Das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946 hob in erster Linie verschiedene Vorschriften des damaligen deutschen Kern- und Nebenstrafrechts auf. Im bearbeiteten Ausschnitt wurden in Art. I zunächst §§ 2, 2b, 9 StGB aufgehoben, während Art. II das Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 und die Verordnung zur Sicherung des Fronteinsatzes vom 26. Januar 1945 beseitigte. Art. III setzte in anderen Vorschriften enthaltene Verweisungen auf die in Art. I, II aufgehobenen Normen sowie alle Strafvorschriften, die mit dem Kontrollratsgesetz unvereinbar waren, außer Kraft. Art. IV bestimmte, dass Gesetze, die durch die in Art. I, II genannten Normen aufgehoben worden waren, nicht wieder auflebten. Gemäß Art.V sollten die verfügten Aufhebungen zukünftige Gesetzgebungsakte zur Änderung des Strafrechts nicht beeinträchtigen. Schließlich stellte Art. VI das Unternehmen, einen der aufgehobenen Rechtssätze anzuwenden, unter Strafe.
Inhaltsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
A. Quellen
B. Literatur
Text
Bearbeitung
A. Herkunft und Rechtsqualität
I. Initiator: der Alliierte Kontrollrat
1. Allgemeines, Aufgabe und Aufbau
2. Die Gesetzgebung des Kontrollrates
II. Einführende Erläuterungen
1. Formale Merkmale und inhaltliche Zusammenfassung
2. Entstehung
B. Auslegung
I. Rechtswirkung der Aufhebungsbestimmungen
1. Ausgangslage nach Kriegsende
2. Allgemeine Vorüberlegungen einer Rechtsreform
3. Planungen einerRevision des Strafrechts
4. Totale oder individualisierte Aufhebung mit oder ohne Rückwirkung?
II. Artikel
1. Aufhebung des § 2 StGB (Analogiegebot)
a) Von nulla poena sine lege zu nullum crimen sine poena...
b) Die Frage der ungebrochenen Zulässigkeit der Analogie
aa) Analogieverbot kraft Besatzungsrechts
bb) Analogieverbot kraft Landesrechts
2. Aufhebung des § 2b StGB (unbeschränkte Wahlfeststellung)
3. Aufhebung des § 9 StGB (Auslieferungsverbot)
III. Artikel II
1. Aufhebung des Gesetzes über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe
2. Aufhebung der Verordnung zur Sicherung des Fronteinsatzes
IV. Artikel III
V. Artikel IV und Artikel V
VI. Artikel VI
C. Gegenwartsbezug
Quellen- und Literaturverzeichnis
A. Quellen
Beschluß der Regierung der Sowjetunion über die Auflösung der Hohen Kommission der Sowjetunion in Deutschland vom 20. September 1955. In: Dietrich Rauschning (Bearb.): Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands. Frankfurt am Main/Berlin 1962 (Die Staatsverfassungen der Welt in Einzelausgaben, 1), S. 244.
Fuchs, Thomas (Hrsg.): StGB. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871. Historisch-synoptische Edition 1871-2009. Mannheim 2010.
Gesetz Nr. A-37 der Alliierten Hohen Kommission vom 5. Mai 1955. In: Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission fürDeutschland. Nr. 126 (5. Mai 1955), S. 3267-3270.
Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29 März 1933. In: RGBl. I, S. 151.
Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935. In: RGBl. I, S. 839-843.
Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935. In: RGBl. I, S. 844-850.
Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998. In: BGBl. I, S. 2501-2504.
Kontrollratsdirektive Nr. 10 vom 22. September 1945. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 3(31. Januar 1946), S. 38.
Kontrollratsdirektive Nr. 11 vom 22. September 1945. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 3(31. Januar 1946), S. 39.
Kontrollratsdirektive Nr. 51 vom 27. April 1947. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 15 (31. Mai 1947), S. 279-280.
Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 1 (29. Oktober 1945), S. 6-8.
Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 3(31. Januar 1946), S. 55-57.
Kontrollratsproklamation Nr. 3 vom 20. Oktober 1945. In: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 1 (29. Oktober 1945), S. 22-23.
Militärregierungsgesetz Nr. I. In: Amtsblatt der Militärregierung Deutschland. Amerikanische Zone. Nr. 3 (14. Juli 1945), S. 1-3.
Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946. In: GVB1., S. 333-346.
Verfassung für die Mark Brandenburg vom 6. Februar 1947. Zitiert nach: http://www.verfas- sungen.de/bb/verf47.htm#E (aufgerufen am 20. Februar 2019).
Verordnung zur Sicherung des Fronteinsatzes vom 26. Januar 1945. In: RGBl. I, S. 20.
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Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 24. September 2009. In: BGBl. I, S. 3150.
