätzlicher nicht sein. Trotzdem wurde es am 31. Januar 2019 von einer Mehrheit im Landtag Brandenburg verabschiedet.
Schafft Recht Gerechtigkeit? Und ist Recht somit notwendige Bedingung für Gerechtigkeit? Diese Hausarbeit soll unter anderem diesen Fragestellungen nachgehen. Hierbei wird das brandenburgische Paritätsgesetz als bildliche Darstellung und Leitfaden der Ausarbeitung näher betrachtet. Theoretischen Halt sollen die rechts- und gerechtigkeitstheoretischen Ausführungen von Immanuel Kant geben. Relevanz, und eine daraus entspringende Motivation, für diesen Forschungsgegenstand ist durch die Aktualität um das bundesweit erste Paritätsgesetz und die damit verstärkte Diskussion über die gleichberechtigte Beteiligung der Geschlechter an der politischen Willensbildung gegeben. Ebenso interessant erscheint die Verknüpfung der theoretischen Überlegungen Kants mit tagesaktuellen politischen Erscheinungen.
Das anschließende Kapitel 2 wird in die Begrifflichkeiten Recht und Gerechtigkeit einführen und Definitionen vorgeschlagen. Anschließend wird das Verhältnis beider Begriffe zueinander geklärt und die beiden theoretischen Pole des Spannungsverhältnisses eben jener, zwischen Rechtspositivismus einerseits und naturrechtlicher Perspektive andererseits, erläutert. Kapitel 2.2 fokussiert sich auf die Ausführungen von Immanuel Kant und dessen Vorstellungen von Recht und Moral. Hierbei wird auf das kantische Menschenbild, den Urzustand und seine gesellschaftlichen Vorstellungen eingegangen. Damit schließt die theoretische Verortung und es folgt eine Hinwendung zur heutigen Zeit mit der empirischen Grundlage des Paritätsgesetz Brandenburgs. Nach einer einleitenden Vorstellung des Gesetzes sollen die Intention und insbesondere die Kritikpunkte beleuchtet werden. Ebenso vorgesehen ist eine Überprüfung des Gesetzes hinsichtlich Gleichheit, Rechtlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit im kantischen Verständnis.
2 Recht und Gerechtigkeit
Recht und Gerechtigkeit, zwei Begrifflichkeiten, die auch im heutigen Sprachgebrauch alltäglich Verwendung finden und oftmals mit einem Atemzug verwendet werden. Würde man Menschen beim samstäglichen Einkaufbummel befragen, ob Recht ebenso gerecht sein sollte, so würde im Allgemeinen wohl leicht eine Mehrheit der Befragten diesen normativen Anspruch bejahen. Bereits „[d]ie Sprachverwandtschaft der Begriffe […] verführt dazu diese inhaltlich miteinander zu verbinden - also dass [sic] Gerechtigkeit als ein Teil des Rechts mitgedacht wird“ (Graf 2009: 6). Werden die Vorstellungen von Gerechtigkeit abseits von abstrakten theoretischen Konstrukten auf konkrete Sachverhalte der gesellschaftlichen Ordnung bezogen, beispielsweise Chancen-, Leistungs-, Generationen- oder Verteilungsgerechtigkeit, so beweisen viele Menschen in Deutschland ein Gerechtigkeitsempfinden (Kantar EMNID: 2017).
Ebenfalls sind beide Begriffe in zahlreichen institutionalisierten Organisationen und Regimen zentral verankert. So greift das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bereits im ersten Artikel sowohl den Begriff des Rechts als auch der Gerechtigkeit auf:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. (Art. 1 GG)
Neben der Unverletzlichkeit der Würde jedes Menschen erkennt das Grundgesetz die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit des Menschenrechts sowie der Gerechtigkeit in der Welt an und bindet alle legislative, exekutive und judikative Staatsgewalt an diese Menschen- und Grundrechte. Ebenso sind beide Begrifflichkeiten in der, am 24. Oktober 1945 in Kraft getretenen, Präambel der Charta der Vereinten Nationen verankert:
WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN - FEST ENTSCHLOSSEN, [...] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, [...]. (UNRIC - Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen 2020)
Der Passus stellt, ebenso wie das Grundgesetz zum einen die Grundrechte sowie die Menschenwürde, auch die Gleichstellung der Geschlechter und die Gerechtigkeit des Völkerrechts heraus.
Unter Recht wird nachfolgend die „Gesamtheit der Rechtsnorm, die in der Rechtsgemeinschaft gelten“ (Winter et al. 2018) verstanden. Für den Begriff Gerechtigkeit existieren zahlreiche Definitionen. Die weitere Abhandlung bemüht die Definition von Suchanek und Lin-Hi: „Gerechtigkeit regelt die Beziehungen von Menschen zu anderen Menschen, sie betrifft also Interaktionen, und sie enthält immer ein Moment von Gleichheit“ (Suchanek & Lin-Hi 2018). Nachfolgend werden die Begriffe Moral und Gerechtigkeit synonym verwendet.
