Für behinderte Figuren in der Literatur gibt es etliche Begriffe: Es ist von Verwachsenen und Missgebildeten, Krüppeln, Buckligen, gar von Monstern die Rede, um nur einige zu nennen. Immer aber machen die Bezeichnungen deutlich, dass es sich um eine Randgruppe von "Anders-Seienden" und damit meist Ausgestoßenen handelt, die keinen Platz in der normalen Gesellschaft finden, ihre Rolle zunächst einmal suchen beziehungsweise erkämpfen müssen. Die literarische Figur des Behinderten avanciert auf diese Weise dank ihrer offensichtlichen Stigmatisierung zur perfekten Trägerin symbolischer Bedeutung – zur Metapher par excellence.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, in welcher besonderen Weise Mann in seiner ersten Novelle "Der kleine Herr Friedemann" (1897) die Figur des verwachsenen Männchens für sich auf mehreren symbolischen Ebenen fruchtbar machte.
Intertextuelle Bezüge, die sich sowohl auf das philosophische Gedankengut von Schopenhauer und Nietzsche stützen, als auch auf andere narrative Texte, in denen Figuren mit Behinderung vorkommen, sollen helfen, die Novelle des "Kleinen Herrn Friedemann" umfassender bearbeiten zu können. So erscheint Friedemann hinterher nicht einfach als eine ideenlose Imitation von Theodor Storms Edde Brunken (Eine Malerarbeit) oder Theodor Fontanes Alonzo Gieshübler (Effi Briest), sondern lässt den Schluss ziehen, dass Thomas Mann mit der Inspiration von Nietzsche und Schopenhauer eine kritische Kontrafaktur dieser Existenzen anfertigte, um seine Lektüreerlebnisse zu verarbeiten.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Forschungsgegenstand: „Der kleine Herr Friedemann“
- Intertextuelle Bezüge
- Philosophische Grundlagen einer Mann-Lektüre
- Schopenhauers Verneinung des Willens zum Leben
- Nietzsches > Hunde im Souterrain<
- Friedemanns Leidensgenossen
- Alonzo Gieshübler aus Theodor Fontanes Effi Briest
- Edde Brunken aus Theodor Storms Eine Malerarbeit
- Philosophische Grundlagen einer Mann-Lektüre
- Grundmotive der Friedemann-Novelle
- Das Stigma körperlicher Versehrtheit
- Verlangen, Verzicht & Heimsuchung des deformierten Körpers
- Die Verhüllung der außertextuellen Homosexualität Thomas Manns
- Conclusio: Manns,,diskrete Formen und Masken“
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Novelle "Der kleine Herr Friedemann" von Thomas Mann und untersucht die Figur des Johannes Friedemann in ihren symbolischen Dimensionen. Ziel ist es, die vielfältigen Bezüge der Novelle zu philosophischen Strömungen und anderen literarischen Werken aufzudecken und die Grundmotive der Erzählung zu analysieren.
- Die Darstellung von körperlicher Behinderung in der Literatur
- Die Rolle des Stigmas und der Außenseiterschaft
- Askese, Verlangen und Verzicht im Leben des Protagonisten
- Die Verknüpfung von Behinderung und Geschlecht
- Die Suche nach Selbstverwirklichung jenseits bürgerlicher Normen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Novelle "Der kleine Herr Friedemann" erzählt die Geschichte des körperlich verkrüppelten Johannes Friedemann, der aufgrund seiner Behinderung ein Leben in Abgeschiedenheit führt. Durch seine strenge Askese sucht er Trost in der Kunst und vermeidet jegliche Berührung mit der Gesellschaft. Doch mit dem Erscheinen der Gerda von Rinnlingen wird sein Leben auf den Kopf gestellt. Gerdas ambivalentes Verhalten löst in Friedemann widersprüchliche Emotionen aus und erfährt seine eigene verdrängte Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Am Ende ertrinkt Friedemann, nachdem er von Gerda zurückgewiesen wurde. Die Novelle zeigt die Auswirkungen von sozialer Stigmatisierung und die Suche nach Anerkennung in einer Gesellschaft, die Behinderung als Makel betrachtet.
Schlüsselwörter
Thomas Mann, "Der kleine Herr Friedemann", Behinderung, Stigmatisierung, Außenseitertum, Askese, Verlangen, Verzicht, Homosexualität, Intertextualität, Schopenhauer, Nietzsche, Kontrafaktur, „diskrete Formen und Masken“
- Arbeit zitieren
- Jana Wischmann (Autor:in), 2020, Die Metaphorik des deformierten Körpers bei Thomas Mann. Wirkung und Funktion von Behinderung in der Novelle "Der kleine Herr Friedemann", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/899397