Seit über zwanzig Jahren wirft das muslimische Kopftuch regelmäßig öffentliche Debatten über Inhalt und Werte der französischen Republik, ihr Verhältnis zu kultureller Pluralität im Allgemeinen und zur maghrebinischen Bevölkerung aus den ehemaligen Kolonien im Besonderen auf. Diese stellt den Hauptteil der muslimischen Minderheit Frankreichs dar. Das Kopftuch ist zum Symbol der Bedrohung laizistischer Werte und somit der Republik schlechthin geworden und gilt als Vorzeichen eines fundamentalistischen Islams, der mit den demokratisch-liberalen Werten Frankreichs nicht kompatibel erscheint. Anfang 2003 bis Anfang 2004 flammten die Diskussionen um das Kopftuch in Frankreich besonders stark auf und riefen leidenschaftliche innergesellschaftliche Kontroversen hervor, die alle anderen nationalen und internationalen Debatten überragten. Forderungen nach einem gesetzlichen Verbot des Kopftuches wurden immer eindringlicher: Es ginge um Laizismus, den Erhalt der Einheit der französischen Republik, um den Schutz der jungen Muslima vor männlicher Unterdrückung und damit die Wahrung der Menschenrechte, darum, das Vordringen eines politischen, für die Republik gefährlichen Islam aufzuhalten und daraus folgenden „kommunitaristischen Tendenzen“ Einhalt zu gebieten. Die Debatten nahmen ein Ausmaß an, welches die Regierung im Herbst 2003 bewog, eine Expertenkommission mit der Aufgabe zu betrauen, die Einhaltung der laizistischen Grundprinzipien in der Republik und insbesondere an Frankreichs Schulen zu prüfen. Die sogenannte „Stasi-Kommission“ entwarf unter Leitung des Experten für Immigration Bernard Stasi nach mehrmonatigen Untersuchungen einen Gesetzentwurf, der die allgemeinen Forderungen bekräftigte, Mädchen im schulpflichtigen Alter das Tragen des Kopftuches im Schulunterricht zu untersagen. Im März 2004 wurde ein Gesetz zum Verbot des Tragens ostentativer religiöser Zeichen an Schulen und in öffentlichen Institutionen verabschiedet.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Forschungsstand
III.I Diskursanalyse
III.II Schritte der Analyse
1. Teil: Hintergründe der Kopftuchdebatte in Frankreich
1.1 Laizismus und staatlicher Bildungsauftrag in Frankreich
1.2 Die Handhabung religiöser Praxis an Frankreichs Schulen
1.3 Sozialer Laizismus und die Angst vor kulturellem Pluralismus
1.4 „Islam de France“ versus „Islam en France“ - Charakteristika eines französisch-europäischen Islams
2. Teil: Die maghrebinische Gemeinde in Frankreich
2.1 Immigration, Einbürgerung und Status der maghrebinisch-stämmigen Bevölkerung
2.2 Organisation islamischen Glaubens und die Gründung des CFCM
2.3 Glauben und Spiritualität der 2. Generation
3. Teil: Das Gesetz zum Verbot des Kopftuches an Schulen
3.1 Entwicklung der Kopftuchaffäre seit 1989 bis zum Gesetzentwurf der Stasi-Kommission
3.2 Contra und Pro des Gesetzes – Hauptargumente in wissenschaftlichen Debatten
3.2.1 Contra
3.2.2 Pro
3.3 Die Darstellung der Kopftuchdebatte in den Medien am Beispiel dreier populärer Tageszeitungen um die Jahreswende 2003/
3.3.1 Methodik
3.3.2 Analytische Auswertung
3.3.3 Fazit
4. Teil: Erscheinungsformen des muslimischen Kopftuches unter Berücksichtigung der Aussagen von Protagonistinnen
4.1 Aussagen zum Kopftuch im Koran
4.2 Die drei Bedeutungen des Kopftuches
4.2.1 Das traditionelle Kopftuch
4.2.2 Das Kopftuch heranwachsender Mädchen
4.2.3 Das „individuelle“ Kopftuch
5. Teil: Wir sind muslimisch und französisch! Das Kopftuch französischer Muslima in der Kontroverse
5.1 Das Kopftuch als Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen und Möglichkeit der Bildung einer individuellen, französisch-muslimischen Identität
5.2 Das Kopftuch als Ausdruck eines Generationskonfliktes
5.3 Das „individuelle“ Kopftuch als Zeichen weiblicher Selbstbestimmung und Emanzipation
5.4 Der Bezug auf die religiösen Texte: Gefahren und Möglichkeiten
6. Teil: Konklusion
6.1 Das Kopftuch im gesamtgesellschaftlichen Diskurs
6.2 Das Kopftuch französischer Muslima
7. Literaturverzeichnis
8. Glossar
9. Anhang: Übersetzung der verwendeten Zitate
I. Einleitung
Seit über zwanzig Jahren wirft das muslimische Kopftuch regelmäßig öffentliche Debatten über Inhalt und Werte der französischen Republik, ihr Verhältnis zu kultureller Pluralität im Allgemeinen und zur maghrebinischen Bevölkerung aus den ehemaligen Kolonien im Besonderen auf. Diese stellt den Hauptteil der muslimischen Minderheit Frankreichs dar. Das Kopftuch ist zum Symbol der Bedrohung laizistischer Werte und somit der Republik schlechthin geworden und gilt als Vorzeichen eines fundamentalistischen Islams, der mit den demokratisch-liberalen Werten Frankreichs nicht kompatibel erscheint.
Anfang 2003 bis Anfang 2004 flammten die Diskussionen um das Kopftuch in Frankreich besonders stark auf und riefen leidenschaftliche innergesellschaftliche Kontroversen hervor, die alle anderen nationalen und internationalen Debatten überragten. Forderungen nach einem gesetzlichen Verbot des Kopftuches wurden immer eindringlicher: Es ginge um Laizismus, den Erhalt der Einheit der französischen Republik, um den Schutz der jungen Muslima vor männlicher Unterdrückung und damit die Wahrung der Menschenrechte, darum, das Vordringen eines politischen, für die Republik gefährlichen Islam aufzuhalten und daraus folgenden „kommunitaristischen Tendenzen“ Einhalt zu gebieten. Die Debatten nahmen ein Ausmaß an, welches die Regierung im Herbst 2003 bewog, eine Expertenkommission mit der Aufgabe zu betrauen, die Einhaltung der laizistischen Grundprinzipien in der Republik und insbesondere an Frankreichs Schulen zu prüfen. Die sogenannte „Stasi-Kommission“ entwarf unter Leitung des Experten für Immigration Bernard Stasi nach mehrmonatigen Untersuchungen einen Gesetzentwurf, der die allgemeinen Forderungen bekräftigte, Mädchen im schulpflichtigen Alter das Tragen des Kopftuches im Schulunterricht zu untersagen. Im März 2004 wurde ein Gesetz zum Verbot des Tragens ostentativer religiöser Zeichen an Schulen und in öffentlichen Institutionen verabschiedet.
