Die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) in Deutschland ist zwar nicht neu, doch hat sie in letzter Zeit wieder an politischer Brisanz gewonnen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander, wie ein Blick in die Vermögensverteilung deutscher Haushalte zeigt. Während 50 Prozent der Haushalte über weniger als 4 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügen, teilen die 10 Prozent der vermögendsten Haushalte 47 Prozent unter sich auf.
So liegt es nahe, über alternative Systeme sozialer Sicherung nachzudenken, die sozialer Ungleichheit mehr entgegenzusetzen haben als das derzeitige Grundsicherungssystem um das ALG II. Ein umstrittenes Konzept, das Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, ist das BGE.
Die Liste von Befürwortern sowie Gegnern ist lang. An vorderster Front für ein BGE kämpfen der Unternehmer und DM-Gründer Götz Werner, der Hartz 4 als „offenen Strafvollzug“ anprangert, und Thomas Straubhaar; ein bedingungsloses Grundeinkommen sei „extrem solidarisch und schafft Jobs“ , so der Ökonom des HWWI-Instituts.
Das Bürgergeld unterliege einer „Solidaritätsordnung für Geisterfahrer“, die den Sozialstaat auflöse und an seine Stelle eine „Gulaschkanone“ setze, aus der jeder einen Schlag bekomme, wettert hingegen Norbert Blüm in der ZEIT. Gar eine Spaltung Deutschlands in einen produktiven und einen stillgelegten Teil befürchtet der SPD-Chef Kurt Beck.
Fernab von jeder Polemik basiert ein bedingungsloses Grundeinkommen auf einer Gerechtigkeitsvorstellung eines utopischen Sozialismus mit Gleichheitsidealen des Liberalismus und sieht sich selbstbewusst als eine mögliche Antwort auf gegenwärtige sozialstaatliche Probleme.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Das bedingungslose Grundeinkommen: Definition
1.2 Geschichtsexkurs: Das Grundeinkommen und seine Vorläufer
2. Soziale Gerechtigkeit und Policyinstrumente
2.1 Politikphilosophischer Exkurs: Wie definiert sich soziale Gerechtigkeit?
2.1.1 Rawls: Gerechtigkeit durch Fairness
2.1.2 Dworkin: Gerechtigkeit durch (Ressourcen)Gleichheit
2.1.3 Rawls und Dworkin: Ein Maßstab für Gerechtigkeit?
2.2 Das Sozialstaatsprinzip: Soziale Gerechtigkeit in Deutschland
2.3 Status quo: Soziale Gerechtigkeit durch Hartz IV?
2.3.1 Gerechtigkeit I: Hartz IV und das Sozialstaatsprinzip
2.3.2 Gerechtigkeit II: Hartz IV, Rawls und Dworkin
2.4 Das bedinggslose Grundeinkommen: Ein anderes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit
2.4.1 Gerechtigkeit I: Das BGE und Van Parijs
2.4.2 Gerechtigkeit II: Das BGE und das Sozialstaatsprinzip
2.4.3 Gerechtigkeit III: Das BGE, Rawls und Dworkin
3. Das BGE und seine Kritiker: Auseinandersetzung mit Politik, Gesellschaft und Wirtschaft
3.1 Akzeptanz und Aktivierung: Das Free-Rider-Problem
3.1.1 Akzeptanz
3.1.2 Aktivierung
3.2 Geld regiert die Welt: Zur Finanzierbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommens
3.2.1 Die Finanzierungsfrage
3.2.2 Auswirkungen auf die Tendenz zu arbeiten
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) in Deutschland ist zwar nicht neu, doch hat sie in letzter Zeit wieder an politischer Brisanz gewonnen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander, wie ein Blick in die Vermögensverteilung deutscher Haushalte zeigt. Während 50 Prozent der Haushalte über weniger als 4 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügen, teilen die 10 Prozent der vermögendsten Haushalte 47 Prozent unter sich auf.[1]
So liegt es nahe, über alternative Systeme sozialer Sicherung nachzudenken, die sozialer Ungleichheit mehr entgegenzusetzen haben als das derzeitige Grundsicherungssystem um das ALG II. Ein umstrittenes Konzept, das Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, ist das BGE.
