Im poststrukturalistischen Sinne ist die Wirklichkeit ein Konstrukt, das sich über einen dynamischen Prozess fortwährend neu konstituiert. Sie ist immer abhängig von dem jeweiligen Bedeutungskontext und der Bedeutung, die ihr zugewiesen wird. Diese Sichtweise der konstruierten Wirklichkeit erstreckt sich auch auf die Felder Geschlecht und Körper. Folglich sind auch diese Komponenten nicht Träger einer festen Bedeutung. Insbesondere Judith Butler hat diese Wahrnehmung von der konstruierten Geschlechteridentität etabliert. Sie betont den Konstruktcharakter der Geschlechtsidentität und ihre Abhängigkeit von den Diskursen der jeweiligen Kultur und Gesellschaft. Demnach ist Gender ein diskursives Produkt und muss immer im soziokulturellen Kontext gesehen werden. In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass auch in Shakespeares Dramen, hier am Beispiel der Tragödie Titus Andronicus 1 , der diskursive Charakter von Geschlechtsidentität zum Ausdruck kommt. Hierzu soll zunächst einmal der Ansatz Judith Butlers in Kapitel 2 zum besseren Verständnis näher erläutert werden. Daraufhin folgt in Kapitel 3 die Darstellung der Geschlechterdiskurse der Renaissance, die vor allem geprägt sind durch das so genannte Ein-Geschlecht-Modell. Kapitel 3.1 soll die Körperpolitik im Stück selbst aufzeigen, die spezifiziert wird in Kapitel 3.1.1 durch die Darlegung von der Korrelation zwischen weiblicher Sexualität und Macht. Dies soll an den beiden Frauenfiguren des Stücks festgemacht werden. Zum einen an Lavinia in Kapitel 3.1.1.1 und zum anderen an Tamora in Kapitel 3.1.1.2. Im Falle Lavinias ist deutlich zu erkennen, dass Identität über den Körper konstruiert wird und zwar in Abhängigkeit von der Unversehrtheit desselben. Es soll gezeigt werden, wie sich die Sicht auf Lavinia und ihre gesellschaftliche Position im Verlauf des Stücks wandelt und welche Rolle ihr Körper in diesem Kontext spielt. [...]
I N H A L T
1. Einleitung
2. Judith Butler: Diskursive Geschlechtsidentität
3. Geschlechterdiskurse der Renaissance
3.1 Körperpolitik in Shakespeares Titus Andronicus
3.1.1 Weibliche Sexualität und Macht
3.1.1.1 am Beispiel von Lavinia
3.1.1.2 am Beispiel von Tamora
3.1.2 „Racial Otherness“ – Aaron, der Mohr
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
Quelle:
Darstellungen:
1. Einleitung
Im poststrukturalistischen Sinne ist die Wirklichkeit ein Konstrukt, das sich über einen dynamischen Prozess fortwährend neu konstituiert. Sie ist immer abhängig von dem jeweiligen Bedeutungskontext und der Bedeutung, die ihr zugewiesen wird. Diese Sichtweise der konstruierten Wirklichkeit erstreckt sich auch auf die Felder Geschlecht und Körper. Folglich sind auch diese Komponenten nicht Träger einer festen Bedeutung. Insbesondere Judith Butler hat diese Wahrnehmung von der konstruierten Geschlechteridentität etabliert. Sie betont den Konstruktcharakter der Geschlechtsidentität und ihre Abhängigkeit von den Diskursen der jeweiligen Kultur und Gesellschaft. Demnach ist Gender ein diskursives Produkt und muss immer im soziokulturellen Kontext gesehen werden.