Was aber führte tatsächlich dazu, dass die Kopftuchdebatte Politik und Medien in einem derartigen Umfang beschäftigen konnte, und die Republik sich in ihren Fundamenten, bzw. in den Werten, die diese konstituieren, in Frage gestellt sah? Können einige von Minderjährigen an Schulen getragene Kopftücher die Einheit der Republik und das Konzept des Laizismus tatsächlich so stark bedrohen, dass ihnen per Gesetz Einhalt geboten werden muss, oder werden an den Mädchen gesellschaftliche Probleme abgearbeitet, die nur entfernt etwas mit der eigentlichen Aussage des Kopftuches zu tun haben? Kann überhaupt von dem einen Kopftuch gesprochen werden, oder stellt dieses nicht vielmehr eine Bandbreite von Bedeutungen dar, die von der Unterstreichung ethno-religiöser Abstammung, traditionellem Habitus bis zur Betonung religiöser Identität reicht?
Ist das Kopftuch tatsächlich ein Zeichen weiblicher Unterdrückung und damit ein Affront gegen die in den internationalen Menschenrechten verankerte Geschlechtergerechtigkeit?
All diese im Zuge des gesellschaftlichen Diskurses um das Kopftuch aufgeworfenen Fragen hängen nicht zwingend zusammen, sind aber im Verlauf der Debatte kontinuierlich miteinander vermischt worden. So entstand ein dichtes Themenknäuel, welches durch das Tuch und den Begriff der Kopftuchdebatte selbst nur lose zusammengehalten wurde.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, dieses Knäuel zu entwirren und die Einzelthemen, aus denen sich die Debatte nährte, herauszuarbeiten.
Die Grundannahme meiner Arbeit lautet, dass die Thematik des Kopftuches und die an dieses Symbol geknüpften Assoziationsstränge wie fundamentalistischer Islam, kultureller Archaismus und weibliche Unterdrückung für eine Reihe gesellschaftlich relevanter Nebendiskurse wie der Frage nach der Identität der französischen Republik in einer religiös und kulturell zunehmend pluraler werdenden Gesellschaft und der Handhabung einer stetig wachsenden islamischen Gemeinde in Frankreich instrumentalisiert wird.
Die verhältnismäßig geringe, laut offiziellen Statistiken seit den 80er Jahren konstante bzw. leicht abnehmende[1] Anzahl Kopftuch tragender Muslima in Schulen und öffentlichen Einrichtungen unterstützt überdies die Hypothese, dass diese Mädchen als Kompensa-tionsmoment für gescheiterte Integrationskonzepte und Probleme fungieren, die aus der sozialen Benachteiligung der maghrebinisch-stämmigen Bevölkerung Frankreichs herrühren. Die nicht zur vollständigen Assimilation bereiten französischen Muslima werden, obschon französisch und in Frankreichs Institutionen sozialisiert, trotz formal gleicher Rechte nicht als vollwertige französische Bürgerinnen angesehen.
Im ersten Teil dieser Magisterarbeit wird der Begriff des Laizismus geklärt, der durch den Islam im Allgemeinen und die Kopftuch tragenden Mädchen im Besonderen als gefährdet angesehen und innerhalb der Kopftuchdebatte besonders stark diskutiert wurde. Das Prinzip des Laizismus war die Grundlage, auf der die Stasi-Kommission einberufen wurde und schließlich die Notwendigkeit eines neuen Gesetzes bekräftigte.
Eng an die Frage der Verträglichkeit religiöser Symbole mit der laizistischen Neutralität des öffentlichen Raumes gekoppelt ist die Frage, welchen Platz die französische Gesellschaft einem aus ihrer Sicht akzeptablen „Islam de France“ (französischen Islam) zugesteht. Dieser wird dem Konzept eines mit den demokratischen Werten der Republik nicht kompatibel erscheinenden, universell ausgerichteten „Islam en France“ (Islam in Frankreich) im Diskurs oft entgegen gestellt.
Im zweiten Teil dieser Arbeit folgt die sozio-historische Darstellung der maghrebinisch-stämmigen Gemeinde in Frankreich, die den sozio-kulturellen Hintergrund der Hauptuntersuchungsgruppe dieser Arbeit ausmacht. Die aus der maghrebinischen Immigration hervorgegangenen muslimischen Frauen und Mädchen zählen zur 2. und 3. Generation. Diese charakterisiert sich durch eine maghrebinische Abstammung und eine französische Sozialisation.
Der dritte Teil der Arbeit beleuchtet die Entwicklung der Kopftuchdebatte seit 1989 bis zum Gesetzentwurf der Stasi-Kommission. Das Gesetz zum Verbot ostentativer religiöser Zeichen wird sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus Sicht der Medien dargestellt.
Eine empirische Feinanalyse des auf medialer Ebene geführten Diskurses anhand dreier populärer Tageszeitungen erhellt, wie die auf wissenschaftlicher Ebene an das Kopftuch gekoppelten Diskurse von den Medien aufgegriffen und wiedergegeben werden und die Medien dadurch die Debatte weiter angefacht haben. Untersucht wird insbesondere, welche Rolle den Medien in der Konstruktion der Kopftuchdebatte zukam.
Der vierte Teil der vorliegenden Arbeit widmet sich den Protagonistinnen selbst und der Frage, was diese mit dem Kopftuch ausdrücken möchten. Die von den französischen Medien oft als Argument gegen die Verschleierung zitierte Hypothese, das Kopftuch stehe für die Unterdrückung der Frauen und Rückschritt in der Geschlechter- und Menschen-rechtsdebatte, wird besonders berücksichtigt und von Seiten der Protagonistinnen kommentiert. Die gängigen Tageszeitungen und Zeitschriften gestehen den Mädchen kaum eigene Stimmen zu, nicht zuletzt weil deren Stellungnahmen der These widersprächen, das Tuch symbolisiere weibliche Sprachlosigkeit und Unterdrückung durch „den“ Islam und dessen männliche Vertreter. Jedoch haben eine Reihe von Ethnologen und Soziologen Aussagen von Protagonistinnen zusammengetragen. Diese belegen, dass die Kopftücher für die Muslima sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können.
Gegenstand des fünften Kapitels ist das „individuelle“ Kopftuch. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Frage, inwieweit eine individualisierte Form des Islams eine Option für die Mädchen darstellt, sich zwischen den Erwartungen der Familie und der gesellschaftlichen Umwelt zu situieren.
Ein sich durch sämtliche Kapitel dieser Arbeit ziehendes Untersuchungsmotiv ist die Frage, ob und auf welche Weise das im Laufe der Debatten gewissermaßen von den Mädchen „entfremdete“ Kopftuch verschiedenen öffentlichen Diskursen als legitimes Mittel diente, um von Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen der 2. und 3. Generation abzulenken, innergesellschaftliche Probleme abzuarbeiten und ein gemeinsames, französisches Identitätsgefühl stärken zu können.