Die Liste von Befürwortern sowie Gegnern ist lang. An vorderster Front für ein BGE kämpfen der Unternehmer und DM-Gründer Götz Werner, der Hartz 4 als „offenen Strafvollzug“[2] anprangert, und Thomas Straubhaar; ein bedingungsloses Grundeinkommen sei „extrem solidarisch und schafft Jobs“[3], so der Ökonom des HWWI-Instituts.
Das Bürgergeld unterliege einer „Solidaritätsordnung für Geisterfahrer“, die den Sozialstaat auflöse und an seine Stelle eine „Gulaschkanone“ setze, aus der jeder einen Schlag bekomme, wettert hingegen Norbert Blüm in der ZEIT.[4] Gar eine Spaltung Deutschlands in einen produktiven und einen stillgelegten Teil befürchtet der SPD-Chef Kurt Beck.[5]
Fernab von jeder Polemik basiert ein bedingungsloses Grundeinkommen auf einer Gerechtigkeitsvorstellung eines utopischen Sozialismus mit Gleichheitsidealen des Liberalismus und sieht sich selbstbewusst als eine mögliche Antwort auf gegenwärtige sozialstaatliche Probleme.
Auf „das Ende der Arbeit“[6] will es genauso eine Antwort geben wie auf das Phänomen der „working poor“, unsteter und individualisierter Lebensentwürfe und Erwerbsbiographien, es verspricht bessere Chancen für Frauen, erkennt Erziehungs- sowie ehrenamtliche Arbeit als vollwertig an, verschlankt die staatliche Bürokratie und entstigmatisiert Sozialhilfeempfänger.
Das hört sich zunächst gut an, kratzt jedoch erheblich an common sense- Gerechtigkeitsvorstellungen. Warum noch arbeiten, wenn man den faulen Herumtreiber gleich mitfinanziert?
Mit der vorliegenden Arbeit will ich den Versuch machen, das Thema bedingungsloses Grundeinkommen unter Aspekten der sozialen Gerechtigkeit zu betrachten. Würde ein Systemwechsel hin zu einem BGE zu mehr oder weniger sozialer Gerechtigkeit führen?
Kapitel 1 führt durch eine Definition und einen kurze Übersicht zur Ideengeschichte des BGE in die Thematik ein.
Der Bereich der sozialen Gerechtigkeit wird in Kapitel 2 behandelt. Zu nähern versuche ich mich durch ausgewählte politikphilosophische Theorien aus der Schule des philosophischen Liberalismus, die versuchen, gerechtigkeits-theoretische Sozialstaatsbegründungen zu entwerfen. Daraufhin sollen die derzeitige Grundsicherung in Form von Hartz IV auf deren Verständnis von sozialer Gerechtigkeit untersucht werden, im Kontrast zu der Gerechtigkeitsvorstellung, die dem bedingungslosen Grundeinkommen immanent ist.
In Kapitel 3 werde ich Kritik der Grundeinkommensgegner aus verschiedenen Bereichen aufgreifen und das Grundeinkommen diesen Einwänden stellen. Im Mittelpunkt werden hier das Neid- bzw. Reziprozitätsargument, erwartbare Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Gesellschaft sowie das hiermit in Zusammenhang stehende Argument der Nichtfinanzierbarkeit eines BGE stehen.
Das Fazit versucht zu davon zu überzeugen, dass ein BGE tatsächlich viele Vorteile gegenüber dem gegenwärtigen System sozialer Sicherung hat, überdies auf einer Konzeption von sozialer Gerechtigkeit basiert, die schlüssig und vertretenswert erscheint. So ist das Grundeinkommen in vielerlei Hinsicht tatsächlich gerechter als der Status quo – allerdings läuft das dem BGE immanente Gerechtigkeitsverständnis so grundsätzlich gegen common sense- Gerechtigkeitsvorstellungen, dass eine politische Umsetzbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz zumindest gegenwärtig stark angezweifelt werden können.