In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass auch in Shakespeares Dramen, hier am Beispiel der Tragödie Titus Andronicus[1], der diskursive Charakter von Geschlechtsidentität zum Ausdruck kommt. Hierzu soll zunächst einmal der Ansatz Judith Butlers in Kapitel 2 zum besseren Verständnis näher erläutert werden. Daraufhin folgt in Kapitel 3 die Darstellung der Geschlechterdiskurse der Renaissance, die vor allem geprägt sind durch das so genannte Ein-Geschlecht-Modell. Kapitel 3.1 soll die Körperpolitik im Stück selbst aufzeigen, die spezifiziert wird in Kapitel 3.1.1 durch die Darlegung von der Korrelation zwischen weiblicher Sexualität und Macht. Dies soll an den beiden Frauenfiguren des Stücks festgemacht werden. Zum einen an Lavinia in Kapitel 3.1.1.1 und zum anderen an Tamora in Kapitel 3.1.1.2. Im Falle Lavinias ist deutlich zu erkennen, dass Identität über den Körper konstruiert wird und zwar in Abhängigkeit von der Unversehrtheit desselben. Es soll gezeigt werden, wie sich die Sicht auf Lavinia und ihre gesellschaftliche Position im Verlauf des Stücks wandelt und welche Rolle ihr Körper in diesem Kontext spielt. Auch die
Darstellung Tamoras weist deutlich auf, inwieweit die weibliche Identität in Abhängigkeit zu den Geschlechterdiskursen (in diesem Fall die der Renaissance) steht. Kapitel 3.2 hingegen fokussiert eine männliche Identität, nämlich die Aarons. Auch er ist ein Beispiel, wie Identität über den Körper bzw. über Körperdiskurse geschaffen wird. In seinem Fall ist das Bild der Gesellschaft von ihm geprägt durch seine schwarze Hautfarbe, durch die er, in Anlehnung an die Rassendiskurse der Renaissance, per se als Bösewicht gilt.
Zudem soll auch der 1999 unter der Regie von Julie Taymor entstandene Film Titus in knapper Form mit in die Betrachtungen einfließen.
2. Judith Butler: Diskursive Geschlechtsidentität
Die amerikanische Philosophin Judith Butler und ihre einflussreichen Bücher Gender Trouble (1990) und Bodies that Matter (1993) provozieren eine neue Diskussion über Kategorien wie Geschlecht, Körper und Identität. Ausgehend von Simone de Beauvoirs These, dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht wird, dekonstruiert Butler gewohnte und etablierte Vorstellungen von Geschlechtsidentität. Ihr poststrukturalistischer Ansatz verweigert die Idee des Essentialismus, sprich die Vorstellung einer angeborenen und biologisch determinierten Geschlechteridentität: „She argues that the body should not be understood as a natural entity that is bound up in an irreducible tension with cultural norms and ideals. Instead […], the body ought to be understood as being this tension“ (Fisher 2001: 155). Es geht Butler vor allem darum, die „Formel ‚Biologie ist Schicksal’ anzufechten“ (Butler 1991: 22). Butlers Lesart von Geschlecht und Körper erkennt somit den Konstruktcharakter von Identität, die ein diskursives Produkt darstellt in Unabhängigkeit von der biologischen Disposition. Diese zu der binären Struktur von Geschlechterkategorien gegenläufige diskurstheoretische Perspektive des Subjekts entwirft ein Verständnis von Geschlechterrolle (oder Gender), welche sich in einem diskursiven Prozess konstituiert und damit niemals abgeschlossen ist. Dies „bedeutet, die kulturell intelligiblen Subjekte als Effekte eines regelgebundenen Diskurses zu begreifen, der sich in die durchgängigen und mundanen Bezeichnungsakte des sprachlichen Lebens einschreibt“ (Butler 1991: 212).
Nach Butler, die bei der Sprachphilosophie, nach der Sprache nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern erst schafft, ansetzt, entsteht Geschlechtsidentität nicht durch eine einmalige Bezeichnung, sondern erst durch den Diskurs darüber: „Die wiederkehrenden Serien von Diskursen bilden die Wirklichkeit nicht ab, sondern konstituieren sie“ (Borsò 2004: 148). Durch die immerwährende Veränderung des Diskurses und die Rekurrierung von
Diskursen auf andere (in Form von Erweiterung des Diskurses oder durch einen Gegendiskurs) ist auch die Geschlechtsidentität nicht in sich abgeschlossen. Butler spricht in diesem Kontext von Performanz (angelehnt an die Sprechakttheorie), so dass Identität
nicht außerhalb eines Prozesses der Wiederholbarkeit verstanden werden kann, außerhalb einer geregelten und restingierten Wiederholung von Normen. Und diese Wiederholung wird nicht von einem Subjekt performativ ausgeführt; diese Wiederholung ist das, was ein Subjekt ermöglicht und was die zeitliche Bedingtheit für das Subjekt konstituiert (Butler 1997: 139).
