Warum darf ich nicht eine meiner Nieren einem Fremden spenden; auch wenn ich es ausdrücklich wünsche? In Deutschland mache ich mich damit strafbar. Davon einmal abgesehen, dass sich wohl kaum ein Arzt und ein Krankenhaus finden würde, das eine Organentnahme auf dieser Grundlage durchführen würde.
In Deutschland ist eine Spende an eine unbekannte Person, zu der keine enge Beziehung besteht, ausdrücklich unter Strafe gestellt. Als Begründung wurde im Transplantationsgesetz der Schutz vor Organhandel angeführt.
Diese Hausarbeit untersucht die rechtliche Lage in Deutschland und die politische Debatte im deutschen Bundestag. Die Gesetzesgeberin begrenzt den Kreis der Spendenden und übt gleichzeitig auf diesen Druck aus. Das ist eine klare Einflussnahme auf das Verhältnis der Agierenden. Damit wird die soziale Konstruktion der Kernfamilie und deren vermeintlicher medizinischen Pflichten durch die Gesetzeslage verstärkt.
1. Einleitung
2. Das deutsche Transplantationsgesetz
3. Die kulturelle Betonung der Kernfamilie im euro-amerikanischen Verwandtschaftskonzept
3.1. Familie als Schutz vor Organhandel
3.2. Familienähnliche Beziehungen zum Empfänger bzw. zur Empfängerin 9
3.3 Verschleierung der Kommerzialisierung durch den Familienbezug
4. Zusammenfassung und Fazit
5. Literatur
1. Einleitung
Warum darf ich nicht eine meiner Nieren einem Fremden spenden; auch wenn ich es ausdrücklich wünsche? In Deutschland mache ich mich damit strafbar1 2. Davon einmal abgesehen, dass sich wohl kaum ein Arzt und ein Krankenhaus finden würde, das eine Organentnahme auf dieser Grundlage durchführen würde.
In Deutschland ist eine Spende an eine unbekannte Person, zu der keine enge Beziehung besteht, ausdrücklich unter Strafe gestellt. Als Begründung wurde im Transplantationsgesetz der Schutz vor Organhandel angeführt. Der Richter Ulrich Vultejus fragte bereits 1993, ganz zu Beginn der Diskussion über ein deutsches Transplantationsgesetz, ob damit wirklich der Handel unterbunden werden könne:
Ein Versuch ist die Beschränkung der Transplantation auf „genetisch Verwandte" im Entwurf der Gesundheitsministerkonferenz. Damit ist die Transplantation zwischen Eheleuten oder sich sonst nahestehenden Personen, etwa zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern oder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften ausgeschlossen. Andererseits garantiert eine genetische Verwandtschaft, etwa zwischen entfernten Verwandten, noch keine persönliche Nähe. Ich halte die Beschränkung an sich für sinnvoll, zweifle aber, ob die gefundene Lösung der Weisheit letzter Schluss ist. (Seite 435-438)
Die Verkettung zwischen verwandtschaftlicher und verwandtschaftsähnlicher Beziehung und der Erlaubnis zur Organspende ist die Grundlage der gesetzlichen Regelung zur Lebendspende in Deutschland und führt zu einer moralischen Aufwertung der Organspende als Gabe. Als der damalige Außenminister und derzeitige Bundespräsident Frank Walter Steinmeier seiner Frau eine Niere spendete, titelte die „Süddeutsche Zeitung“: „Das Geschenk des Lebens“ (Uhlmann 2010). Der Akt der Lebendorganspende wurde damit moralisch überhöht. Das war kein Einzelfall, sondern zeigt exemplarisch den öffentlichen Diskurs.
Diese Hausarbeit untersucht die rechtliche Lage in Deutschland und die politische Debatte. Die Gesetzesgeberin begrenzt den Kreis der Spendenden und übt gleichzeitig auf diesen Druck aus. Das ist eine klare Einflussnahme auf das Verhältnis der Agierenden. Damit wird die soziale Konstruktion der Kernfamilie und deren vermeintlicher medizinischen Pflichten durch die Gesetzeslage benutzt und gleichzeitig verstärkt.
Die deutsche Gesetzgebung bedient sich der Konstruktion der westlichen Kleinfamilie, um Freiwilligkeit zu gewährleisten und die Monetarisierung von Organgaben zu verhindern. Diese Hausarbeit dekonstruiert Verwandtschaft im Hinblick auf das medizinische Transplantationssystem.