1.1 Das bedingungslose Grundeinkommen: Definition
Die internationale Debatte um das BGE, wie sie heute stattfindet, bezieht ihren Input maßgeblich von dem belgischen Philosophen und Ökonomen Phillipe Van Parijs.
1986 gründete er das Basic Income European Network (BIEN), 2004 umbenannt in Basic Income Earth Network, das die weltweit größte Vereinigung von Grundeinkommensbefürwortern darstellt. BIEN definiert den ´Unconditional Basic Income` (UBI = BGE) als ein Einkommen, das eine politische Gemeinschaft auf individueller Ebene an alle ihre Mitglieder zahlt, ohne dass damit ein Arbeitszwang oder eine Bedürftigkeitsprüfung (´means test`) verbunden ist. Im Idealfall reicht das BGE zur Existenzsicherung, ist also hoch genug, um ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.[7]
Zwar bieten mittlerweile die meisten europäischen Wohlfahrtsstaaten eine Grundsicherung (s. Kapitel 2.3).
Allerdings werden die derzeitigen Mindesteinkommensschemata typischerweise an drei Bedingungen geknüpft: Erstens muss die Person generell jede ihr angebotene Arbeit annehmen bzw. sich Weiterbildungsmaßnahmen unterziehen, zweitens muss sie einen ´Means Test` bestehen, muss also ihre Bedürftigkeit und somit ihren Anspruch auf Grundsicherung nachweisen. Zusätzlich ist die Größe und die Zusammensetzung des Haushalts entscheidend für die Höhe der Grundsicherung.[8]
Ein BGE, dass unabhängig von diesen Bedingungen gezahlt wird, entkoppelt die Parameter Arbeit und Einkommen voneinander. Dieses ist von zentraler Wichtigkeit für Grundeinkommensbefürworter, die mehrheitlich der Meinung sind, Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitisches Ziel sei in spätkapitalistischen Systemen nicht mehr zu erreichen.[9] „Angesichts der Dynamik der Produktivitätsentwicklung erscheint die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung für die Gesellschaft illusionär und die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit wird nicht mehr nur als zeitlich begrenztes Übergangsphänomen empfunden. [...] Es kommt hinzu, dass mittlerweile ein relevanter Teil der Lohnabhängigen allein vom Lohn für die eingesetzte Arbeitskraft nicht mehr existieren kann.“[10] Folgt man dieser These, muss davon ausgegangen werden, dass sich gar nicht mehr jeder aus eigener Kraft versorgen kann, selbst wenn die Bereitschaft zur Arbeit da ist. Zusätzlich verarmen selbst Berufstätige, zum Großteil jene, die auf Grund geringer Produktivität im Niedriglohnsektor beschäftigt sind.[11] „Working poor“ werden diese Personen genannt.
Ein BGE soll nun dabei helfen, diese zwei der drängendsten Probleme gegenwärtiger Wirtschafts- und Sozialpolitik zu lösen, nämlich Arbeitslosigkeit und Armut.
Zunächst verliert Arbeitslosigkeit an Schrecken, da eine verlässliche Einnahmequelle offeriert wird. Der Arbeitnehmer bekommt die Möglichkeit, Arbeit anzunehmen, für die im derzeitigen System aufgrund fehlender Rentabilität keine Nachfrage besteht, da er für einen geringeren Lohn arbeiten kann. Auf der anderen Seite ist er nicht mehr gezwungen, einen schlecht bezahlten Job mit schlechten Arbeitsbedingungen anzunehmen; in diesem Fall wirkt das BGE wie eine Arbeitnehmersubvention. Zudem sind Auszeiten zwischen zwei Jobs, beispielsweise für Weiterbildungszwecke genutzt, möglich.[12]
Des Weiteren senkt ein regelmäßig auf individueller Ebene ausgezahltes BGE die Abhängigkeit der Frau. Das derzeitige Sozialsystem ist noch stark lohnarbeitszentriert und auf den Mann als Allein- bzw. Hauptversorger zugeschnitten. Die immer noch vorherrschende Aufgabenteilung der Geschlechter und erziehungsbedingte Auszeiten, die Frauen im Gegensatz zu Männern überproportional häufig und lange nehmen, führen dazu, dass sich die Partizipation auf dem Arbeitsmarkt geschlechterabhängig höchst unterschiedlich darstellt. Die Abhängigkeit von (Ehe-)Männern, sei es, weil kein oder zu wenig eigenes Gehalt verdient wird, sowie geringere Rentenansprüche erworben werden, kann durch ein individuell gezahltes BGE stark gemindert werden.
