Könnten die Deutschen im Angesicht ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit Patrioten sein und wenn ja, welche? In wohl kaum einem anderen europäischen Land wird die Frage nach der nationalen Identität so kontrovers diskutiert wie in Deutschland. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland debattieren sowohl politische Philosophen als auch Politiker darüber, welcher der "richtige" Patriotismus für Deutschland sei. Ein zentraler Streitpunkt ist dabei die Idee des Verfassungspatriotismus.
Der Begriff "Verfassungspatriotismus" wurde Ende der 1970 Jahre von Dolf Sternberger als Antwort auf das Identifikationsproblem der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt und später von Jürgen Habermas weiterentwickelt. Verstanden wird unter Verfassungspatriotismus eine politische Loyalität, die sich nicht auf die Nation bezieht, sondern universalistischen Prinzipien, die in einer Demokratie normalerweise in der Verfassung verankert sind, entgegengebracht wird. Von Kritiker wird dem Verfassungspatriotismus immer wieder vorgeworfen, dass es sich dabei um ein rein rationales und zu komplexes Konstrukt handelt, welches die Art und Weise, wie die Bürger fühlen, vollkommen außer Acht lasse. Die Idee des Verfassungspatriotismus sei weltfremd und Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnete sie als einen "blassen Seminargedanken".
Es stellt sich nun die Frage, ob die Kritiker des Verfassungspatriotismus recht haben mit ihren Vorwürfen oder aber, ob Verfassungspatriotismus dem Anspruch, eine praktisch-philosophische Theorie zu sein, gerecht wird. Sind verfassungspatriotische Einstellungen eine Utopie oder aber können die Deutschen wirklich Verfassungspatrioten sein? Denn in der Debatte um den "richtigen" Patriotismus gilt es nicht nur zu klären, welche patriotischen Einstellungen normativ wünschenswert sind, sondern auch, welche Art von Patriotismus die Bürger überhaupt empfinden können. Daher wird im Rahmen dieser Arbeit die Umsetzbarkeit der Idee des Verfassungspatriotismus überprüft und der Frage nachgegangen, warum die Deutschen Verfassungspatrioten sein sollten und ob sie auch verfassungspatriotische Einstellungen haben können.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlage: Sollten die deutschen Bürger Verfassungspatrioten sein? Verfassungspatriotismus nach Müller
3 Verfassungspatriotismus als Einstellung: Können die deutschen Bürger Verfassungspatrioten sein?
3.1 Definition des Einstellungsbegriffs
3.2 Erwerb stabiler Einstellungen
4 Sind die deutschen Bürger Verfassungspatrioten? Ideale Operationalisierung von verfassungspatriotischen Einstellungen
4.1 Voraussetzung für einen systematischen Erwerb verfassungspatriotischer Einstellungen
4.2 Systematischer Einstellungserwerb von verfassungspatriotischen Einstellungen
4.3 Kognitive Überzeugungen als Gründe für eine verfassungspatriotische Einstellung
4.4 Verfassungspatriotismus als affektive Bindung an universalistische Werte
4.5 Handlungen
5 Fazit
1 Einleitung
Könnten die Deutschen im Angesicht ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit Patrioten sein und wenn ja welche? In wohl kaum einem anderen europäischen Land wird die Frage nach der nationalen Identität so kontrovers diskutiert wie in Deutschland. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) debattieren sowohl politische Philosophen als auch Politiker darüber, welcher der „richtige“ Patriotismus für Deutschland sei. Ein zentraler Streitpunkt ist dabei die Idee des Verfassungspatriotismus (Kronenberger 2013: 182).