2. Das deutsche Transplantationsgesetz
Deutschland war eines der letzten europäischen Länder, das ein Gesetz zur Organtransplantation verabschiedet hat. Der Hintergrund war der wachsende Bedarf an verfügbaren Organen. Patienten mit einem Nierenleiden können eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenssituation durch eine Spende erwarten. Tatsächlich warten sie aber oftmals jahrelang, bis eine Spenderniere zur Verfügung steht. Diese kann durch eine so genannte postmortale Spende oder eine Lebendspende erfolgen. Lebendspenden sind nur bei Niere und Teilen der Leber möglich[2]. Lebendspenden können die Lebensqualität des Spendenden mindern. Postmortale Spenden sind nicht an die Verwandtschaft gebunden, sondern werden nach Dringlichkeit zentral vergeben.
Die Debatten im Bundestag drehten sich 1996 bei erster und zweiter Lesung des Transplantationsgesetzes (TPG) vorwiegend um die Feststellung des Hirntods, betrafen also postmortale Spenden. Lebendspenden nehmen in der Debatte nur einen vergleichsweise kleinen Raum ein. Konsens war, „dass der lebende Mensch nicht zum bloßen Mittel zur Erreichung eines Zweckes missbraucht werden darf.“ (Horst Schmidbauer, SPD, Plenarprotokoll 13/183, S. 16426).
Mehrere Abgeordnete verwiesen bei Lebensspenden lediglich auf den Gesetzestext und lasen ihn vor, z.B. der FDP-Abgeordnete Peter Thomae. So ist es wenig überraschend, dass der Gesetzentwurf (Drs 13/4355) mit dem späteren Gesetz in puncto Lebendspenden identisch ist. Der CSU-Abgeordnete Bernhard Seidenath begrüßt in einem Artikel ausdrücklich den Verwandtschaftsvorbehalt und umschreibt die gesetzliche Regelung:3
Nicht die Art der Motivation des Spenders sollte Lebendspenden begrenzen, sondern die Art der Beziehung zwischen Organspender und Organempfänger (Seidenath 1998 S. 254).
Seit dem 1. Dezember 1997 ist das Transplantationsgesetz (TPG) in Kraft (BGBl. I S. 2631ff). Um für eine Lebendspende in Frage zu kommen, muss man laut § 8 volljährig, aufgeklärt worden sein, der Entnahme zugestimmt haben und nach ärztlicher Beurteilung als SpenderIn geeignet sein. Die Lebendorganspende ist subsidiär gegenüber der postmortalen Spende; es darf also kein postmortales Organ zur Verfügung stehen. Zusätzlich ist vorgeschrieben, dass eine Lebendspende nur zulässig ist, „zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“. (TPG § 8 Abs. 1 S.4) Diese Regelungen sollen Organhandel verhindern, indem finanzielle Anreize verboten werden:
Gleichzeitig sollen damit auch finanzielle Anreize an potenzielle Lebensspender, ihre Gesundheit um wirtschaftliche Vorteile willen zu beeinträchtigen, unterbunden werden (Drs. 13/4355, S 29).
Diese Regelungen haben trotz weiteren medizinischen Fortschrittes Bestand. Die verwandtschaftliche Bindung zwischen SpenderIn und EmpfängerIn wird als nicht-monetäres System impliziert. Das TPG schreibt im Prozess der Spende zwingend die Begutachtung durch eine Kommission vor, die neben der medizinischen Eignung auch die Freiwilligkeit untersuchen muss. Tatsächlich haben Kommissionen einzelne Vorhaben aus Bedenken gegenüber der Freiwilligkeit oder Zweifel an der tatsächlichen engen Bindung abgelehnt.
3. Die kulturelle Betonung der Kernfamilie im euro-amerikanischen Verwandtschaftskonzept
Der Gesetzestext sieht zwingend eine verwandtschaftliche oder verwandtschaftsähnliche Beziehung zwischen Spenderin und Empfängerin vor. Die Ausformung von Verwandtschaft ist nicht interkulturell. Die kulturellen Eigenschaften der Verwandtschaft beziehen sich auf Beziehungen innerhalb der sozialen Reproduktion. Der US-amerikanische Ethnologe David Schneider untersucht in seiner Studie „American Kinship“ Beziehungen der weißen Mittelklasse. Er beschreibt, welche Symbolik und Terminologie die Verwandtschaft in den USA bestimmen. Schneider definiert Verwandtschaft in den USA als rein biogenetische Beziehung zwischen Individuen. Diese Beziehung sei durch die vermeintliche Natur bestimmt. Heirat ist dahingegen eine Verwandtschaftsbeziehung, die durch das Gesetz gegeben ist und einen bestimmten Verhaltenskodex erfordert und durch diesen reguliert ist.