Diese Ziele, die Befürworter eines BGEs durch die Einführung eines ebensolchen zu erreichen suchen, haben mit Freiheit, Menschenwürde, Teilhabe und Gleichberechtigung zu tun, somit streifen sie alle das Feld der sozialen Gerechtigkeit. Bevor dieses jedoch ausführlicher analysiert wird, wird ein kurzer historischer Überblick die Geschichte der Grundeinkommensidee skizzieren. Dieser wird verdeutlichen, welche Dimensionen von sozialer Gerechtigkeit zur Entwicklung des Modells „Bedingungsloses Grundeinkommen“ beigetragen haben.
1.2 Geschichtsexkurs: Das Grundeinkommen und seine Vorläufer
Es ist nicht eindeutig, wie weit die Geschichte des Grundeinkommens zurückreicht. Der Sozialwissenschafter Manfred Füllsack geht bis ins 16. Jahrhundert zurück, er erwähnt Juan Luis Vives (1492-1540) als den Ersten, der ein Modell für ein staatliches Mindesteinkommen für alle, nicht nur die Armen, vorlegte. Allerdings war der Arbeitswille noch Voraussetzung. Vives Konzept basiert auf dem Gedanken, dass Reichtum, der auf der Aneignung von natürlichen Ressourcen basiert, nicht einzelnen Individuen zuteil werden darf, sondern als Allgemeingut aufgefasst werden und eine Teilhabe aller impliziert.[13]
Dieser Gedanke findet sich in Thomas Paines über 200 Jahre später erschienenen Werk „Agrarian Justice“[14] wieder. Landbesitz sei eigentlich nicht zulässig, sondern ein gesamtgesellschaftliches Gut. Da aber Landbesitzer nicht Schuld an ihren Landbesitz seien, solle in Form einer Erbschaftssteuer der Landbesitz besteuert werden. Ausgeweitet wird dieses Konzept durch eine allgemeine Besitzsteuer, deren Legitimität durch den „effect of society“ begründet wird. Es ließe sich als Individuum kein Mehrwert in dem Maße anhäufen, wie es in einer kapitalistischen Gesellschaft durch Rationalisierung etc. möglich sei, daher solle ein Teil des Gewinns an die Gesellschaft zurückgezahlt werden. Dieses Konzept der Umverteilung beruht auf der Vorstellung, dass es unverdient ist, in welche Verhältnisse eine Person hineingeboren wird und welche Talente sie besitzt. Paine richtet sich ausdrücklich nicht gegen den Reichtum der Wohlhabenden, sondern allein gegen die Armut der Armen.[15]
1848 argumentierte Joseph Charlier für eine unbedingte Territorialdividende, die jeder Bürger erhalten sollte. In der Tradition von Thomas Paine begründete Charlier sein Modell mit einem Kompensationsgedanken für die Armen, die aufgrund fehlender Ressourcen schlechtere Startchancen hätten, Eigentum zu akkumulieren. Etwa zeitgleich äußerte sich auch John Stuart Mill zu sozialen Kompensationsmodellen. In seinem Werk „Principles of Political Economy“ (1848) schreibt er: ”In the distribution, a certain minimum is first assigned for the subsistence of every member of the community whether capable or not of labour.”[16]
Das erste Grundeinkommensschema, das beinahe in die Praxis umgesetzt worden wäre, stammt von dem schottischen Wirtschaftstheoretiker Major Clifford H. Douglas (1879-1952).[17] In den Dreißiger Jahren zu Zeiten der weltweiten Depression konnte er den kanadischen Politiker und Baptisten William Aberhart für seine Idee einer Sozialdividende gewinnen, die eine Kompensation für den entgangenen Anteil am gemeinsamen kulturellen Erbe darstellen sollte. Das Versprechen von 25 Dollar monatlich verschaffte Aberhart den Wahlsieg bei lokalen Wahlen in Alberta (1935), gestoppt wurde das bis dahin einzigartige Vorhaben zwei Jahre später von der Föderationsregierung.