II. Forschungsstand
Die Literaturrecherche zum Thema „Die Kopftuchdebatte in Frankreich“ zeigt auf, dass sich auch im wissenschaftlichen Literaturangebot die Argumentationspole der Medien und des öffentlichen Diskurses widerspiegeln. Es lassen sich ein sozial- und kulturwissenschaft-licher sowie ein sozio-politischer bzw. historischer Diskurs unterscheiden:
Ein großer Bereich der Literatur nähert sich dem Thema aus dem Blickwinkel des französischen Laizismus und betrachtet dessen Auswirkungen auf Rechte und Pflichten französischer Staatsbürger sowie die Gestaltung des öffentlichen Raumes angesichts einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur. Journalisten und Wissenschaftler dieser Richtung setzen das muslimische Kopftuch in einen sozio-historischen Kontext, indem sie Diskurse zur Geschichte und Realisierbarkeit des Laizismus in unmittelbaren Zusammenhang mit religiösen Zeichen an Schulen setzen und danach fragen, welchen Platz eine laizistisch orientierte Republik wie Frankreich Glauben und Religion zugestehen sollte und könnte.
In diesem Zusammenhang werden Bedingungen und Möglichkeiten eines aus französischer Sicht mit den Werten der Republik kompatiblen, gewissermaßen europäischen „Islam de France“ diskutiert, der dem Konstrukt eines universalistisch orientierten, nationen-unabhängigen „Islam en France“ entgegengestellt wird.
Dem gegenüber steht ein sozial- und kulturwissenschaftlicher Diskurs, der die religiöse und kulturelle Identität der aus der maghrebinischen Immigrationsbevölkerung hervorgegangen-en Generationen Frankreichs, Integrationskonzepte sowie die muslimische Geschlechter-rollenverteilung zu zentralen Ausgangspunkten weiterer Betrachtungen macht.
Zwischen diesen beiden Polen befindet sich eine große Anzahl von mehr oder weniger in die eine oder andere Richtung tendierender Werke.
Dem Großteil dieser sich zwischen den Polen Laizismus und Integration kultureller bzw. religiöser Diversifikation bewegenden relativ facettenreichen Literatur ist ein Merkmal gemeinsam: Es fehlt meist die Stimme der Mädchen, über die, als zentrales Ausgangs-moment der aktuellen Kopftuchdebatte, viel diskutiert und theoretisiert wird, denen jedoch auffällig wenig Platz für eigene Stellungnahmen und Sichtweisen eingeräumt wird.
Ausnahmen bieten diesbezüglich vor allem die Werke von Françoise Gaspard[2] und Farhad Khosrokhavar[3], Nancy Venel[4], Amel Boubekeur[5] und Dounia Bouzar[6], die anhand ethno-graphischer Untersuchungen individuelle Motive und Beweggründe der muslimischen Französinnen ermitteln.
Die Anthropologin Dounia Bouzar vertritt in ihrem Essay „Françaises et musulmanes, entre réappropriation et remise en questions des normes“ die These, dass die Kopftuch tragenden jungen Frauen mit der Unauffälligkeit und Diskretion der Eltern brechen, um sich eine eigene, ihre bi-kulturellen Prägungen vereinigende Identität zu konstruieren. Diese konkurriert nicht zwangsläufig mit den Werten der Republik, stellt jedoch das republikanische „Entweder-Oder“-Denken in Frage. Nicht als entweder muslimisch oder französisch bezeichnen sich nach Bouzar die größtenteils in Frankreich aufgewachsenen Mädchen, sondern als beides. Deutlich wird an Bouzars Arbeiten auch, dass die französisch-nationale Zugehörigkeit der Protagonistinnen nicht mehr mit der elterlichen Kultur des Maghrebs konkurriert. Stattdessen konkurriert sie zunehmend mit einer Religion. Deren universalistische Ausrichtung stellt zwar ein Band zur elterlichen Kultur dar, ermöglicht den Mädchen durch bessere Kenntnisse der sakralen Texte aber Argumenta-tionsstrategien, durch die sie sich gewisse Handlungsfreiräume innerhalb der Familie erkämpfen können.
Gleichzeitig warnt sie, vor allem in ihrem Artikel „Du deni de l`islam à l`enfermement dans la facette musulmane“ vor einer Idealisierung der Religion durch die Mädchen. Durch eine Überinterpretation der sakralen Texte ohne deren Kontextualisierung und sozio-historische Einbettung liefen die Mädchen Gefahr, sich selber einzugrenzen und sich so diverser Möglichkeiten bezüglich Lebensentwürfe und Arbeitsmöglichkeiten zu berauben. Der ausschließliche Bezug auf die originalen, Geschlechterdualismus propagierenden Quellen bei sämtlichen Lebensfragen führe zur zunehmenden Ausblendung weiterer, tiefergehender Emanzipationsprozesse.
Aufsätze der Sammelbände „Le Foulard Islamique“[7], herausgegeben von Charlotte Nordmann, sowie „Le voile, que cache-t-il ?“[8], veröffentlicht von Alain Houziaux, spiegeln aktuelle französische Standpunkte zum islamischen Kopftuch sowie zu dem im März 2004 verabschiedeten Gesetz zum Verbot religiöser Zeichen an Frankreichs Schulen wider. Ersterer zeigt durch Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen die Komplexität des Themas auf: So beschreibt z. B. Pierre Bourdieu[9] die, hinter der aktuellen Kopftuchdebatte verborgenen, im Zuge der nachkolonialen Integrations- und Einbürger-ungspolitiken gegenüber der maghrebinisch-stämmigen Immigrationsbevölkerung entstan-denen innergesellschaftlichen Probleme Frankreichs. Der Ethnologe Emanuel Terray[10] diskutiert die sprachliche Doppeldeutigkeit des Gesetzentwurfes und skizziert mögliche Erklärungen sowie gesellschaftspolitische Konsequenzen des neuen Gesetzes.
Der zweite oben genannte aktuellere Sammelband ist u. a. interessant, weil sowohl der Professor für Geschichte und Soziologie des Laizismus Jean Baubérot[11] wie auch Jacqueline Costa-Lascoux[12] Mitglieder der Stasi-Kommission waren. Baubérot stimmte als einziges Mitglied des Expertenteams gegen den Gesetzesvorschlag.
Die anthropologischen Auseinandersetzungen John R. Bowens beschäftigen sich mit der Beziehung zwischen dem Islam und Frankreich. In seinem Aufsatz „Does French Islam Have Borders? Dilemmas of Domestication in a Global Religious Field“[13] untersucht er das von Muslimen in Frankreich gespürte Dilemma, einerseits Teil einer globalen muslimischen Gemeinschaft werden zu wollen und andererseits den französischen Forderungen nach politischer und kultureller Konformität zu genügen. Seine Überlegungen zu sozialem Laizismus, als einer von verschiedenen Forderungsstrategien kultureller Homogenität in Frankreich, verdeutlichen die Vielschichtigkeit und Brisanz der aktuellen Kopftuchdebatte. In seiner Arbeit „Shari`a, State, and Social Norms in France and Indonesia”[14] beschäftigt er sich darüber hinaus mit der Frage, inwieweit ein Staat wie Frankreich in die Organisation sozialer Lebensbedingungen, religiöser und kultureller Gesellschaftselemente und Wahrung der Menschenrechte eingreifen kann. Er untersucht, welche transnationalen Elemente dabei zu beachten sind und ab welchem Punkt ein Staat soziale und damit konstruierte Normen auf Kosten lokaler oder regionaler Erscheinungsvielfalt für universell und verbindlich erklärt. Anhand mehrerer Beispiele zeigt Bowen die Konfliktträchtigkeit des Anspruches, normative Verschiedenheit mit politischer Einheit zu verbinden.
