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Seminararbeit, 2001
20 Seiten, Note: sehr gut
0. Einleitung
1. Funktionale Systeme: Parsons’ Strukturfunktionalismus
1.1 Der Einfluss Durkheims
1.1.1 Soziologische Tatbestände und Kollektivbewusstsein
1.1.2 Internalisierung von Normen
1.2 Das System, die Struktur und der funktionale Mechanismus als Determinanten gesellschaftlicher Ordnung
1.2.1 Rollen
1.2.2 Sozialisation als Faktor der Selbsterhaltung von Systemen
1.3 Kritische Einwände
2. Symbolischer Interaktionismus
2.1 Methodische Voraussetzungen
2.2 Wahrnehmung, Symbole und Geist
2.3 „I“ and „Me“ und das Hineinversetzten in den „generalisierten Anderen“
3. Fazit
Literaturangaben
Ausgehend von dem Vorverständnis, Sozialisation als „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“[1] zu begreifen, diskutiere und kritisiere ich zwei einflussreiche Theorien, die für die Entstehung dieses Vorverständnisses und Sozialisationstheorien von entscheidender Bedeutung waren:
1. In den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwarf Talcott Parsons in den USA den vor allem durch Emile Durkheims Werk beeinflussten strukturfunktionalistischen Ansatz.
2. Ebenfalls in den USA entstand etwa 1920 die sozialbehavioristische Theorie von Georg Herbert Mead, die später durch Herbert Blumer bekannt wurde.
Die Schlussfolgerungen der beiden Ansätze wurden zwar durch den jeweiligen gesellschaftlich-historischen Kontext, in dem sie gezogen wurden, beeinflusst. Ihre Fragestellungen jedoch gingen in ihrer Zeit nicht auf, sondern wiesen über sie hinaus. Sie leben sozusagen als Prinzipien fort.
Die Gegenüberstellung dieser beiden Theorien kann keinen umfassenden Überblick darüber geben, wie der Prozess der Sozialisation theoretisch zu fassen sein könnte, was im Rahmen einer Seminararbeit (selbst bei veränderter Themenstellung) in differenzierter Weise auch nicht möglich wäre.[2] Ziel dieser Arbeit ist es, zwei grundsätzliche, ehemals entgegengesetzte soziologische Hauptrichtungen mit ihren Stärken und Schwächen zu charakterisieren und Gründe für die Überwindung ihrer paradigmatischen Trennung, Modernisierung und Erweiterung aufzuzeigen.
Parsons (1902-1979) führt in seiner strukturfunktionalistischen Theorie weiter, was Emil Durkheim (1858-1917) gegen Ende des 19. Jahrhunderts begründete.
In der noch heute bedeutenden Arbeit Die Regeln der soziologischen Methode thematisiert Durkheim die Konstruktion gesellschaftlicher Ordnung.[3] Ebenso entscheidend wie die Problemstellung ist die Methode, die zu ihrer Bewältigung angewendet wird. Die soziologische Methode wird als eine von allen praktischen Doktrinen unabhängige vorgestellt, die gesellschaftliche Wirklichkeit beschreibt und nicht bewertet.