Sowohl das Grundgesetz als auch die Charta der Vereinten Nationen lassen sich dahingehend interpretieren, dass das Recht die Gerechtigkeit schützt und bewahrt. Während Moral und Gerechtigkeit das Innenverhältnis der Menschen subjektiv berührt, bezieht sich das Recht auf das äußere Verhältnis zwischen den Menschen zueinander. Welches Verhältnis haben beide Begrifflichkeiten aber nun? Sind sie unabhängig voneinander zu betrachten, sind sie gleichrangig oder bedingt Recht Gerechtigkeit oder umgekehrt?
2.1 Rechtspositivismus vs. Naturrechtslehre
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind diesen Fragen bereits nachgegangen. Tilman Graf verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit bildlich mit der Entwirrung der Fäden eines handgeknüpften Teppichs. „Zum einen wird sich dies als äußerst schwierig und mühselig darstellen. Darüber hinaus scheint das entwirrte Garn aber doch zu einem Komplex, nämlich dem Teppich, zusammenzugehören. Wenn die Fäden voneinander getrennt werden, löst sich die Funktion des Teppichs auf, man hat nur noch voneinander getrennte Teile“ (Graf 2009: 4). Beide Begriffe sind demnach unauflöslich miteinander verwoben.
Die Forschungsgemeinschaft hat zwei Pole herausgebildet. Einerseits den des Rechtspositivismus, welcher eine klare Trennung zwischen Recht und Moral herausstellt und zum anderen die Naturrechtslehre, welche eben jene Trennung ablehnt und beide Begriffe in einem stetigen Zusammenhang betrachtet. Rechtspositivisten kommen zu dieser Erkenntnis, da es keinen universellen gültigen Begriff der Gerechtigkeit gibt (Kelsen 1987: 34). Was als gerecht empfunden wird ist demnach nicht an eine universale Gültigkeit gebunden, sondern wird erst aus dem Kontext der jeweiligen zu Grunde liegenden Kultur, Ideologie und des Staatswesens konstruiert. Die Gesetzgebung und das daraus entspringende und durch Menschen aufgestellte Recht lässt demnach keine allgemeingültigen Aussagen zu, da es zu jederzeit veränderbar ist. Die Veränderbarkeit des von Menschen gesetzten Rechts, auch als positives Recht deklariert, kann somit zeitlichen und örtlichen Abhängigkeiten unterliegen. Sind die Landesparteien in Brandenburg, wie im vorliegenden Beispiel, bei der Wahllistenaufstellung für die Landtagwahl künftig an eine paritätische Aufstellung eben jener gebunden, so gilt dieser Wahlgrundsatz nicht im restlichen Bundesgebiet oder bei der Bundestagswahl. Die Örtlichkeit ist demnach der entscheidende Faktor, für oder gegen eine vom Gesetzgeber vorgeschriebene paritätische Wahlliste. Ist dieser Umstand nun gerecht? Werden den Brandenburgerinnen und Brandenburgern mehr Gerechtigkeit als den Rest der Bundesrepublik zu Teil? Dieser Frage werden wir später nachgehen. Festhalten lässt sich aus rechtspositiver Perspektive jedoch, dass gesetztes Recht gilt. Auch wenn es subjektiv den Einzelnen oder auch der Mehrheit ungerecht erscheinen mag.
Einleitend wurde auf Artikel 1 des Grundgesetzes eingegangen. Auch das Grundgesetz stellt positives Recht da und lässt sich mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat verändern. Die Erfahrungen aus der Nazi-Diktatur und dem Ermächtigungsgesetz lehren, dass jedes Recht auch auf parlamentarischen Wegen abänderbar ist bzw. außer Kraft gesetzt werden kann. Im Nazi-Regime hat sich nach der legislativen Gewalt anschließend auch die Exekutive und Judikative voll in den Dienst des dann geltenden Rechts gestellt, Recht ausgeführt und gesprochen. Mit den bekannten größtmöglichen, zerstörerischen Folgen für Deutschland, Europa und die Welt. Zum Schutz vor Missbrauch haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes daher versucht mit Artikel 79 eine Bestandsgarantie mittels positiven Rechts zu schaffen: „Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche […] die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“ (Art. 79 Abs. 3 GG).