Der Begriff „Verfassungspatriotismus“ wurde Ende der 1970 Jahre von Dolf Sternberger als Antwort auf das Identifikationsproblem der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg geprägt1 und später von Jürgen Habermas weiterentwickelt. Verstanden wird unter Verfassungspatriotismus eine politische Loyalität, die sich nicht auf die Nation bezieht, sondern universalistischen Prinzipien, die in einer Demokratie normalerweise in der Verfassung verankert sind, entgegengebracht wird (Müller 2010: 9f.). Von Kritiker wird dem Verfassungspatriotismus immer wieder vorgeworfen, dass es sich dabei um ein rein rationales und zu komplexes Konstrukt handelt, welches die Art und Weise, wie die Bürger fühlen, vollkommen außer Acht lasse. Die Idee des Verfassungspatriotismus sei weltfremd und Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnete sie als einen „blassen Seminargedanken“ (Müller 2010: 14). Es stellt sich nun die Frage, ob die Kritiker des Verfassungspatriotismus Recht haben mit ihren Vorwürfen, oder aber ob Verfassungspatriotismus dem Anspruch, eine praktisch-philosophische Theorie zu sein, gerecht wird. Sind verfassungspatriotische Einstellungen eine Utopie oder aber können die Deutschen wirklich Verfassungspatrioten sein? Denn in der Debatte um den „richtigen“ Patriotismus gilt es nicht nur zu klären, welche patriotischen Einstellungen normativ wünschenswert sind, sondern auch, welche Art von Patriotismus die Bürger überhaupt empfinden können. Daher wird im Rahmen dieser Arbeit die Umsetzbarkeit der Idee des Verfassungspatriotismus überprüft und der Frage nachgegangen, warum die Deutschen Verfassungspatrioten sein sollten und ob sie auch verfassungspatriotische Einstellungen haben können.
Um die Frage zu beantworten, wird wie folgt vorgegangen: Das zweite Kapitel bildet die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit. Jan-Werner Müller (2010) hat anlehnend an die Überlegungen von Habermas eine Theorie des Verfassungspatriotismus entwickelt. Aufbauend auf dieser Theorie soll analysiert werden, was unter dem Begriffe des Verfassungspatriotismus zu verstehen ist und warum die Deutschen überhaupt Verfassungspatrioten sein sollten. Kapitel 3 beschäftigt sich im nächsten Schritt damit, ob die Deutschen auch verfassungspatriotische Einstellungen haben können und somit Verfassungspatriotismus auch als empirisches Phänomen auftreten kann. Hierfür wird in 3.1 zunächst der Einstellungsbegriff definiert und überprüft, ob dieser mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus kompatibel ist. Anschließend wird untersucht, inwiefern stabile Einstellungen auf einem Weg erworben werden können, der mit der Theorie des Verfassungspatriotismus übereinstimmt. Nachdem geklärt worden ist, ob die Deutschen Verfassungspatrioten sein sollen und können, stellt sich konsequenterweise die Anschlussfrage, ob sie es auch sind. Jedoch existieren bisher in der empirischen Sozialforschung keine geeigneten Items, mit denen man verfassungspatriotische Einstellungen messen könnte. Daher wird im vierten Kapitel versucht, Verfassungspatriotismus durch Fragen, die mit den theoretischen Überlegungen konform sind, zu operationalisieren. Abschließend wird im letzten Kapitel ein Fazit gezogen.
2 Theoretische Grundlage: Sollten die deutschen Bürger Verfassungspatrioten sein? Verfassungspatriotismus nach Müller
Bevor analysiert werden kann, ob die Deutschen Verfassungspatrioten sein können und somit Verfassungspatriotismus als in der Realität auftauchendes Phänomen (Einstellung) gesehen werden kann, muss in einem ersten Schritt zunächst auf der begrifflichen Ebene geklärt werden, was unter dem Begriff „Verfassungspatriotismus“ im Rahmen dieser Arbeit verstanden wird.
Der Begriff des Verfassungspatriotismus wurde in den 1970er Jahren von Dolf Sternbergervor dem Hintergrund des Identifikationsproblems der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg und der Teilung Deutschlands (Sternberger 1980: 6f) geprägt und in den 1980er Jahren von Jürgen Habermas aufgenommen und weiterentwickelt.