So gesehen unterscheidet Schneider zwischen „law of nature“ und „law of order“:
„The explicit definition which American readily provide is that a relative is a person who is related by blood or marriage.” (Schneider 1980, S. 21)
Verwandtschaft nach deutschem Recht ist im Bürgerlichen Gesetzesbuch definiert:
Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt.
Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten. (BGB § 1589,1.)
Die Definition basiert auf einem genetischen Verhältnis und übernimmt dementsprechend die gesellschaftliche Konstruktion, die David Schneider für die amerikanische Gesellschaft erkennt.
3.1. Familie als Schutz vor Organhandel
Im Transplantationsgesetz nimmt die Familie bei Lebendspenden eine zentrale Rolle ein. Die Gabe seitens eines Familienmitglieds ermöglicht der empfangenden Person, ihr Leben zu verlängern oder die Lebensqualität zu steigern. Dass die Familie gesundheitlich unterstützend wirkt, gilt nicht nur in der Transplantationsmedizin, sondern ist generell in der Medizin anzutreffen. Pflege und Unterstützung von Kranken finden in der Familie statt. Im globalen Norden wenden sich die Menschen an die Institution Medizin, ergänzen das aber durch familiäre Versorgung der Kranken.
Ein Forscherteam um die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin hat in ihrer empirischen Untersuchung deutscher Klinikroutinen die zentrale Rolle der Familie herausgearbeitet:
„Die Transplantationsmedizin zeigt dagegen, dass mit den neuen technologischen Möglichkeiten verwandtschaftliche Beziehungen aktiviert werden, die aufgrund der bestehenden Konzeption der Blutsverwandtschaft als selbstverständlich und existent anerkannt sind. In wie weit diese verwandtschaftlichen Beziehungen im Alltag auch gepflegt werden, ist - im Unterschied zur Kernfamilie im erwähnten Sinn - eine offene Frage. Aus diesem Grund sprechen wir von einer Aktivierung verwandtschaftlicher Beziehungen. (Hauser-Schäublin u.a 2001, S. 162)
Der Verweis auf die Familie ist für die Transplantation von großer Bedeutung, denn damit sind Erwartungen verbunden. Diese werden zwar nicht ausgesprochen, sind aber ein wichtiger Faktor im Verhalten der Individuen. So beschreiben die Medizinethiker Hilde und James Lindemann Nelson den Fall eines Vaters, dessen Nierenspende seiner Tochter zugutekommen könnte. Der Vater wollte keine Niere spenden, aber auch nicht als schlechter Vater dastehen. Er bat seinen Arzt, die Spendenkompatibilität zu verschweigen und so eine medizinische Begründung für seine Weigerung zu konstruieren. Der Vater sieht sich in seinen Wahlmöglichkeiten so begrenzt, dass er seine Spendenbereitschaft nicht offen verweigern kann. Ein Nein des Vaters zur Spende für seine Tochter ist gesellschaftlich geächtet. Lindemann Nelson und Lindemann Nelson interpretieren das Verhalten des Vaters als Übernahme des moralischen Anspruchs der Medizin, wonach die Genesung des Patienten, in diesem Fall der Tochter, Vorrang hat; die persönliche Freiheit des Vaters hat das Nachsehen. Das Gleichgewicht von liebender Intimität und persönlicher Freiheit wird allein durch die Spendenmöglichkeit unter Druck gesetzt. Hauser-Schäublin u.a beschreiben an anderer Stelle, wie bereits die Möglichkeit der Lebendspende in der Zukunft die Verwandten beschäftigt und das soziale Beziehungssystem verändert:
Auch im Bereich der „Lebendspende“ erfährt die Verwandtschaft somit eine neue Wertung, da niemand weiß, ob er nicht auf die „Lebendspende“ eines nächsten Angehörigen ,angewiesen‘ sein wird oder ob er umgekehrt darüber entscheiden muss, einem Nahestehenden in einer gegebenen Notsituation helfen zu wollen. (Hauser- Schäublin u.a. 2001 S. 162)
[...]
1 Der Iran ist das einzige Land, das Organhandel gestattet.
2
3 Eizellen, Blut und Rückenmark fallen juristisch nicht unter das Gesetz und spielen bei der weiteren Betrachtung keine Rolle.