„Die [...] Soziologie wird weder individualistisch, noch kommunistisch, noch sozialistisch sein, wie man gewöhnlich diese Ausdrücke versteht. Sie wird diese Theorien, denen sie keinen wissenschaftlichen Wert zuerkennen kann, prinzipiell ignorieren, da sie nicht darauf gerichtet sind, die Tatsachen auszudrücken, sondern sie zu reformieren“.[4]
Durkheim geht über den Versuch hinaus, Objektivität und praktische Relevanz herzustellen, er will ahistorische gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten formulieren. Das wird besonders deutlich, wenn im zweiten Kapitel der Regeln die Rede davon ist, Vorstellungen und moralisch relevante Handlungen wie „Dinge“ zu analysieren.[5] Die methodischen Prinzipien positiver Wissenschaft sollen bei der empirischen Behandlung moralischer Akte Anwendung finden. „Die Perspektive des Handelnden, der notwendig wertet, sich entrüstet, sich freut etc., soll zwar vom Beobachter wissenschaftlich erfasst sein, darf jedoch nicht selbst zum Prinzip dieser Erfassung werden“.[6]
Die beiden zentralen Begriffe, die in den Regeln verwendet werden, lauten „ soziologische Tatbestände “ und „ Kollektivbewusstsein “. Die soziale oder gesellschaftliche Wirklichkeit fasst Durkheim unter dem Begriff „soziologische Tatbestände“ zusammen und meint damit
„jede mehr oder weniger festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereich einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“.[7]
Sein Konstrukt „Kollektivbewusstsein“ umfasst mehr als die Gesamtheit dieser „soziologischen Tatbestände“, die man auch als „allgemeine verpflichtende Normen“ bezeichnen könnte. Das Kollektivbewusstsein organisiert Regeln und Normen. So wie die „soziologischen Tatbestände“ vom Individuum unabhängig existieren, stellt auch das kollektive Sein „ein Wesen sui generis“ dar.[8] Alles Soziale geht von diesem autonomen Sein - dem Kollektivbewusstsein – aus, nicht vom einzelnen Menschen. Soziales ist deshalb nur durch Soziales erklärbar und nicht durch die Untersuchung individueller Erwartungen bzw. einzelner Psychen zu bestimmen.[9] Diese Perspektive Durkheims, weite Bereiche menschlichen Handels aus der Sozialität ableiten zu können, führte dazu, seine Theorie unter das „normative Paradigma“[10] zu subsumieren.
„Zweifellos kann keine kollektive Erscheinung entstehen, wenn kein Einzelbewusstsein vorhanden ist; doch ist diese notwendige Bedingung allein noch nicht ausreichend. Die einzelnen Psychen müssen noch assoziiert, kombiniert und in einer bestimmten Art kombiniert sein; das soziale Leben resultiert also aus dieser Kombination und kann nur aus ihr erklärt werden. Indem sie zusammentreten, sich durchdringen und verschmelzen, bringen die individuellen Psychen ein neues, wenn man will psychisches Wesen hervor, das jedoch eine psychische Individualität neuer Art darstellt. In der Natur dieser Individualität, nicht in jener der sie zusammensetzenden Einheiten müssen also die nächsten und bestimmenden Ursachen der Phänomene, die sich dort abspielen, gesucht werden. Die Gruppe denkt, fühlt und handelt ganz anders, als es ihre Glieder tun würden, wären sie isoliert“.[11]
Während er sich zu Recht vom Materialismus abgrenzt (der die Materie als einzige objektive Realität ansieht und in seiner Weiterentwicklung zum dialektischen Materialismus im 19. Jahrhundert den Begriff „Arbeit“ in den Mittelpunkt der Analyse rückt), wird gleichzeitig deutlich, dass die Wurzeln der Argumentation Durkheims im Idealismus liegen, denn den konstruierten Faktoren der sozialen Determination wird ein immaterieller Charakter zugeschrieben. Die innerhalb einer Gesellschaft herrschenden Normen und Regelungen (die sich in Sitten, Bräuchen, in religiösen und allgemeinen moralischen Anschauungen usw. ausdrücken) wirken zwar im individuellen Bewusstsein, haben dort aber nicht ihren Ursprung. Dem individuellen Handeln liegt sozusagen eine „soziale Grammatik“ zu Grunde, auf deren Regeln der Einzelne keinen Einfluss hat und denen er sich vor allem nicht entziehen kann, wenn er handelt.[12]
„Das Zeichensystem, dessen ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden bezahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. Das eben Gesagte kann für jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens wiederholt werden. Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie außerhalb des individuellen Bewusstseins existieren“.[13]
Durkheim sieht das Individuum nicht nur als normorientiert, sondern sogar als ein von Normen abhängiges Wesen an. Deshalb will er einen sozialen Faktor bezeichnen, der das Denken und damit auch das Handeln determiniert.