Dieses Modell offenbart eine Weiterentwicklung von (Land-)Besitz als Motiv für eine Umverteilung zu einer Kompensation zu Gunsten von kultureller Teilhabe, die auf einer Anerkennung des Produktionsmittels Wissen beruht.[18]
Das weltweit erste Grundeinkommensschema, das verwirklicht worden ist, jedoch ebenso wie die von Douglas propagierte Sozialdividende von 25 Dollar nicht annähernd existenzsichernd ist, ist der 1977 in Alaska eingeführte Alaska Permanent Fund, der eine jährliche unbedingte Dividende auf staatliche Ölvorkommen an jeden ständigen Einwohner zahlt.
Ein viel diskutierte Idee veröffentlichte Milton Friedman 1962 in seinem Werk „Capitalism and Freedom“ (dt.: „Kapitalismus und Freiheit“[19] ), eine Negative Einkommensteuer (Negative Income Tax: NIT) sollte die Steuerschuld ab einem festgelegten Minimaleinkommen negativ machen, so dass Personen mit geringem (oder ohne) Verdienst nicht nur keine Steuern zu zahlen hätten, sondern ihnen eine negative Steuer, d.h. ein Geldbetrag zur Aufstockung ihres Einkommens bis zum festgelegten Minimaleinkommenslimit, zustünde. Es erinnert sehr stark an das Modell eines BGEs, da dieses Modell ebenfalls einen Einkommensbetrag als unkonditionale Grundsicherung festsetzt, und Einkommen, die nicht an dessen Höhe heranreichen, durch Steuerrückzahlung angleicht. Ist dieses Modell zwar in seiner Ausführung sehr einfach, hat es jedoch zwei große Nachteile gegenüber einem BGE. Zunächst wird eine NIT erst rückwirkend nach Ende eines Steuerjahres bezahlt, erfüllt also keinesfalls die Funktion eines Auffangnetzes und kann akuten monetären Engpässen nicht entgegenwirken. Außerdem wird der Emanzipationseffekt der Haushaltsmitglieder aufgehoben, da eine NIT auf Haushaltsebene abgerechnet wird.[20]
2. Soziale Gerechtigkeit und Policyinstrumente
In einem System wie dem Kapitalismus, der zu Gunsten von erhöhter Effektivität und Produktivität in Kauf nimmt, dass einige Menschen ökonomische Unsicherheit bis hin zu Armut erleiden, erscheint ein gewisses Maß an Umverteilung gerecht.[21] Doch in welchem Maße und auf welchem Weg Umverteilung legitim ist, dazu sollen Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit vorgestellt werden. Auf Basis der Theorien soll einerseits geklärt werden, ob die derzeitige soziale Sicherung in Deutschland gerecht ist und andererseits, ob diese Theorien unter Gerechtigkeits-gesichtspunkten ein BGE rechtfertigen. Zudem werden die Gerechtigkeits-vorstellungen, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ergeben und somit maßgeblich für bundesdeutsche Sozialpolitik sind, vorgestellt und mit beiden Systemen sozialer Sicherung verglichen.