B. Literatur
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Text
Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 3(31. Januar 1946), S. 55-57:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bearbeitung
A. Herkunft und Rechtsqualität
I. Initiator: der Alliierte Kontrollrat
1. Allgemeines, Aufgabe und Aufbau
Der Alliierte Kontrollrat war das oberste gemeinschaftliche Organ der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Seine Errichtung war bereits im November 1944 von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion beschlossen worden. In ihm kamen nach Einbeziehung Frankreichs die vier militärischen Oberbefehlshaber der Besatzungszonen zusammen, um Angelegenheiten mit Bezug auf Deutschland als Ganzes den Weisungen ihrer Regierungen entsprechend zu regeln. Der Kontrollrat tagte dreimal im Monat im Gebäude des Kammergerichts im amerikanischen Sektor Berlins unter monatlich wechselndem Vorsitz, erstmals am 30. Juli 1945, letztmals am 20. März 1948, als der sowjetische Vertreter die Sitzung mit der Weigerung verließ, an weiteren Sitzungen teilzunehmen und den Kontrollrat für faktisch aufgelöst erklärte. Sein formelles Ende fand dieser aber erst durch den Zwei-plus- Vier-Vertrag vom 12. September 1990. Seinen institutionellen Unterbau bildeten insgesamt zwölf ebenfallsje aus Vertretern der vier Mächte zusammengesetzte Direktorate, zum Beispiel für Politik, Finanzen, Wirtschaft oder Recht, in denen die konkrete Sacharbeit geleistet wurde und denen weitere Arbeitsgruppen unterstanden. Zwischen die Direktorate und den Kontrollrat war ein Koordinierungsausschuss aus den Stellvertretern der Oberbefehlshaber geschaltet; in diesem, nicht im Kontrollrat, wurden von Anfang an meist die eigentlichen, abschließenden Entscheidungen getroffen.1
2. Die Gesetzgebung des Kontrollrates
In seiner Hauptfunktion war der Kontrollrat ein Gesetzgebungsorgan: Er erließ insgesamt 62 Gesetze, daneben Befehle, Proklamationen, Direktiven und Instruktionen. Seine Beschlüsse erforderten Einstimmigkeit, die angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion und deren unterschiedlichen staats- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen nicht immer einfach zu erreichen war. Trotzdem gelang bis zur Einstellung der Tätigkeit des Kontrollrates die Schaffung zahlreicher einheitlicher Regelungen für ganz Deutschland, etwa auf den Gebieten der Demilitarisierung, der Beseitigung nationalsozialistischer Gesetzgebung, der Reorganisation der Rechtspflege, der Bestrafung von Kriegsverbrechern, der Bildung von Betriebsräten, der Wohnraumbewirtschaftung oder der Festsetzung neuer Steuern. Die Gesetzgebungsgewalt der Alliierten wurde dabei mit der Übernahme der obersten Gewalt in Bezug auf Deutschland durch die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 begründet. Allerdings verfügte der Kontrollrat nicht über unmittelbare exekutive Gewalt, sondern war auf die Umsetzung seiner Rechtsetzungsakte durch die Zonenbefehlshaber, die Militärregierungen und -Verwaltungen und beauftragte deutsche Behörden angewiesen.2
Gesetze des Kontrollrates wie das hier zu untersuchende waren ,,[t]o be enacted to deal 'with important matters of wide scope, of permanent or temporary application, or to repeal, amend or suspend existing legislation; they are, as a general rule, obligatory on all persons residing in Germany“3. Sie wurden in englischer, französischer und russischer Sprache ausgefertigt, von den Mitgliedern des Kontrollrates oder deren Stellvertretern unterzeichnet und im Amtsblatt des Kontrollrates verkündet. Authentisch waren nur die Fassungen in den genannten Sprachen. Eine unverbindliche deutsche Übersetzung wurde den Gesetzen nur beigegeben, wenn sie das deutsche Volk oder deutsche Behörden angingen. Dementsprechend kam es für ihre Wirksamkeit auf eine Bekanntmachung in deutscher Sprache nicht an.4 Sie galten in den vier Besatzungszonen und in Berlin unmittelbar, ohne dass es einer Inkraftsetzung durch die Zonenbefehlshaber bedurfte.5
[...]
1 Vgl. zum Ganzen Badstübner: Kontrollrat, S. 587; Etzel: Aufhebung, S. 48-49, 54; Frotscher/Pieroth: Verfassungsgeschichte, Rn. 700-701, 703; Mai: Kontrollrat, S. 27, 49-51, 484-485; Maier: Kontrollrat, S. 300301.
2 Vgl. zum Ganzen Badstübner: Kontrollrat, S. 583-584; Jaeni>
3 Kontrollratsdirektive Nr. 51, Ziff. lb. - Vgl. Schmoller/Maier/Tobler: Besatzungsrecht, § 25, S. 8 („allgemein verbindliche Normen“).
4 Vgl. Kontrollratsdirektive Nr. 10, Ziff. 2a, 2d; Kontrollratsdirektive Nr. 11, Art. I, II, IV.
5 Vgl. zum Ganzen Stappert: Alliierte Kontrollbehörde in Deutschland, S. 151-152.