Folglich kann die Geschlechtsidentität als Wiederholung performativer Akte verstanden werden und ist nicht mehr abhängig vom Körper als Referent, sondern vielmehr ein kulturelles und sprachliches Produkt. Gender wird somit nicht gesehen „als das, was man ist, sondern das, was man tut“ (Culler 2002: 149), nämlich das wiederholte Zitieren von Geschlechternormen. Wichtig in diesem Kontext jedoch ist, „dass wir nie die Geschlechternormen oder Geschlechterideale ganz verkörpern, an die wir uns anzunähern gezwungen werden. In dieser Kluft, in den unterschiedlichen Varianten, den jeweiligen Geschlechter>auftrag< zu erfüllen, liegt die Möglichkeit des Widerstands und der Veränderung“ (Culler 2002: 151).
Auch wenn sich Gender über performative Handlungen konstituiert, heißt dies nicht, dass das Subjekt die Geschlechtsidentität selbständig wählt, denn „[i]m Rahmen des gegebenen Systems kann man keine Person sein, ohne zugleich entweder männlich oder weiblich zu sein“ (Culler 2002: 150), denn
[d]er Geschlechterdifferenz unterworfen, aber durch sie zugleich auch zum Subjekt gemacht, geht das >Ich< diesem Prozess der Geschlechterbildung weder voraus noch folgt es ihm nach, sondern entsteht nur innerhalb und als Matrix der Geschlechterbeziehungen selbst (Butler 1997: 8).
Mit dieser Sicht auf das Geschelcht dekonstruiert Butler gängige Vorstellungen von Geschlechterdifferenzen und verortet sie „gänzlich auf der Seite des Sozialen“ (Tischleder 2001: 25). Das Geschlecht konstituiert sich somit nie losgelöst von politischen und kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen und ist damit keine materielle Größe. Butler verweigert hierdurch nicht die Materialität des Körpers, denn sie erkennt natürlich, „dass Körper leben und sterben, essen und schlafen, Schmerz empfinden und Freude verspüren, Krankheit und Gewalt erleiden“ (Butler 1997: 15). Doch erst im diskursiven Rahmen (und einen Ort außerhalb des Diskurses gibt es nicht) werden diese Dinge erfahrbar und der „Prozess der Materialisierung“ (Butler 1997: 32) vollzieht sich. Der Diskurs erhält somit eine materialisierende Wirkung.
Butler betont wie gesagt, dass die Geschlechtsidentität nicht in Abhängigkeit zum biologischen Körper steht: „Die Begriffe Mann und männlich können dann ebenso einfach einen männlichen und einen weiblichen Körper bezeichnen wie umgekehrt die Kategorien Frau und weiblich“ (Butler 1991: 23). Butler verweigert hiermit die Annahme, den Körpers als „stumme Faktizität“ (Butler 1991: 191), also als vordiskursive Größe zu sehen, denn auch das biologische Geschlecht wird immer im Kontext der jeweiligen Kultur und Gesellschaft gesehen, so dass diese Wahrnehmung auch gleichzeitig immer kulturell und gesellschaftlich überprägt ist.
3. Geschlechterdiskurse der Renaissance
Die Wahrnehmung des männlichen und des weiblichen Körpers in der Renaissance ist vor allem geprägt durch das so genannte Ein-Geschlecht-Modell. Annahmen der damaligen Anatomie zufolge gibt es, „nicht anders als in der klassischen Antike, nur einen einzigen kanonischen Körper, und dieser war männlich“ (Laqueur 1990: 80). Ärzte und Wissenschaftler sehen in dem weiblichen Geschlechtsorgan lediglich die Umkehrung des männlichen, wonach die „Vagina […] ein Penis sei und der Uterus ein Scrotum“ (Laqueur 1990: 97). Hierin zeigt sich das „für das Ein-Geschlecht-Modell charakteristische[…] Insistieren auf dem Männlichen“ (Laqueur 1990: 83). Das Weibliche ist letztlich nur eine „Spielart des männlichen“ (Laqueur 1990: 88).