Lila Abu-Lughod thematisiert in ihrem Essay „Do Muslim Women really need Saving? Anthropological Reflections on Cultural Relativism and Its Others“[15] die Gefahr, Kopftuch tragende Frauen in islamischen Ländern nach westlichen Maßstäben zu vereinheitlichen und deren eigene konträre Bestrebungen als Resultat ihrer Unterdrückung und vermeintlich anerzogener Reflexionsunfähigkeit anzusehen. Obwohl die amerikanische Anthropologin ihre Thesen am Beispiel afghanischer Frauen erläutert, lässt sich ihre Warnung vor einem eurozentrischen Blick, der davon ausgeht, Frauen entgegen ihren eigenen Aussagen zu ihrem eigenen Besten schützen oder befreien zu wollen, anschaulich auf die jungen Frauen Frankreichs übertragen.
Der Ethnologe Charles-Henry Pradelles de Latours zeigt auf, in welch starkem Maße die Kultur- und Wertvorstellungen der Kinder afrikanischer Einwanderungsfamilien von denen der Elterngeneration abweichen. In seinem Aufsatz „Clivages et dérapages. Première et deuxième générations d´Africains en banlieue parisienne“[16] untermauert Pradelles die These, dass die maghrebinischen Mädchen durch das Tragen des Kopftuches keineswegs ihre bedingungslose Unterordnung unter das traditionelle maghrebinisch-patriarchalische Geschlechterverhältnis symbolisieren wollen. Die durch das Tuch demonstrierte Hinwend-ung zur Religion dient ihnen vielmehr als Hilfsmittel, um sich von der elterlichen Kultur abzugrenzen.
Aussagen der Kopftuch tragenden Mädchen analysiere ich besonders unter Berücksichti-gung der bereits erwähnten ethnographischen Studien von Françoise Gaspard und Farhad Khosrokhavar. Darüber hinaus ziehe ich die sich ebenso auf ethnographische Untersuch-ungen stützenden Werke Nancy Venels für meine Thesen heran. Die Autoren haben anhand qualitativer Interviews maghrebinische Mädchen unterschiedlichen Alters zu Beweg-gründen, Konflikten und Idealen bezüglich des Kopftuches und auch zu deren Verhältnis zu liberalen Werten, Geschlechtergerechtigkeit und Selbstverwirklichung befragt. Die Arbeiten zeigen, dass die Kopftuch tragenden Frauen keine homogene Gruppe darstellen, sondern höchst individuelle Beweggründe und Motivationen zum Anlegen des Tuches haben.
Der Ethnologe, Psychoanalytiker und Politikwissenschaftler Malek Chebel[17] beschäftigt sich intensiv mit neuen Denkansätzen innerhalb der zwischen Tradition und Modernität stehenden islamischen Kultur und legt einen Schwerpunkt seiner Forschungen auf Körperkonzepte und -verständnis im Islam. Hinsichtlich der spezifischen Situation französischer Muslima in Frankreich und deren Strategien im Aufbau einer eigenen Identität ist besonders seine Beschäftigung mit der Bildung politischer Identität zu erwähnen.[18] Er legt die vielfältigen Mechanismen der Identitätsbildung und Identifika-tionsfaktoren bei diskriminierten bzw. entrechteten Subgruppen einer Gesellschaft dar.
Der Artikel Massignons „Laïcité et gestion de la diversité religieuse à l`école publique en France“[19] sowie der Bericht „Religious Diversity in Schools: the Muslim Headscarf Controversy and Beyond“[20] von Molokotos Liedermann bieten detaillierte Einblicke in das französische Schulsystem. Der Schwerpunkt liegt hierbei jeweils auf der Sichtbarmachung und Problematisierung des staatlichen Anspruches, einen Bildungsauftrag für alle Einwohner Frankreichs verpflichtend zu machen und damit eine gemeinsame Basis republikanisch - französischer Werte und Identität zu schaffen.
Zum Thema Kopftuch und dessen Deutungsansätze innerhalb der weiblich-muslimischen Welt Frankreichs ist die Arbeit Leila Babès „Le voile démystifie“[21] von Bedeutung. Darin widerlegt Babès die These, der Schleier sei eine religiöse Vorschrift und eine Art sechster Pfeiler des muslimischen Glaubens. Nach Babès wählen eine große Anzahl junger, französischer Muslima die Kopfbedeckung freiwillig, um verschiedene Rechte zu erwirken. Da diese Frauen grundsätzlich den im Koran verankerten polaren Geschlechterrollen verhaftet bleiben, spricht sie ihnen eine feministische Grundhaltung im Sinne der Erstrebung reeller Geschlechtergerechtigkeit jedoch ab.
Im Zusammenhang mit Diskursen zum Konzept eines europäischen Islams und der Frage nach der Kompatibilität muslimischer Werte mit demokratischen Prinzipien und Frauenrechten ist besonders der Sammelband „Der neue Islam der Frauen. Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne – Fallstudien aus Afrika, Asien und Europa“[22] anzuführen. Arbeiten verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Fachrichtungen erörtern hier insbesondere die Frage, inwieweit Globalisierung und Individualisierung des Glaubens das Entstehen eines neuen, weiblich interpretierten und gelebten Islams fördert. So beschreibt die Ethnologin Ruth Klein-Hessing[23] in einem Gemeinschaftsartikel mit den anderen beiden Herausgeberinnen des Bandes den Zusammenhang zwischen der Globali-sierung des Islams und dem Entstehen weiblicher Mikropolitiken. Monika Salzbrunn[24] beleuchtet Strategien afrikanisch-stämmiger Muslima in Frankreich, die zur Befreiung von der doppelten Zuschreibung seitens der Gesellschaft und der elterlichen Kultur angewandt werden. Nancy Venel[25] stellt hier einen Ausschnitt ihrer oben erwähnten Forschung zur Bedeutungsspannbreite von Kopftüchern bei der 2. Generation in Frankreich am Beispiel von Studentinnen vor.
Aufschlüsse zum Islam in Frankreich liefert darüber hinaus der von Robert Bistolfi und Francois Zabbal herausgebrachte Sammelband „Islams d´Europe. Intégration ou insertion communautaire?“[26]. Hier beleuchten z. B. Dominique Schnapper[27] den französischen Diskurs über Nationalität und Staatsbürgerschaft, Mohamed Arkoun[28] den konflikt-trächtigen, aber notwendigen Dialog zwischen Islam und Laizismus sowie Catherine Withol de Wenden[29] die religiöse Dimension politischer Praxis.
Schirin Amir-Moazami beschäftigt sich in ihrer Arbeit u. a. mit soziokulturellen, interaktiven Faktoren, die durch extern sowie intern bedingte Wirkungsmechanismen innerhalb der französisch-islamischen Gemeinde Frankreichs zu Diskontinuitäten in der Weitergabe und im Erhalt traditioneller Wertevorstellungen führen. Im Zuge gesellschaft-licher Entwicklungsprozesse leiteten diese letztlich deren Transformation, Hybridisierung sowie sozio-kulturelle Reformen, ein. In dem Artikel „Gender, generation, and the reform of tradition: from Muslim majority societies to Western Europe”[30] beschreibt sie, in Zusammenarbeit mit Armando Salvatore, das Kopftuch als Ausdrucksmittel und Ventil eines Intergenerationskonfliktes. In ihrem Beitrag „Hybridity and Anti-Hybridity: The Islamic Headscarf and its Opponents in the French Public Sphere”[31] in der von Armando Salvatore herausgegebenen Aufsatzsammlung „Muslim traditions and modern techniques of power” thematisiert sie die im Zuge der Debatte um das Tuch entstandene Dynamik der Konstruktion verschiedener Identitäten und entwickelt das Konzept von hybriden kulturellen Identitäten.