Grundsätzlich verstehen beide unter Verfassungspatriotismus eine politische Loyalität, welche sich auf die in einer Verfassung niedergeschriebenen Werte und Prinzipien bezieht anstatt auf ethnische oder sprachliche Gemeinsamkeiten. Ohne genauer ins Detail gehen zu wollen, war Sternbergers Begriffsverständnis als „Vaterlandsliebe“ emotionaler konnotiert (Molt 2006a: 878). Habermas hingegen versteht unter Verfassungspatriotismus einen postnationalen Patriotismus2 ; eine auf universalistischen Verfassungsprinzipien aufbauende Identifikationsform jenseits des Nationalstaates3 (Nickel 2009: 378; Müller 2010: 36f.).
Den Überlegungen von Sternberger und Habermas wurde aufgrund ihres historischen Entstehungskontextes vorgeworfen, partikular zu sein, da sie – so die Kritiker - nur ein genuin deutsches Problem behandeln würden, anstatt universelle Antworten zu geben (z.B. Viroli 1997; Canovan 2000). Jan-Werner Müller setzt an dieser Stelle an und versucht in seinem Werk „Verfassungspatriotismus“ (2010) eine allgemeine, universalistische Theorie des Verfassungspatriotismus zu entwerfen, die hauptsächlich auf dem Verfassungspatriotismus-Begriff von Habermas aufbaut4. Dementsprechend wird im folgenden Habermas Verständnis von Verfassungspatriotismus als „eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ (Habermas 1987: 135) als Arbeitsdefinition verwendet. Aus dieser Definition lassen sich drei Schlüsse über Verfassungspatriotismus ziehen: Erstens unterstreicht die Definition von Verfassungspatriotismus als Bindung, dass Verfassungspatriotismus nicht als ein rein theoretisches, abstraktes Konstrukt verstanden wird, sondern als ein Gefühl, als eine Einstellung5, welche Menschen innewohnt. Zweitens ergeben sich begründete Überzeugungen in Hinblick auf die Richtigkeit der Verfassungsprinzipien aus einer kognitiven Auseinandersetzung mit diesen Prinzipien, sodass Habermas Definition den rationalen Charakter von Verfassungspatriotismus betont. Zwar bildet die rationale Auseinandersetzung mit den Verfassungsprinzipien die Grundlage, aber das Verständnis von Verfassungspatriotismus als affektive Bindung zeigt drittens auch eine emotionale Komponente von Verfassungspatriotismus. Verfassungspatriotismus ist demnach für Habermas nicht nur ein rein theoretisches Konstrukt, sondern eine den Menschen innewohnende Einstellung, welche auf rationalen Überlegungen basiert, aber nichtsdestotrotz auch einen emotionalen Charakter hat.
Gemäß dieser Definition dürfe laut Müller Verfassungspatriotismus auch nicht als Loyalität gegenüber der Verfassung als Dokument misszuverstehen sein. Verfassungspatriotismus sei vielmehr die Zustimmung zur Idee der gerechtfertigten Herrschaft und des fairen und freien Zusammenlebens, welche in den Kernpunkten einer Verfassung, den „constitutional essentials6 “, und den demokratischen, legitimes Recht erzeugenden Prozessen manifestiert sind: „Citizen attach themselves to the norms and values at the heart of the constitution, that is, the constitutional essentials, and, in particular, to the fair and democratic procedures that can be presumed to produce legitimate law“ (Müller 2008: 82). In liberalen Demokratien werden diese Normen und Werte durch die demokratischen Institutionen und Verfahren realisiert, sodass Verfassungspatriotismus nicht nur als eine positive Einstellung gegenüber den Verfassungskernpunkten zu verstehen ist, sondern auch als positive Einstellung gegenüber der liberalen Demokratie als politisches System.