Aus dem Kollektivbewußtsein geht die Ausbildung, Aufrechterhaltung und Stabilisierung von Handlungsmustern hervor. Das Verhältnis von individuellem Bewusstsein und Kollektivbewußtsein wird als Spannungsfeld begriffen,
„innerhalb dessen die Wirkungen der vereinten Willenseinheiten und der von ihnen durchschnittlich akzeptierten Normen zweifellos als ‘von außen’ kommend empfunden werden, nämlich von einer ‘Autorität’, die sich aber einzig im Gewissen fühlbar machen kann und ihm die Motive für das Handeln der einzelnen Person bestimmt“.[14]
Die herrschenden Handlungsmuster üben auf das einzelne Gesellschaftsmitglied einen sozialen Zwang aus. Der Erziehung kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselstellung zu, denn sie wird zur Internalisierung dieses Zwangs instrumentalisiert:
„Betrachtet man die Tatsachen, wie sie sind und immer waren, so liegt es auf der Hand, dass die ganze Erziehung in einer ununterbrochenen Bemühung besteht, dem Kinde eine gewisse Art zu sehen, zu fühlen und zu handeln aufzuerlegen, zu der es spontan nicht gekommen wäre. Von Geburt an zwingen wir es, regelmäßig zu bestimmten Stunden zu essen, zu trinken und zu schlafen, zwingen es auch zur Reinlichkeit, zum Stillsein und Gehorsam. [...] Wenn mit der Zeit dieser Zwang nicht mehr empfunden wird, so geschieht dies deshalb, weil er nach und nach Gewohnheiten und innere Tendenzen zur Entstehung bringt, die ihn überflüssig machen; aber sie ersetzen ihn nur, weil sie ja von ihm herstammen [...] Man kann hier in einem verkleinerten Abbilde ersehen, wie das soziale Wesen in der Geschichte entsteht. Der immerwährende Druck, den das Kind erleidet, ist der Druck des sozialen Milieus selbst, das es nach dem Vorbilde zu formen strebt. Die Eltern und Lehrer sind nur die Stellvertreter und Vermittler des Milieus“.[15]
[...]
[1] Geulen/ Hurrelmann (1980), S. 51
[2] Überblicke und Einführungen geben z.B. Hurrelmann/Ulich (1980), Tillmann (2000) und Zimmermann (2000), auf die ich mich in dieser Arbeit auch zum Teil beziehe.
[3] Vgl. Durkheim (1976).
[4] Durkheim (1976); S. 219.
[5] Vgl. Durkheim (1976), S. 115ff.
[6] Braun/ Hahn (1973) S. 80.
[7] Durkheim (1976), S. 114.
[8] Vgl. Durkheim (1976), S. 203.
[9] Das Individualbewußtsein ist für Durkheim Gegenstand der Psychologie, die er von der Soziologie scharf abgegrenzt sieht.
[10] Der Paradigmenbegriff wurde aufschlußreich von Kuhn (1967) diskutiert. Er versteht unter einem Paradigma wissenschaftliche Modelle, „aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen“( S. 28). Zum Paradigmenbegriff vgl. auch Richter (2001), S.22-27.
[11] Durkheim (1976), S. 187-188.
[12] Von „sozialer Grammatik“ spreche ich, weil Durkheim in der Tat wie die frühen strukturalistischen Sprachwissenschaftler eine Dichotomie konstruiert: So wie F. De Saussure (in seinen grundlegenden Vorlesungen von 1906-1911) zwischen langue (dem überindividuellen Sprachsystem) und parole (dem konkreten Sprechereignis) unterscheidet, trennt Durkheim zwischen dem überindividuellen Wertesystem und der konkreten Handlung innerhalb dieses Wertesystems.
[13] Durkheim (1976), S. 105f.
[14] Durkheim (1976), S. 109.
[15] Vgl. Durkheim (1976), S. 108-109.