Es lassen sich demnach ein kulturimmanenter und ein universalistisch orientierter Ansatz in der Auseinandersetzung um das „Kopftuch“ unterscheiden. Ersterer untersucht die Kopf-tuchträgerinnen in ihrem sozio-historischen, kulturellen und sozialen Bezugsrahmen und sieht sie als ein innergesellschaftliches Phänomen. Demgegenüber basiert der universa-listisch ausgerichtete Ansatz auf dem Gedanken, dass die Menschenrechte unabhängig von Kultur, Religion, Tradition und Geschlecht für alle Gültigkeit besitzen. Er setzt die Muslima in den von Frankreich losgelösten, internationalen Kontext eines globalen Islams. Die französischen Muslima erscheinen bei diesem Ansatz nur als ein Aufhänger, nicht als Zentrum der Kopftuchdebatte. Das von ihnen getragene Kopftuch erscheint hier nicht als soziale Aktion, sondern als Auswirkung ihnen übergeordneter gesellschaftlicher Diskurse.
III.I Diskursanalyse
Die vorliegende Arbeit ist eine Analyse des aktuellen Kopftuchdiskurses in Frankreich. Es wird herausgearbeitet, in welcher Form und mit welchen Inhalten der Kopftuchdiskurs in Frankreich auftritt, mit welchen Strategien er sowohl auf den Ebenen der Medien, der Politik und Wissenschaft als auch auf der Ebene des alltäglichen Lebens selbst geäußert wird und durch welche Strategien das Kernthema genährt und auf andere Phänomene ausgebreitet wird. Hierfür bediene ich mich der Methode der Diskursanalyse[32].
Am Anfang jeder Diskursanalyse steht die Frage nach den theoretischen und methodischen Vorüberlegungen. Hierzu zählen diskurstheoretische Voraussetzungen ebenso wie die Klärung der für die Untersuchung zentralen Begriffe. Im Falle der Kopftuchdebatte sind der Laizismus, ein französischer Islam, die 2. Generation und Identität wesentliche Schlüssel-elemente. Daher werden sie im Rahmen dieser Arbeit im Haupttext geklärt.[33]
Den für eine kulturwissenschaftliche Orientierung in der Diskursanalyse mir am geeignetsten erscheinenden Ansatz beschreibt Jäger als eine Analyse aktueller Diskurse und ihrer Machtwirkung. So können ihre Repräsentationsformen, insbesondere ihre Kollektiv-symbolik, die zur Vernetzung der verschiedenen Diskursstränge beiträgt, und die Funktion von Diskursen als herrschaftslegitimierende und -sichernde Techniken in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sichtbar gemacht werden.[34] Wichtig an diesem Ansatz ist insbesondere die, anhand der Kopftuchdebatte sehr deutlich werdende, Inkompatibilität mit dem Diskursverständnis des Soziologen Jürgen Habermas. Dieser definiert den Diskurs als herrschaftsfreie, rational argumentierende, öffentliche Debatte über bestimmte Themen, propagiert also einen rationalen und machtneutralen Diskursbegriff.[35]
Ein Diskursverständnis, zusammengefasst als gesellschaftliche, institutionalisierte Kommu-nikation, die bestimmten veränderbaren Regeln unterliegt und Machtwirkungen entfaltet, weil und sofern sie das Handeln von Menschen bestimmt, schließt dagegen an den Diskursbegriff Michel Foucaults an[36]. Foucault fasst Diskurs als gesellschaftliche Rede auf, die sich in verschiedene Bereiche unterteilt. Diese sind das Ergebnis einer durch gesellschaftliche Arbeitsteilung entstandenen Ausdifferenzierung und gelten als in sich spezialisiert. Die spezialisierten Diskurse der verschiedenen Diskursebenen (z. B. Wissenschaft, Politik und Medien) verfügen als besondere Wissensbereiche über Macht, die sich in ihrer Anwendung durch die Protagonisten der Diskurse manifestiert.[37]
Aus der Sicht Foucaults beruht die menschliche Produktivität gesellschaftlicher Kommuni-kationsprozesse auf historischem Wandel unterworfenen Techniken des Sprechens und der Rhetoriken, den diskursiven Praktiken.[38] Unter diskursiver Praxis wird dabei das Ensemble einer speziellen Wissensproduktion verstanden, welches aus Institutionen, Verfahren der Wissenssammlung und -verarbeitung, autoritativen Sprechern bzw. Autoren sowie Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung und Medialisierung besteht.[39]
Dieses „Wissen“ wird ideologisch als „richtiges Wissen“ konstruiert. Es entfaltet große Überzeugungskraft.[40] Die sozio-historische Flexibilität der Diskurse liegt in ihrer dialektischen Beziehung zu der ihren jeweiligen Kontext bildenden Sozialstruktur begründet: Beide wirken wechselseitig als Bedingung und Effekte. So konstituieren Diskurse Konzepte von der Auffassung der Welt und werden umgekehrt durch sie konstituiert; sie (re)produzieren und transformieren Gesellschaft; sie leisten die Konstruktion von Wissens- und Glaubenssystemen sowie von sozialen Identitäten und sind entscheidend für die Herstellung von sozialen Beziehungen zwischen Personen.[41]
Die Diskursanalyse bietet die Möglichkeit, diese wechselseitige Beeinflussung aufzudecken und darüber hinaus das „Wissen“ und die Institutionen und Regelungen, die es unterstützen, kritisch zu hinterfragen. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass „Wahrheiten“ historisch-diskursiv erzeugt werden und selbst im ungezwungensten Alltagsgespräch vorhanden sind.[42]
Damit kommt dem Sprachgebrauch in der Diskursanalyse besondere Bedeutung zu, da er ideologisch, strategisch und konstituierend ist. Die Diskursanalyse konzeptualisiert Sprache als Form von sozialer Praxis und versucht, den Menschen die ihnen meist nicht bewusste Beeinflussung von Sprache und sozialer Struktur bewusst zu machen. Da sie interpretativ und klärend ist, impliziert die kritische Analyse eine Verbindung diskursbestimmender Texte mit ihren sozialen Bedingungen, Ideologien und Machtbeziehungen.[43] Dabei geht es im diskursanalytischen Ansatz in erster Linie um die Untersuchung interdiskursiver Beziehungen zwischen unterschiedlichen Einzeldiskursen und vor allem um Funktions-weisen gesellschaftlicher Kollektivsymbolik, wie z. B. „Bildlichkeit“, Metaphorik, Stereo-typen und Klischees.[44]
Das Kopftuch und dessen Nutzung als metaphorische Projektionsfläche für eine Vielzahl von Einzel- bzw. Interdiskursen, die in ihrer Gesamtheit die Kopftuchdebatte konstruieren, verdeutlicht die Bedeutung von Kollektivsymbolen für die Dauerhaftigkeit und den Einfluss des Diskurses im gesellschaftlichen Kontext. Dabei ist nicht die Hermeneutik von Einzelbeispielen, wie z. B. einzelne verschleierte Muslima, Bilder von religiösen Relikten oder Zeitungstexte über einzelne muslimische Ereignisse entscheidend, sondern der Effekt ständiger Wiederholung von Applikationsvorlagen und punktuellen Applikationsvorgängen. Erst die ständige Wiederholung immer gleicher Symbole führe im gesellschaftlichen Verständnis beispielsweise zur Verknüpfung metaphorischer Einzelelemente wie „Kopftuch“, „Islam“, „Verschleiern von etwas“ und „Infragestellung der laizistischen Grundwerte Frankreichs“ und letztlich zur Ausbildung verschiedener Diskursfragmente[45].