Hinter diesen medizinischen Annahmen verbirgt sich jedoch mehr. Sie sind Zeugnisse einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft, in der Frauen nicht als Subjekt, sondern vielmehr als Objekt wahrgenommen und behandelt werden. Die Frau ist dem Mann gesellschaftlich klar untergeordnet und steht in Abhängigkeit von seinem Willen. Die Medizin ist damit ein Spiegel der herrschenden Ideologie:
Die Geschichte der Anatomie während der Renaissance weist darauf hin, dass die anatomische Repräsentation von Mann und Frau nicht von der Evidenz von Organen, Kanälen oder Blutgefäßen abhängt, sondern von dem soziokulturell geprägten Umgang mit Repräsentation und Illusion (Laqueur 1990: 83),
denn „[d]ie Ideologie, nicht die Genauigkeit der Beobachtung, entschied darüber, wie man sie [die Organe] sah und auf welche Unterschiede es ankam“ (Laqueur 1990: 106).
Auch „[d]ie Sprache stand der Wahrnehmung von Gegensätzen entgegen und sorgte dafür, dass es beim männlichen Körper als der kanonischen Form des Menschen blieb“ (Laqueur 1990: 114).
Dies zeigt sich darin, dass es keine entsprechenden Fachtermini für die weiblichen Geschlechtsteile gibt. Die Bezeichnung ist äquivalent zu den Begriffen für die männlichen Geschlechtsorgane, wodurch „ein weibliches Organ in den metaphorischen Horizont des männlichen einbezogen wird“ (Laqueur 1990: 129). Der Frau wird im Zuge dessen jegliche „eigenständige Existenz und Subjektivität“ (Laqueur 1990: 132) abgesprochen. Sie ist eine minderwertige Form und Erscheinung des Männlichen und lediglich ein Abklatsch des männlichen Körpers. Diese Ideologisierung der Anatomie unterstützt die herrschenden kulturellen Geschlechterdiskurse der Zeit. Die Unterdrückung der Frau und ihre Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht werden zum Ausdruck gebracht. Es zeigt sich hier auch, ganz im Sinne Butlers, dass die Geschlechteridentität ein diskursives Produkt ist und in Abhängigkeit von den soziokulturellen Bedingungen und Diskursen steht.
Es kommt deutlich zum Ausdruck, dass Geschlechterdiskurse nicht nur die Komponenten Körper und Subjekt in sich vereinen, sondern (ganz im Sinne Foucaults) überdies auch den Aspekt der Macht. Derartige Diskurse sind folglich immer ein Spiegel herrschender Machtverhältnisse beziehungsweise gleichzeitig ein Ort der Machtausübung, an dem Machtkonstellationen geschaffen werden. Somit können Diskurse Machtverhältnisse unterstützen, sie gleichzeitig aber auch destabilisieren.
3.1 Körperpolitik in Shakespeares Titus Andronicus
Die vorherigen Ausführungen zeigen deutlich, dass die Sichtweise auf die Geschlechter und auf den Körper und ihre Konstruktion immer in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Diskursen steht, so dass „the fascinating about organs is that they are the same now as in the Renaissance, but their meanings are different“ (Callaghan 2001: 68). Es zeigt sich, dass die Bedeutung des Körpers keine konstante Größe ist, sondern dass ihm Bedeutung zugeschrieben wird.
Ähnlich wie die Anatomie ist auch Shakespeares Tragödie Titus Andronicus ein Abbild der Geschlechter- und Körperdiskurse der Renaissance und vor allem aber auch ein Zeugnis für die oben benannte Korrelation von Diskursen und Macht. Im Folgenden soll daher die Verbindung von weiblicher Sexualität und Macht in Bezug auf das Stück näher erläutert werden.
[...]
[1] Shakespeares erste Tragödie, die 1594 uraufgeführt wurde. Alle Zitate aus dem Stück werden im Folgenden durch die Angabe von Seiten- und Verszahl genannt.
- Quote paper
- Christine Schlünder (Author), 2006, (De)Konstruktion von Körper und Geschlecht in Shakespeare's Titus Andronicus, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/70136