Im Gegensatz zum Rechtspositivismus steht die naturrechtliche Position. Nach dieser führt „[d]as positive Recht […] kein isoliertes Dasein, sondern ist mit anderen Normengruppen – nämlich überpositiven Normen – zu einem normativen Teppich verknüpft“ (Graf 2002: 10). Überpositives Recht sind demnach universale Menschen- und Grundrechte, die jedem Menschen von Natur aus zustehen und unabhängig von den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Gesetzlichkeiten dauerhaft zur Geltung und Anwendung kommen. Sie sind nicht verhandel- oder veränderbar, da weder der Einzelne noch die Gemeinschaft darüber entscheiden kann. Dementsprechend ist jedes positive Recht an überpositives Recht und damit an moralische Belange geknüpft. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ist der Vordenker dieser naturrechtlichen Sichtweise (Graf 2002: 11) und verknüpft diese mit der menschlichen Vernunft. Eine bloße Auslegung und Anwendung des von Menschen gesetzten Rechts, ohne Einbeziehung der Moral kommentiert er wie folgt: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus‘ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat“ (Kant 1990: 66). Kants Aussage lässt sich demnach interpretieren, dass jedes Recht ohne Gerechtigkeit eine leere Hülle darstellt. Der folgende Abschnitt wird sich verstärkt den Auffassungen Kants widmen und die weitere theoretische Basis für die Betrachtung des Paritätsgesetzes in der heutigen Zeit bieten.
2.2 Kants Vorstellungen von Recht und Moral
Immanuel Kant lebte von 1724 bis 1804 in Königsberg und ist einer der bedeutendsten deutschen Philosophen. Seine Lebensumwelt war durch die Epoche der Aufklärung beeinflusst. Forschungsdurchbrüche im naturwissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Kontext prägten diese Zeit. Diese Umwälzungen insbesondere in den Naturwissenschaften standen im Widerspruch zur bis dato vorherrschenden kirchlichen und staatlichen Bevormundung des Individuums. Gesellschaftspolitisch entwarfen Vertragstheoretiker wie Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau völlig neue Konzeptionen vom Staats- und Gemeinschaftswesen. Kant selbst definiert die Epoche 1784 in der Berlinerischen Monatsschrift wie folgt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant 1784: 481). Deutlich wird die vernunftbezogene Sichtweise von Kant und die Denkweise, dass sich durch Vernunft und Fortschritt die Hauptprobleme des menschlichen Zusammenlebens lösen lassen. Für Kant ist die „Vernunft [die] universelle Urteilsinstanz“ (Simon 2017: 99), welche als Richtschnur zur Beurteilung von Vorstellungen, Anschauungen und Ideologien eingesetzt werden solle. Die menschliche Vernunft ist hierbei nicht aus dem Naturrecht ableitbar, sondern besteht von diesem unabhängig. Mit der Vernunft als Erkenntnisquelle wandelt sich das Naturrecht zum Vernunftrecht. Wenden wir uns nachfolgend dem Menschenbild des Immanuel Kant zu.
2.2.1 Naturzustand und Menschenbild
Der Mensch ist für Kant ein natürliches, soziales Wesen und damit Teil der Natur. Er ist natürlichen Zwängen unterworfen, über die der Mensch keine Macht hat zu bestimmen. Der Mensch ist anfänglich ein vernunftsfähiges Tier (animal rationabile) unter vielen, obschon er einen Vorteil durch seinen Verstand hat (Kant 1990: 319). Erst durch die Nutzung dieser Vernunftsbegabung spricht Kant dem Menschen eine Würde zu: „Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben […]“ (ebd.). Der Mensch entscheidet durch die Nutzung oder Nichtnutzung der Vernunft ebenso über seine Freiheit (Selbstbestimmung) bzw. Unfreiheit (Fremdbestimmung). Auch im Naturzustand bildet der Mensch bereits Gemeinschaften, lebt und agiert in diesen und ist in der Regel von friedvoller Natur. „Die Mehrheit der Menschen erschien ihm gutartig und vor allem vernünftig“ (Kailitz 2007: 195). Kants Menschenbild ist weder bösartig, wie etwa jenes von Thomas Hobbes skizziert als Krieg jeder gegen jeden, noch ausgesprochen idealistisch, sondern vielmehr zeichnet Kant ein realistisches Bild der Menschheit (ebd.). Hierbei sei noch angemerkt, dass Kant davon ausgeht, dass die vollkommene und absolute Erfassung von sich selbst und der Welt begrenzt und immer von angeborenen Anschauungsformen wie Raum, Zeit und Kausalität abhängig ist (Kuhle & Kuhle 2003: 222). Dementsprechend konstruiert jeder Mensch eine Welt für sich, ohne jemals Gewissheit darüber zu erlangen, ob die Welt wirklich so funktioniert.
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