III.II Schritte und Eingrenzung der Analyse
Das allgemeine Ziel der Diskursanalyse ist es, Diskursstränge bzw. die Interaktionen mehrerer Diskursstränge historisch und gegenwartsbezogen kritisch zu analysieren. Da nach Jäger[46] eine Feinanalyse jeglicher Diskursfragmente, die zu einem Diskursstrang gehören, aus forschungspragmatischen Gründen kaum möglich ist, stellt die problemorientierte Eingrenzung der Fragestellungen sowie etwaiger zu analysierender Texte einen wesent-lichen Bestandteil der Diskursanalyse dar. Entsprechend erfasst die Struktur- oder Grobanalyse nach Jäger[47] zwar alle Diskursfragmente eines Diskursstranges, beschränkt sich aber auf die Darstellung ihrer wesentlichen Merkmale.
Die vorliegende Arbeit kann im Sinne Jägers als Überblicksanalyse bezeichnet werden: Im Mittelpunkt steht der gesamtgesellschaftliche Diskurs der Kopftuchdebatte in Frankreich. Er stellt ein verzweigtes, ineinander verwobenes Netz dar, welches verschiedenste sozio-politische Ebenen erfasst. Die Diskursanalyse dient dazu, dieses Netz zu entwirren und einzelne Diskursstränge herauszuarbeiten. Diese werden auf der Ebene der Wissenschaft, der Politik, der Medien sowie des Alltags positioniert und ihre gegenseitige Beeinflussung herausgearbeitet.[48]
Eine Vergegenwärtigung des Laizismus und der daran geknüpften Unterthemen wie der Konstruktion nationaler bzw. individueller Identität, der Problematisierung religiöser und kultureller Pluralität im Kontext einer europäisch-demokratischen Gesellschaft sowie in deren Integrationskonzepten ist unabdingbar, um den sozio-historischen Kontext der Debatte sichtbar zu machen. Gleichzeitig stellen diese Themen für das Verständnis des Gesamtdiskurses wichtige Diskursfragmente dar. Gleiches gilt für Beschaffenheit und Organisation der maghrebinischen Gemeinde in Frankreich, die den sozio-kulturellen Hintergrund der Hauptuntersuchungsgruppe der vorliegenden Arbeit darstellt.
Im weiteren Verlauf werden teilweise widersprüchliche, sich ergänzende oder ausschließen-de Diskursfragmente auf wissenschaftlicher sowie auf politischer Ebene herausgearbeitet, die jeweils bestimmte interdiskursive Elemente ins Zentrum ihrer Argumentationen stellen.
Erst hieran schließt der empirische Teil dieser Arbeit an, der aus der Feinanalyse aller innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zur Thematik erschienenen Artikel dreier Tages-zeitungen besteht. Die vorangehende Grobanalyse des gesamtgesellschaftlichen Diskurses und dessen Untergliederung in verschiedene Diskursfragmente ermöglicht dabei die Herausarbeitung zweier wichtiger Aspekte:
Zum einen können die Artikel unter Berücksichtigung der sich anhand der Grobanalyse herausschälenden Unter- und Nebenthemen betrachtet und deren Verknüpfungen heraus-gearbeitet werden. Darüber hinaus ermöglicht die Analyse der Zeitungsartikel die Überprüfung der Frage, ob und inwiefern die auf wissenschaftlicher und sozio-politischer Ebene vertretenen Argumentationsstränge sich in den Medien wiederfinden und auf diese Weise weitergegeben, transformiert und verschärft werden. Da Texte in diesem Zusammen-hang als Elemente eines über-individuellen sozio-historischen Diskurses begriffen werden müssen,[49] stellt die anhand der Zeitungsartikel vorgenommene Textanalyse die Feinanalyse der Arbeit dar. Diese beschäftigt sich mit einem Teil des diskursiven Raumes. Da die Medienpräsenz und -wirksamkeit des Diskurses auch seine notwendige Voraussetzung ist, kommt diesem Teil der Arbeit eine besondere Bedeutung zu.
Den bis dahin ermittelten, sich auf den Diskursebenen der Wissenschaft, Politik und Medien bewegenden Diskursfragmenten wird anschließend der mittels ethnographischer Unter-suchungen gewonnene sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurs sowie auf der Ebene des Alltags die Innensicht der Probandinnen gegenüber gestellt.
Diese Vorarbeiten ermöglichen die zusammenfassende Analyse einzelner Diskursfragmente im letzten Teil der Arbeit. Die Kenntnis der auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vorherrschenden Nebendiskurse ermöglicht hier eine Interpretation und Infragestellung von Diskursfragmenten. Konzepte zu individueller Identität, Emanzipation und Religion, und damit die Probandinnen selbst, rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung.