Da sich verfassungspatriotische Einstellungen auf die Idee bzw. das Prinzip der „gegenseitigen Rechtfertigung politischer Herrschaft und Freiheit“ (Müller 2010: 67; siehe auch Michelman 2001: 260) beziehen und nicht auf die real existierende Verfassung, seien auch die Kernpunkte einer Verfassung bzw. ihre Anwendung keinesfalls einer Diskussion durch die Bürger entzogen, solange die Auseinandersetzungen die Grundidee des freien und fairen Zusammenlebens nicht verletzen würden (Müller 2010: 66f.). Ein solcher Diskurs sei sogar erwünscht, da der Verfassungspatriotismus eine reflektierte und kritische, wenn nicht sogar ambivalente Haltung von den Bürgern einfordere. Denn zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität bestünde immer ein gewisses Maß an Diskrepanz, da universalistische Prinzipien nie vollständig in der Verfassungsrealität verwirklicht werden könnten und die Bürger danach streben sollten, diese Lücke zu schließen (Müller 2010: 73f.). Die kritische Auseinandersetzung mit der Verfassungsrealität vor dem Hintergrund der universalistischen Werte könne – so Müller - zum einen dazu führen, dass die Bürger die Verfassung vor anti-demokratischen Entwicklungen verteidigen, um einer „Verschlechterung“ der Verfassungsrealität entgegenzuwirken. Zum anderen könne jedoch durch die angesprochene Diskrepanz auch ein „normativer Überschuss“ produziert werden. Aus diesem könne Dissens oder sogar ziviler Ungehorsam entstehen, der das Ziel habe, die Verfassungsnormen besser in der Realität umzusetzen7 (Müller 2010: 64f., 73f.). Jedoch betont Müller, dass solch ein Diskurs nicht „neutral“ geführt werden könne. Denn die universalistischen Normen und Werte könnten nicht eindeutig freistehend interpretiert werden, sondern nur vor dem Hintergrund des spezifischen Kontextes eines Landes, zu welchem beispielsweise gewisse Riten, die Art der Argumentationsführung oder aber die nationale Vergangenheit dazugezählt werden können. „Die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten bildet statt dessen das harte Material, an dem sich nun die Strahlen der nationalen Überlieferung brechen – der Sprache, der Literatur und der Geschichte“ (Habermas 1987: 174). Diese für jedes Land spezifische Form bzw. der kontextspezifische Stil der Auseinandersetzung mit der Verfassungsrealität bezeichnet Müller ganz im Sinne der Idee der „lebendigen Verfassung“ (Sternberger 1956) als „Verfassungskultur8 “ (Müller 2010: 70).
Die Verfassungskultur diene in gewissem Maße als Quelle für verfassungspatriotische Einstellungen: Laut Habermas ergebe sich die verfassungspatriotische Bindung an liberale Prinzipien nicht von selbst, sondern sie entstehe durch die kritische Auseinandersetzung mit der Verfassungsrealität vor dem Hintergrund der nationalen Überlieferungen (Habermas 1987: 173); d.h. im Rahmen der Verfassungskultur. In Deutschland sollte die Entstehung von verfassungspatriotischen Einstellungen vor allem (aber nicht nur!) von den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bedingt werden, da dieser Aspekt der deutschen Geschichte besonders die deutsche Verfassungskultur prägen sollte. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Taten des NS-Regimes moralisch verwerflich waren und auch die Bürger sollten die Verletzungen von liberalen Werten durch das Regime als nicht gerechtfertigt betrachten. Wenn sich die Deutschen nun im Lichte der Vergangenheit mit liberalen Werten und ihrer Verwirklichung reflektiert auseinandersetzen, müssten sie zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass liberal-demokratische Werte gerechtfertigt sind und nach einer Realisierung dieser Werte streben, um ein erneutes Verbrechen an der Menschheit durch die Verletzung von liberalen Werten zu vermeiden (Habermas 1990: 219f.).
Dadurch, dass der landespezifische Kontext ein Teil der Verfassungskultur und somit auch Teil von verfassungspatriotischen Einstellungen ist, könne laut Müller die Verfassungskultur als Spezifitätskriterium angesehen werden (Müller 2010: 71). Denn da beispielsweise verfassungspatriotische Einstellungen von Deutschen im Rahmen einer für Deutschland spezifischen Verfassungskultur entstehen, kann auch erklärt werden, warum sich die Deutschen mit dem deutschen Grundgesetz verbunden fühlen und nicht mit der Amerikanischen Verfassung, in der ebenfalls liberal-demokratische Werte festgeschrieben sind.