Da ein BGE im Falle seiner Einführung eine Grundsicherung darstellen würde, beschränke ich mich bei meiner Analyse der derzeitigen sozialen Sicherung auf das ALG II,[22] das die heutige Grundsicherung darstellt. Dass das BGE auch weitere Sozialposten wie Rente, BAföG und Kindergeld überflüssig machen kann,[23] wird zwar beachtet und im Weiteren als Vorteil für ein BGE gewertet,[24] allerdings sollen diese Sozialposten nicht im Mittelpunkt der Untersuchung des derzeitigen Sicherungssystems stehen.
2.1 Politikphilosophischer Exkurs: Wie definiert sich soziale Gerechtigkeit?
Im Folgenden werden zwei Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit aus der Tradition des Liberalismus vorgestellt, da es nur der philosophische Liberalismus vermag, eine gerechtigkeitstheoretische Sozialstaats-begründung zu liefern.[25]
Den Anfang macht John Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness. „A Theory of Justice“ (dt.: „Eine Theorie der Gerechtigkeit“[26] ) gilt als das bedeutendste Werk zeitgenössischer Gerechtigkeitsphilosophie und stellt die Abkehr von den utilitaristischen Theorien Benthams und Mills des 19. Jahrhunderts dar. Im Gegensatz zu den Utilitaristen, welche die moralische Qualität einer Handlung abhängig machen von der Qualität ihrer Folgen, befürwortet Rawls einen inputorientierten Egalitarismus, der den Rechten des Benachteiligtesten immer den Vorrang vor absoluter Nutzenmaximierung gibt, und diese durch grundlegende Verteilungsprinzipien zu wahren sucht.
Selbst Robert Nozick, der mit seiner libertären Theorie zum absoluten Schutz des Eigentums als einer der schärfsten Kritiker Rawls gilt, vertritt die Überzeugung, dass es zumindest einer Auseinandersetzung mit dessen Theoriekonstrukt bedarf, um eine eigene Theorie zu rechtfertigen.[27]
In „Real Freedom for All“[28] bedient sich Van Parijs des Rawlsschen Konstrukts, um ein BGE zu begründen.[29]
Auch Ronald Dworkin setzt sich mit Rawls auseinander. Seine Theorie der Ressourcengleichheit ist ein sockelegalitäres Theoriekonstrukt, welches sich dadurch auszeichnet, dass es eine Schwäche von Rawls Gerechtigkeit als Fairness, nämlich die mangelnde Unterscheidung zwischen selbstverschuldeten und unverdienten Ungleichheiten, zu beheben versucht. Daher wird seine Theorie als zweites vorgestellt.
Da ich anhand der Theorien von Rawls und Dworkin das bestehende System sozialer Sicherung sowie das BGE darauf prüfen möchte, ob sie sozial gerecht sind, setzt dies natürlich voraus, dass deren Theorien vertretbare Gerechtigkeitsvorstellungen entwickeln. Eine Bewertung der Theorien wird in Kapitel 2.1.3 vorgenommen.
2.1.1 Rawls: Gerechtigkeit durch Fairness
Rawls Theorie gehört zu den Vertragstheorien. Das Konfliktszenario, mit welchem er sich beschäftigt, behandelt Verteilungskonflikte in einer kooperativen Gesellschaft. Diese Kooperation beschränkt sich nicht auf ökonomische Zusammenarbeit, sondern ist vielmehr als sozialtheoretischer Grundbegriff zu betrachten. Somit sind nicht nur ökonomische Ressourcen, sondern auch Rechte, Freiheiten, Chancen und Selbstachtung Teil der Gerechtigkeitstheorie.[30]