1. Teil: Hintergründe der Kopftuchdebatte in Frankreich
1.1 Laizismus und staatlicher Bildungsauftrag in Frankreich
Eine der beiden Hauptachsen, um die sich aktuelle Debatten um das muslimische Kopftuch in Frankreich drehen, ist neben der angeblichen Verletzung von Geschlechtergerechtigkeit und Menschenrechten der französische Laizismus. Die vermeintliche Gefährdung des Laizismus durch das Tragen des Kopftuches an Schulen führt nicht nur zu partei-übergreifenden Diskussionen und selbst bei unvereinbar anmutenden politischen Parteien, Vereinen und Frauenrechtlerinnen[50] zu gleichlautenden Forderungen, sondern entzündet auch auf wissenschaftlichem Niveau teilweise hitzig geführte Kontroversen über Interpretationsspielräume und Anwendbarkeit der laizistischen Prinzipien im heutigen Frankreich. Die Tragweite der national geführten Debatten wie auch die Konzentration auf den Laizismus betreffende Fragen innerhalb der facettenreicheren Thematik des muslimischen Kopftuches, verdeutlichen die Bedeutung des Laizismus für die Konzeption der französischen Republik. Gleichzeitig weisen die innergesellschaftlichen Diskussionen auf die Fragilität des Laizismus hin, wenn dieser als ein wesentlicher identitätsstiftender Wert der französischen Gesellschaft gesehen wird. Weit entfernt davon a-historisch, unflexibel und homogen zu sein, handelt es sich beim französischen Laizismus vielmehr um ein im Zuge geschichtlicher Prozesse entwickeltes, kontextabhängiges Prinzip, welches mit der bloßen Trennung von Staat und Kirche nur unzureichend definiert wird.[51]
Seine Anfänge findet der französische Laizismus im vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts. Im Absolutismus des Ancien Régime [52] besaß die katholische Kirche erhebliche Macht innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Eine Realisierung der im Zuge der Aufklärung auch auf politischer Ebene verstärkt propagierten Forderungen nach auf Vernunft basierendem Denken und Handeln wurde dadurch zusätzlich erschwert.[53]
Die Geburt des Citoyen, des emanzipierten, französischen Staatsbürgers, beginnt 1789 mit dem Artikel X der Déclaration des droits de l´homme et du citoyen „Nul ne peut être inquiété pour ses opinions, même religieuses“.[54]
Der Satz beinhaltet die Erlaubnis, heterodoxe Meinungen öffentlich auszudrücken, seien sie protestantischer, katholischer, jüdischer, atheistischer oder freigeistiger Art. Die im Zuge der Französischen Revolution vollzogene erste Phase der Laizisierung der Gesellschaft erkämpfte auf individuellem Niveau vor allem drei neue Rechte:
Die Freiheit des Bewusstseins und das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Legitimität der Pluralität des Ausdrucks und vor allem die Bestimmung des Individuums und seiner Rechte außerhalb der religiösen Normen.[55]
Auf staatlichem Niveau wurde die politische Macht von religiösen Angelegenheiten getrennt und die Religion wurde als Fundament politischer Macht vom Konzept der Nation abgelöst.[56] Die Armen- und Krankenpflege sowie das Erziehungswesen wurde von nun an zumindest formal dem Staat übertragen, während der entmachtete Klerus eine Rente aus öffentlichen Geldern erhielt. Im Laufe der nachrevolutionären Verhandlungen bekam er zeitweise den Status eines Ordens, was ihn zu einer sozial-politischen Kategorie und damit kontrollierbarer machte.[57] Die erste Phase der Laizisierung brachte den 1905 wieder aufgenommenen und berühmt gewordenen Satz des Gesetzes von 1795 hervor: „La République ne reconnaît, ne subventionne ni ne salarie aucun culte.“ [58] So wurde neben der Autonomie des Individuums nun auch die Souveränität des Staates gegenüber den Religionen gesetzlich verankert.
Die Betrachtung dieser historischen Phase des französischen Laizismus, der sich im 19. Jahrhundert im konfliktreichen Zusammenspiel der noch jungen, instabilen Nation mit der katholischen Kirche entwickelte und somit auch stark von Konflikten zwischen Republikanern und traditions- und monarchietreuen Katholiken geprägt wurde, ist für ein Verständnis der Interpretierbarkeit des Laizitätsprinzipes unabdingbar. Sie verdeutlicht, wie stark der Laizismus mit dem republikanischen Ideal und der Konstruktion des französischen Nationalstaates verbunden wird.
Nach erheblichen Machteinbußen durch die ersten Laizisierungsprozesse des nachrevo-lutionären Frankreichs konnte sich die katholische Kirche bis Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Restauration[59], in deren Zuge z. B. das Scheidungsrecht wieder abgeschafft wurde, eine koloniale Expansionspolitik und zahlreiche erstrittene Sonderrechte einen relativ starken Platz innerhalb der französischen Gesellschaft und Politik zurück erobern.
Mit dem Entstehen der republikanischen Staatsregierung nach 1877 erhält der Laizisierungsprozess der Gesellschaft während der Dritten Republik (1870-1940) neue Dynamik. Bislang der Kirche zugeordnete Bereiche wie Beisetzungen, Eheschließungen und die Verwaltung von Friedhöfen, wurden zu zivilrechtlichen Angelegenheiten.[60]
Entscheidend für die ideologische Aufladung des laizistischen Prinzips in der nationalen Selbstbeschreibung und der Konstruktion des französischen citoyen ist die Einführung der allgemeinen Schulpflicht an öffentlichen und gebührenfreien Grundschulen.[61] Die vom damaligen Erziehungsminister Jules Ferry 1882 erlassenen Schulgesetze laizisierten Programme, Orte und vor allem das in der nationalen Erziehung tätige Personal. Sinnbildlich für die Trennung von staatlicher Erziehung und religiöser Praxis ist das Ersetzen der bis dato obligatorischen Katechese durch einen Kurs über laizistische Moral. Die religiöse Unterweisung der Kinder lag nun in der Verantwortung von Eltern und kirchlichen Einrichtungen. Die Schule wurde zum öffentlichen Ort, da ihr Auftrag im wesentlichen in der Bildung der zukünftigen citoyens bestand.[62]
Verstärkt wurde dieses Bestreben durch die Vereinsgesetze von 1901, die zivile und laizistische Vereine extrem begünstigten, während sie religiöse Kongregationen stark reglementierten und im Erziehungssektor 1904 schließlich ganz verboten. Dies bedeutete, dass zahlreiche weiterführende Schulen, die anders als die Grundschulen trotz der Gesetze Ferrys vorerst in konfessioneller Hand bleiben durften, schließen mussten.[63]
Die daraufhin stattfindende Zuspitzung des Konfliktes spaltete die französische Gesellschaft in zwei opponierende Lager: die Anti-Klerikalen und Republikaner gegen Katholiken und katholische Kirche. Diese von zunehmender Radikalisierung beider Seiten geprägte Phase in der Entwicklung des französischen Laizismus wird oft als „guerre des deux France“[64] bezeichnet, der in das Gesetz von 1905 mündete. Dieses führte zur strikten Trennung von Kirche und Staat und den Ausschluss der Kirchen aus allen öffentlichen Institutionen. Die französischen Religionsgemeinschaften wurden dem Privatrecht unterstellt und sämtliche kircheneigene Güter der hierfür gegründeten Association cultuelle (Vereinigung religiösen Kultes) zugesprochen.[65] Der Status der Association cultuelle gewährleistete, trotz Verbotes öffentlicher Subventionen von Religionsgemeinschaften, jeder „spirituellen“ Organisation die Möglichkeit zur freien Religionsausübung.[66] Das noch heute gültige Gesetz gilt als entscheidender Schritt im Säkularisierungsprozess der französischen Gesellschaft.
Dem Gesetz von 1795 wird 1905 der Artikel 1 vorangestellt:
„La République assure la liberté de conscience. Elle garantit le libre exercice de culte.“[67]
Damit verpflichtet sich die Republik zur Neutralität gegenüber Religionen. Gleichzeitig wird die freie Ausübung jedes Kultes vom Staat garantiert. Das Gesetz stellt einen Kompromiss zwischen jenen Republikanern dar, die die katholische Kirche ganz auf den privaten Bereich reduzieren, und jenen, die aus der Laizität eine Zivilreligion für die französische Nation machen wollten.[68] Jean Baubérot spricht in diesem Zusammenhang von dem im Zuge des „conflit des deux France“ hervorgebrachten „laizistischen Pakt“ zwischen den beiden oppositionellen Lagern. Die Laizität sei dadurch zu einem Sieg des Kompro-misses geworden. Gleichzeitig warnt Baubérot:
„The notion of a new pact implies that although the initial conflict has disappeared, the conception of laicité as a compromise does not necessarily eliminate the risk of further conflict in the ever-changing social reality.”[69]
Die Kontextabhängigkeit der Laizität wird an zwei konkurrierenden Versionen des laizisti-schen Gesetzes von 1905 deutlich und unterstreicht das ideologische Potential des ambi-valenten Konzeptes.