Indem Erfahrungen und der politisch-kulturelle Kontext als essentieller Bestandteil von Verfassungspatriotismus betont werden, wird ersichtlich, dass Müller das Verhältnis zwischen den Grundprinzipien und der Verfassungsrealität als einen zirkulären Prozess versteht, da seiner Ansicht nach die Interpretation der universalistischen Normen und Werte immer wieder vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen neu bestimmt werden müsse (Müller 2010: 72). Verfassungspatriotismus sei demnach gekennzeichnet durch Kontinuität und Wandelbarkeit, da einerseits an den Grundprinzipien festgehalten und andererseits diese Prinzipien immer wieder neu ausgelegt würden. Verfassungspatriotismus sei demnach immer als ein kollektiver Lernprozess bzw. als ein Projekt zu verstehen (Müller 2010: 74).
Was jedoch bezweckt eine verfassungspatriotische Haltung? Durch Verfassungspatriotismus entstehe „an abstract, legally mediated solidarity between strangers9 “ (Habermas 2004: 25) sowie politisches Vertrauen, ohne die moralischen Gefahren des Patriotismus aufzuweisen10 (Müller 2010: 64). Indem unter Verfassungspatriotismus eine positive Einstellung gegenüber den liberalen Grundprinzipien verstanden wird, sollte Verfassungspatriotismus auch positive Einstellungen gegenüber dem politischen System (der liberalen Demokratie), welches die liberalen Normen und Werte in demokratische Prozesse implementiert, hervorrufen. Aus systemtheoretischer Perspektive (besonders Easton 1965) stellen Bindungen zwischen den Bürgern bzw. positive Orientierungen gegenüber dem politischen System die Quelle für diffuse, d.h. langfristige, von situativen Gegebenheiten unabhängige Unterstützung dar. Diese diffuse Unterstützung sei notwendig, damit das politische System in Krisenzeiten nicht auseinander bricht (Easton 1965: 325). So können auch die vom Verfassungspatriotismus geforderten Auseinandersetzungen mit der Verfassungsrealität, welche sowohl einen verteidigenden Charakter haben, als auch in Form von zivilem Ungehorsam auftreten können, stattfinden, ohne die Persistenz des politischen Systems ernsthaft zu gefährden.
Dementsprechend kann festgehalten wird, dass durch Verfassungspatriotismus, verstanden als positive Einstellung gegenüber universalistischen Werten und dem politischen System als liberale Demokratie, welche diese Werte implementiert, diffuse Unterstützung entsteht, welche wiederum für die Systemstabilität notwendig ist (Müller 2010: 64).
Zudem habe Verfassungspatriotismus eine integrierende Wirkung. Keine Verfassungsordnung könne für sich beanspruchen, die universalistischen Werte optimal verwirklicht zu haben. Der durch diese Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität produzierte und bereits angesprochene „normative Überschuss“ würde jedoch dazu einladen, sich über nationale Grenzen hinweg auszutauschen, um gemeinsam die bestmöglichste Verwirklichung der Normen und Werte anzustreben (Müller 2010: 84).
Zwar hat Verfassungspatriotismus eine stabilisierende und integrierende Wirkung, jedoch ist diese Wirkung auch begrenzt. So merkt Müller an, dass zum einen durch Verfassungspatriotismus keine territorialen Grenzen festgelegt, d.h. Staaten gegründet werden könnten, sondern Verfassungspatriotismus müsste sich in gewissem Maße schon auf existierende politische Gemeinschaften stützen (Müller 2008: 76, 78). Zum anderen schaffe Verfassungspatriotismus allein keine soziale Solidarität, sondern das Ausmaß der Solidarität zwischen den Bürger sei von den Annahmen der Hintergrundtheorie11 über Gerechtigkeit und Fairness abhängig (Müller 2010: 63f).
