Nach einschneidenden Geschichtsdebatten in den 80er und 90er Jahren, die insbesondere auf den Holocaust rekurrierten, scheint sich seit Anfang des neuen Jahrtausends der Fokus der Erinnerung weg von den Deutschen als Täter, hin zu den Deutschen als Opfer zu verschieben. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat diese Entwicklung als "eine neue Welle" bezeichnet, die "mit Günter Grass und seiner Novelle über den Untergang der ‚Wilhelm Gustloff’" begonnen habe; die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschreibt den gegenwärtigen, öffentlichen Umgang mit der deutschen Geschichte als "Umcodierung der deutschen Erinnerungskultur – hin zur Thematisierung des eigenen Leids". Diese Ausgangsbeobachtungen werfen die Frage auf, welche qualitativen Veränderungen der deutschen Erinnerungskultur sich nachzeichnen lassen und welche spezifische Rolle Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang als literarischem Beitrag im öffentlichen Diskurs um die deutsche Vergangenheit zugewiesen werden kann.
These dieser Arbeit ist es, dass in Günter Grass’ Novelle neben ihrem eigentlichen historischen Gegenstand des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ tatsächlich diverse gedächtnistheoretische, geschichtspolitische und medientheoretische Reflexionen angelegt sind, die die Novelle im Zusammenspiel mit den diskursiven Rezeptionsmechanismen der modernen Massenmedien zu einem Katalysator für die Revitalisierung eines deutschen "Opfergedächtnisses" innerhalb der größeren Dynamiken der deutschen Erinnerungskultur gemacht haben. Die Novelle Im Krebsgang kann demnach sowohl als ein Indikator, aber auch als ein Faktor der deutschen Erinnerungskultur interpretiert werden.
Daher gilt es, die Novelle auf Prozesse der intergenerationellen Geschichts- und Gedächtnisvermittlung, die geschichtspolitischen und ereignisgeschichtlichen Umbrüche sowie den medientechnologischen Wandel hin zu analysieren und darüber hinaus den Diskurs um die Novelle und die anschließenden Publikationen in die größeren Transformationsprozesse der deutschen Erinnerungskultur einzuordnen. Vor diesem Hintergrund kann letztlich das Problemfeld angedeutet werden, inwiefern die Literatur und die Geschichtswissenschaft sich als widerstreitende Instanzen im Kampf um das kulturelle Gedächtnis gegenseitig reglementieren und ergänzen, während sie sich beide der Gefahr gegenüber sehen, dass sich die „Kriege der Erinnerung“ in einem unübersichtlichen Meer von unkritisch privatisierten und fiktionalisierten Geschichtsbildern auflösen.
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG
- I. BUNDESREPUBLIKANISCHE ERINNERUNGSKULTUR UND GESCHICHTSDEBATTEN SEIT 1945
- A. ,,ERINNERUNGSKULTUR“ UND „KULTURELLES GEDÄCHTNIS“
- i. Nietzsche, Halbwachs, Freud - Drei Gedächtniskonzepte..
- ii. Jan Assmann: Das,, kulturelle Gedächtnis“.
- B. IM,,TÄTERGEDÄCHTNIS“ DER DEUTSCHEN ERINNERUNGSKULTUR
- i. Die,, Unfähigkeit zu trauern“ nach 1945...
- ii. Kritik der 60er Jahre.
- iii. Eine Frage der Erinnerung - die 80er und 90er Jahre.
- A. ,,ERINNERUNGSKULTUR“ UND „KULTURELLES GEDÄCHTNIS“
- II. GÜNTER GRASS' NOVELLE IM KREBSGANG ALS DISKURSIVER BEITRAG ZU EINEM „DEUTSCHEN OPFERGEDÄCHTNIS“
- A. IM KREBSGANG ALS INDIKATOR
- i. Geschichte und Gedächtnis - Drei Generationen...
- ii. Geschichte und Politik -,,Drittes Reich\", DDR und Bundesrepublik.
- iii. Geschichte und (Neue) Medien - Orale und totale Medien.
- B. IM KREBSGANG ALS FAKTOR
- i. „Befreiender Tabubruch“ - Rezeption und Zirkulation der Novelle Im Krebsgang
- ii. „Das Thema war lange reif“ – Der Wiederbelebung des Diskurses um „Die Deutschen als Opfer\"..
- A. IM KREBSGANG ALS INDIKATOR
- III. KAMPF UM DAS KULTURELLE GEDÄCHTNIS..
- A. WARUM ERST JETZT?“ – DEUTSCHE ERINNERUNGSKULTUR IM UMBRUCH...
- i. Historische Transformationsprozesse im weltpolitischen Kontext...
- ii. ,,Mediatisierung des Gedächtnisses\" - die Stunde der Zeitzeugen..
- B. GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND LITERATUR - FAKTEN UND FIKTIONEN DES KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNISSES..
- A. WARUM ERST JETZT?“ – DEUTSCHE ERINNERUNGSKULTUR IM UMBRUCH...
- SCHLUSSBETRACHTUNG
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Veränderungen in der deutschen Erinnerungskultur nach 1945 und analysiert die Rolle, die Günter Grass' Novelle „Im Krebsgang“ in diesem Zusammenhang spielt.
- Entwicklung des „Tätergedächtnis“ der deutschen Erinnerungskultur
- Diskurs um die Deutschen als Opfer
- Bedeutung von Medien im Umgang mit der Vergangenheit
- Verflechtung von Geschichtswissenschaft und Literatur
- „Im Krebsgang“ als Indikator und Faktor für die deutsche Erinnerungskultur
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel I bietet einen theoretischen und historischen Rahmen für die Analyse von Günter Grass' Novelle „Im Krebsgang“. Es werden verschiedene Gedächtniskonzepte vorgestellt, die die Entwicklung des Begriffs „kulturelles Gedächtnis“ im 20. Jahrhundert beleuchten. Anschließend wird die Entwicklung der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur nachgezeichnet, wobei die Fokusverschiebung vom „Tätergedächtnis“ hin zum „Opfergedächtnis“ im Mittelpunkt steht.
Kapitel II analysiert „Im Krebsgang“ als einen Beitrag zum Diskurs um die deutsche Opferrolle. Die Novelle wird als Indikator für die Veränderungen in der Erinnerungskultur sowie als Faktor für die Revitalisierung des „Opfergedächtnisses“ interpretiert. Die Rezeption und Zirkulation der Novelle im Kontext der modernen Massenmedien wird in diesem Zusammenhang untersucht.
Kapitel III beleuchtet die Zusammenhänge zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur und die Rolle des „kollektiven Gedächtnisses“ in diesem Kontext. Die Arbeit stellt die Frage, warum die Thematisierung des deutschen Leids erst in jüngster Zeit im öffentlichen Diskurs eine so bedeutende Rolle spielt. Die „Mediatisierung des Gedächtnisses“ und die Stunde der Zeitzeugen werden dabei als zentrale Aspekte des gegenwärtigen Umgangs mit der Vergangenheit betrachtet.
Schlüsselwörter
Deutsche Erinnerungskultur, „Tätergedächtnis“, „Opfergedächtnis“, Geschichtsdebatten, Günter Grass, „Im Krebsgang“, Kulturelles Gedächtnis, Mediatisierung, Geschichtswissenschaft, Literatur.
- Arbeit zitieren
- Sebastian Brünger (Autor:in), 2006, Kriege der Erinnerung - Deutsche Erinnerungskultur zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft anhand Günter Grass’ Novelle "Im Krebsgang", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/83307