Die Gerechtigkeitsprinzipien, die Rawls entwickelt, beruhen auf dem rationalem Selbstinteresse der Individuen. Dazu führt er einen fiktiven Urzustand herbei, der auf einer fairen Ausgangssituation beruht, in der sich die Menschen auf die Verfassungsprinzipien ihrer Gesellschaft verständigen müssen. Um diese faire Situation zu erzeugen, stattet Rawls die Menschen in seinem Urzustand mit einem „veil of ignorance“ („Schleier der Unwissenheit“[31] ) aus. Dieser „ist genauso dicht, dass er alles diskriminierungsrelevante Wissen der eigenen Interessenkalkulation entzieht, so dass auf ihrer Grundlage nie für ein Verteilungsprinzip argumentiert werden kann, das den eigenen Vorteil zu Lasten anderer sichert.“[32] Rawls zieht den Schluss, dass sich die Individuen für sein Gerechtigkeitsmodell entscheiden, da sie davon ausgehen müssen, dass sie in der neuen Gesellschaft die Rolle der benachteiligtesten Person innehaben werden. Die verfolgte Strategie der auf Basis von rationalem Selbstinteresse handelnden Menschen ist daher eine Maximin-Strategie, sie stellt sicher, dass „you maximize what you would get if you wound up in the minimum, or worst-off, position“.[33]
Dieses Modell vereint zwei Grundsätze der Gerechtigkeit, die einer lexikalischen Ordnung unterworfen sind, d.h., das erste geht dem zweiten voraus. So darf die Verbesserung wirtschaftlicher Verhältnisse nicht auf Kosten der Einschränkung von Grundfreiheiten erfolgen:[34]
1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass
a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und
b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“[35]
Das erste Prinzip ist das Freiheitsprinzip, es stellt Gerechtigkeit auf rechtlich-politischer Ebene her.
[...]
[1] Vgl. BMJS 2005, S. XXV
[2] zitiert nach Junker 2007
[3] zitiert nach Kaufmann 2007
[4] Blüm 2007
[5] Beck 2007
[6] Rifkin 2005
[7] vgl. BIEN 2007
[8] vgl. Van Parijs 1992
[9] vgl. z.B. Beck 2006
[10] Bischoff 2007, S. 19
[11] vgl. Groot 2006, S. 2
[12] Vgl. Van Parijs 2004, S. 19
[13] vgl. Füllsack 2002, S. 103
[14] Paine 1798
[15] vgl. Füllsack 2002, S. 105
[16] zitiert nach Van Parijs 2004, S. 13
[17] vgl. Burkitt, Hutchinson 1994
[18] vgl. Füllsack 2002, S. 106f
[19] Friedman 1971
[20] vgl. Van Parijs 2004, S. 15f
[21] vgl. Zelleke 2005, S. 4
[22] Die drei weiteren Grundsicherungen GruSi, Sozialgeld und Sozialhilfe werden vorgestellt, sollen jedoch nicht im Fokus der Betrachtung stehen. (vgl. dazu Kapitel 2.3)
[23] das hängt von seiner konkreten Ausgestaltung ab
[24] vgl. Kapitel 3.2.1
[25] “Ein sorgfältiges Abwägen ist nötig, um die unterschiedlichen Ansprüche unserer moralischen Basisprinzipien auszubalancieren und dem Begriff der Verteilungsgerechtigkeit einen festen Halt im vielsträngigen Dimensionsgeflecht der grundlegenden moralischen Wertperspektiven unseres ethisch-kulturellen Selbstverständnisses zu geben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nur im Rahmen des philosophischen Liberalismus Theorien der Verteilungsgerechtigkeit entwickelt worden sind. Denn nur der philosophische Liberalismus ist aufgrund seiner konstruktivistischen Erkenntnistheorie in der Lage, diese Herausforderung anzunehmen und eine gerechtigkeitstheoretische Sozialstaatsbegründung zu entwerfen.“ (Kersting 2000, S. 2)
[26] Rawls 1979
[27] vgl. Nozick 1976, S. 171
[28] vgl. Van Parijs 1995
[29] vgl. Anmerkung 45 sowie Kapitel 2.4
[30] vgl. Rawls. 1979, S. 112
[31] Rawls 1979, S. 159f
[32] Kersting 2001, S. 44
[33] Kymlicka 1990, S. 65
[34] vgl. Kühn 1984, S. 23
[35] Rawls 1979, S. 81
- Arbeit zitieren
- Lisa Högden (Autor:in), 2007, Soziale Gerechtigkeit durch bedingungsloses Grundeinkommen?, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/88150