Bisher konnte gezeigt werden, was Verfassungspatriotismus ist, wie diese Einstellung entsteht und was Verfassungspatriotismus bezweckt, nämlich unter anderem die Stabilität des politischen Systems. Jedoch stellt sich an dieser Stelle aus normativer Sicht die Frage, ob verfassungspatriotische Einstellungen als Mittel zur Bestandswahrung des politischen Systems gerechtfertigt sind. Denn bei der Theorie des Verfassungspatriotismus handelt es sich um eine normative, praktisch-philosophische Theorie, die normative Aussagen darüber trifft, wie politische Identität geschaffen werden sollte (siehe dazu auch von Alemann/Forndran 2002: 48ff.). Die Theorie des Verfassungspatriotismus jedoch kann keine rechtfertigende Begründung dafür liefern, warum die Bürger Verfassungspatrioten sein sollten. Bei Verfassungspatriotismus handelt es sich somit um einen „normativ abhängigen Begriff“ (siehe dazu Forst 2003: 48ff.): Um normativ gehaltvoll zu werden und normativ begründete Handlungsanweisungen zu äußern, bedarf es einer Hintergrundtheorie (im Speziellen: einer liberalen Moraltheorie), die verfassungspatriotische Einstellungen als Mittel zum Systemerhalt normativ rechtfertigt. Die Rechtfertigung ist je nach gewählter Hintergrundtheorie verschieden; jedoch sei es laut Müller die Hauptsache, dass die Forderung nach Verfassungspatriotismus normativ begründet werden könne und Verfassungspatriotismus nicht nur positivistisch verstanden würde (Müller 2010: 76).
Bei Müller bildet die liberale Theorie von John Rawls12 die Hintergrundtheorie. Grundüberlegung der Theorie ist die Frage, wie in demokratischen Gesellschaften, die dem „fact of resonable pluralism“ (Rawls 1993: xvii) ausgesetzt sind, eine gerechte Ordnung hergestellt werden kann. Nach Rawls sollte eine Ordnung das liberale Prinzip berücksichtigen: Das Zusammenleben der Bürger sollte so gestaltet werden, dass die Individuen ihre Vorstellungen vom guten Leben frei verwirklichen können (Individuen als Freie), ohne dabei die Freiheit anderen Individuen zu verletzen (Individuen als Gleiche). Diesem liberalen Prinzip liegt ein normatives Bürgermodell zugrunde. So sollen nach Rawls die Bürger als moralisch rational und vernünftig sowie gleich und frei angesehen werden. Unter moralisch rational und vernünftig kann verstanden werden, dass die Bürger zum einen rational ihre Lebenspläne aufstellen sowie verfolgen und auch in der Lage sind, dies zu tun. Aber auf der anderen Seite besitzen sie einen Gerechtigkeitssinn und erkennen aus ihrer Vernunft heraus an, dass auch ihre Mitmenschen Lebenspläne haben und ebenso wie sie selbst das Recht besitzen sollten, diese Pläne zu verfolgen. Indem die Bürger diese moralischen Eigenschaften und dadurch die Fähigkeit zur Kooperation besitzen, seien sie frei und gleiche Personen (Rawls 1993: 19). Da den Bürgern diese moralischen Eigenschaften zugesprochen werden, sollten sie sich für eine Gerechtigkeitsordnung entscheiden, welcher das liberale Prinzip zugrunde liegt, da sie diese für gerechtfertigt halten.
Die Verinnerlichung von liberal-demokratischen Werten ist somit nach der Theorie von Rawls außerordentlich wünschenswert. Daher ist es folglich auch normativ gerechtfertigt, dass Personen, die diese Werte verinnerlicht haben, ihr politisches System unterstützen, da in diesem die liberalen Werte und Prinzipien implementiert werden. Dementsprechend ist nach der zugrunde gelegten Hintergrundtheorie Verfassungspatriotismus als Mittel zum Systemerhalt normativ wünschenswert und gerechtfertigt und folglich sollten aus normativer Sicht die deutschen Bürger Verfassungspatrioten sein.
Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden: Unter Verfassungspatriotismus wird im Rahmen dieser Arbeit eine positive Einstellung gegenüber zentralen liberal-demokratischen Prinzipien und Werten, die in einer Verfassung niedergeschrieben sind, verstanden. Verfassungspatriotismus entsteht im Rahmen der Verfassungskultur, durch die kritische Auseinandersetzung mit der Verfassungsrealität vor dem Hintergrund des spezifischen historischen und politisch-kulturellen Hintergrundes. Die Deutschen sollten Verfassungspatrioten sein, da sich durch die Loyalität gegenüber den Verfassungsprinzipien eine positive Einstellung, d.h. diffuse Unterstützung für das politische System der liberalen Demokratie ergibt, weil in diesem die Normen und Werte durch Gesetze, Prozesse und Institutionen implementiert werden. Somit stabilisieren verfassungspatriotische Einstellungen das politische System. Normativ gerechtfertigt wird Verfassungspatriotismus als Mittel zur Bestandswahrung des politischen Systems durch die liberale Moraltheorie von Rawls, der die normative Annahme, dass Individuen als frei und gleich angesehen werden sollen, zugrunde liegt.
3 Verfassungspatriotismus als Einstellung: Können die deutschen Bürger Verfassungspatrioten sein?
Nachdem im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, warum die Bürger Verfassungspatrioten sein sollten, wird in dem folgenden Kapitel die Frage behandelt, ob die Deutschen diese normativ wünschenswerten Einstellungen auch überhaupt erwerben können. Dass Bürger Verfassungspatrioten sein können, wurde von Kritikern der Idee des Verfassungspatriotismus angezweifelt. Verfassungspatriotismus sei eine zu abstrakte, blutleere Idee, die von Professoren im akademischen Elfenbeinturm entworfen worden sei. Jedoch könnten die Menschen nicht so fühlen, sodass Verfassungspatriotismus zwar ein interessantes theoretisches Gedankenspiel sei, sich aber nicht in der Wirklichkeit umsetzen ließe (Fest 2006, zitiert nach Müller 2010: 14; siehe auch Molt 2006b: 29; Jesse 2008: 112). Während wir uns im 2. Kapitel noch auf der begrifflichen Ebene befunden haben, gilt es in diesem Kapitel zu klären, inwiefern Bürger verfassungspatriotische Einstellungen haben können und ob Verfassungspatriotismus folglich auch als empirisches Phänomen auftreten kann. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei Verfassungspatriotismus gemäß der vorgestellten Theorie um eine stabile Einstellung handeln muss, die zu einer langfristigen, diffusen Systemunterstützung führt. Ansonsten können verfassungspatriotische Einstellungen nicht den Zweck erfüllen, der ihnen nach der hier verwendeten Begriffsdefinition zugeschrieben wird.
Um die aufgeworfene Frage zu beantworten, soll zunächst versucht werden, den Einstellungsbegriff zu definieren bzw. zu präzisieren. Im Anschluss daran soll diskutiert werden, ob und wie verfassungspatriotische Einstellungen erworben werden können und inwiefern der Weg des Einstellungserwerbs auch den Anforderungen der Theorie des Verfassungspatriotismus entspricht.
3.1 Definition des Einstellungsbegriffs
Einstellungen gehören zu einem der wichtigsten Konzepte der Sozialpsychologie und den angrenzenden Disziplinen, da angenommen wird, durch Einstellungen individuelles Verhalten erklären zu können (Fishbein/Ajzen 2010: 255). In der Sozialpsychologie herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Einstellungen als latente, d.h. nicht direkt beobachtbare Variablen verstanden werden können (Fischer/Wiswede 2002: 219). Jedoch existiert in der Sozialpsychologie eine Vielzahl von Einstellungsbegriffen (siehe dazu Fischer/Wiswede 2002: 221ff. sowie Stahlberg/Frey 1996: 220ff.). Zu den prominentesten gehören der dreidimensionale Einstellungsbegriff von Eagly und Chaiken (1993) sowie der eindimensionale Einstellungsbegriff von Fishbein und Ajzen (1975).
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1 Sternberger prägte den Begriff „Verfassungspatriotismus“ 1979 in einem gleichnamigen FAZ-Artikel zum 30jährigen Geburtstag des Grundgesetzes (Sternberger 1979). Jedoch plädierte er bereits 1947 in einem Aufsatz über den Begriff des Vaterlandes für eine Entwicklung eines patriotischen Selbstverständnisses auf Grundlage des Grundgesetzes.
2 Müller (2010: 44) merkt jedoch kritisch an, dass Habermas Bezeichnung von Verfassungspatriotismus als post national irreführend sei. Wie im Folgenden noch gezeigt wird, entsteht Verfassungspatriotismus durch die Auseinandersetzung mit dem historischen und kulturellen Erbe einer Nation und nicht durch dessen Eliminierung, sodass post nationalistischer Patriotismus laut Müller die bessere Bezeichnung sei.
3 Da die Darstellung des Begriffsverständnisses von Verfassungspatriotismus von Habermas und Sternberger sowie die Darstellung der Unterschiede nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, wurde von einer detaillierten Ausführung abgesehen. Für eine genauere Darstellung der beiden Begriffsverständnisse sowie deren Unterschiede siehe Molt 2006a.
4 Müller unterteilt seine Theorie in 4 Bausteine (Zweck, Objekt, Modus, Gründe). Da jedoch die von Müller gewählte Strukturierung einige Mängel aufweist, wird im Rahmen dieser Arbeit Müllers Theorie losgelöst von seiner Unterteilung betrachtet.
5 Der Einstellungsbegriff wird im 3. Kapitel näher erläutert.
6 Der Begriff „constitutional essentials“ wurde von John Rawls in seinem Werk „Political Liberalism“(1993) geprägt. Was genau unter den constitutional essentials zu versehen ist, ist je nach normativem Verständnis, das den theoretischen Überlegungen zugrunde gelegt wird, unterschiedlich. Ist die liberale Theorie von Rawls normativer Ansatzpunkt, dann wären in der BRD am ehesten die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) als die Verfassungskernpunkte zu verstehen, da in ihnen die Voraussetzung für ein freies und faires Zusammenleben festgeschrieben sind.
7 Als Beispiel kann hier die Occupy-Bewegung angeführt werden, welche durch nicht-genehmigte Proteste und Besetzungen auf die – in ihrer Ansicht – mangelnden Umsetzung des Prinzips der (sozialen) Gleichheit hingewiesen hat und somit durch zivilen Ungehorsam versuchte, die Verfassungsrealität der Verfassungsnorm anzugleichen.
8 Müller zieht den Begriff der Verfassungskultur dem der Verfassungsidentität vor, um die Wahrnehmung der Verfassung im Sinne der lebendigen Verfassung als etwas Dynamisches und nicht als „starres“ Dokument zu unterstreichen. Die Verfassungskultur würde sich zum einen durch ihren heterogenen Charakter von der Nationalkultur und zum anderen durch ihren Bezugspunkt auf spezifische Formen der Auseinandersetzung von der eher allgemeinere Orientierungen gegenüber dem politischen System behandelnden politischen Kultur (siehe dazu überblicksartig Gabriel 2009) unterscheiden. Jedoch betont Müller, dass eine trennscharfe Grenze zwischen den drei Begriffen nur schwer gezogen werden könne (Müller 2010: 70f.).
9 Beispielhaft für solch einen Zusammenhalt waren die am 11.01.2015 weltweit stattfindenden Trauermärsche als Reaktion auf das Attentat auf die Redaktion des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“. Die Trauermärsche waren Ausdruck einer weltweiten Solidarität zwischen Bürgern, welche durch geteilte liberale Werte; im speziellen die Meinungsfreiheit; entstanden ist.
10 Die moralische Gefahr des Patriotismus besteht aus der Sichtweise eines liberalen Moralisten darin, dass beim Patriotismus eine Bindung, eine Ergebenheit an eine Nation entstehen, die im gewissen Maße rationaler Kritik entzogen ist. Jedoch fordert moralisches Handeln, dass man rational und neutral, d.h. losgelöst von Partikularität, handelt, was beim Patriotismus nicht gegeben ist (MacIntyre 1999).
11 Was genau unter einer Hintergrundtheorie zu verstehen ist, wird im Folgenden erläutert.
12 Da der Schwerpunkt dieser Arbeit nicht auf der Liberalismustheorie von Rawls liegt, soll Rawls Theorie nur sehr oberflächlich in ihren Grundzügen dargestellt werden.