Die liberaler ausgerichtete Version sieht in der Laizität in erster Linie ein Vehikel für die Freiheit des Bewusstseins. Sie stellt die fundamentalen Rechte, zu denen auch Freiheit religiösen Ausdrucks gezählt wird, in den Mittelpunkt. Religiöse Praxis soll sowohl in der privaten, als auch in der öffentlichen Sphäre respektiert werden, sofern sie nicht mit anderen elementaren Rechten im Widerspruch steht. Das Laizismus-Gesetz von 1795 - 1905 zum Artikel 2 des neuen Gesetzes geworden - rückt in den Vordergrund und wird im Sinne einer Öffnung zu religiöser Pluralität interpretiert.[70]
Die zweite Version rückt dagegen das Prinzip der Trennung stärker in den Vordergrund. Die religiöse und politische Sphäre wie auch der öffentliche und private Bereich gelten als unvereinbar. Der in der 3. Republik vorherrschenden Laizismusvariante liegt der positivistisch-rationalistische Anspruch zu Grunde, Glaube und Wissen autonom vonein-ander zu behandeln und zwei Bereichen, dem Privaten und dem Öffentlichen zuzuordnen.[71]
Die beiden vorgestellten Varianten von Laizität stellen lediglich die extremen Enden einer breit gefächerten Skala radikaler oder liberaler Positionen dar, die sich in Abhängigkeit mit der sozio-politischen Landschaft Frankreichs und seiner gesellschaftlichen Evolutions-prozesse entwickelten und unterschiedlich stark in den Vordergrund traten.
Der ideologische Wert des laizistischen Gedankens spiegelt sich in dessen konstitutioneller Verankerung 1946 in Artikel 2 wieder. Die Erklärung „La France est une République laïque“[72] wurde 1958 in die fünfte Republik übernommen und gilt bis heute. Die Veranker-ung in der französischen Verfassung änderte jedoch nichts an der Ambivalenz des Konzeptes und beseitigte auch nicht die zahlreichen Widersprüche der Laizität auf ideo-logischer und real-politischer Ebene.
Die radikale Trennung von Staat und Kirche transportierte die Idee einer auf gleichen Werten und Gesetzen beruhenden französisch-republikanischen Einheit und Identität. Diesem Ziel widerspricht besonders die Tatsache, dass die Gesetze von 1905 nicht für alle Departements Frankreichs galten.
In den zur Zeit der Ausarbeitung der Gesetze unter deutscher Herrschaft stehenden Departe-ments Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle, dem Übersee-Departement La Guyane und den französischen Hoheitsgebieten (Collectivité territoriales) herrschen Sonderregelungen und eine konkordatsähnliche Organisation der Trennung von Religion und Staat vor.[73]
1.2 Die Handhabung religiöser Praxis an Frankreichs Schulen
Veränderte soziale und politische Kontexte beeinflussen Wahrnehmung und Ausübung religiöser Praktiken an öffentlichen Schulen. Die Schule als ausbildende Vermittlungs-einheit zwischen Elternhaus und Öffentlichkeit zeigt, dass die Grenze zwischen Öffent-lichem und Privatem nicht starr, sondern durchlässig und veränderbar ist.[74]
Deutlich wird besonders, dass in der konkreten Handhabung und Anwendung des laizisti-schen Prinzips an Frankreichs öffentlichen Schulen ein anderes Konzept von Laizismus ausgehandelt wurde als jenes, das auf ideologischer Ebene oft zitiert wird.
Religiöse Forderungen von Schülern am Ende des 20. Jahrhunderts machen deutlich, dass sich einige religiöse Überzeugungen und Bräuche nicht wie ein beliebiges Kleidungsstück oder familiäre Umgangsformen an der Schultür ablegen lassen.[75] Die Betrachtung konkreter Situationen im Schulalltag, wie z. B. gemeinsame Mittagsmahlzeiten und die Wahl der Kleidung, zeigen, wie künstlich die Einteilung in „privat“ und „öffentlich“ und wie unter-schiedlich der den Religionen an öffentlichen Schulen zugewiesene Platz tatsächlich ist.[76]
Die Verbindung eines für alle verbindlichen, religionsfreien und national-uniformen Erziehungssystems mit dem Recht des Schülers auf individuelle Bewusstseins- und Ausdrucksfreiheit auch religiöser Art kann zu Widersprüchen führen, deren Lösung hohe Verhandlungsbereitschaft beider Seiten voraussetzt.[77]
Die Handhabung religiöser Essensvorschriften, religiös motivierter Abwesenheit vom Schulunterricht und des Tragens religiöser Zeichen zeigt, dass ein für alle verbindliches Regelwerk fehlt. Im konkreten Falle werden zumeist individuelle Kompromisse zwischen Lehrer und Schüler getroffen.[78]
Bezüglich der aus religiösen Gründen verbotenen Nahrungsmittel gibt es in Frankreich, wo alle Kinder üblicherweise gemeinsam in den Schulkantinen essen, keine einheitliche gesetzliche Grundlage, sondern auf Toleranz aufbauende „Fall-zu-Fall“-Entscheidungen. So wird aus finanziellen Gründen zwar kein koscheres oder Halal -Essen angeboten, jedoch gibt es bei Gerichten mit Schweinefleisch für muslimische Schüler meist eine Alternative. Auch bieten die meisten Schulen die Rückgabe des Essensgeldes nach dem Ramadan an. Einige Lehrer erlauben den Schülern während dieses Fastenmonats das Essen in den Klassenräumen nach Sonnenuntergang und stellen sie vom Schulsport frei.
In erster Linie gilt, dass religiöse Bräuche und somit auch Essensvorschriften tolerant gehandhabt werden können, solange sie den Ablauf der Unterrichtsstunden nicht beeinträchtigen.[79] Ähnliches gilt auch für die Akzeptanz schulischer Abwesenheit aus religiösen Gründen, die besonders für Juden bei bestimmten Feiertagen und Sabbat-Einhaltungen von großer Relevanz ist. Trotz allgemeiner Schulpflicht seit 1882 gibt es seit 1967 drei und seit 1991 fünf anerkannte Religionen, deren Anhänger sich an bestimmten Feiertagen aus religiösen Gründen von der Schulpflicht befreien lassen können.[80] Auch diese Regelung sieht eine „Fall-zu-Fall“-Entscheidung des Lehrers vor und richtet sich nach Niveau und Alter des Schülers, sowie der Anzahl und Lobby der jeweiligen Religion im Umfeld der Schule. Hieraus können sich Konflikte ergeben.
Das für diese Arbeit gewählte Beispiel religiöser Praxis im „Heiligtum der Laizität, der école républicaine“[81] ist das Tragen muslimischer Kopftücher. In diesem Fall gab es bis zum Gesetz von 2004 keinen sozialen Konsens.[82] Eine auf dem Artikel 9 der europäischen Menschenrechtskonvention basierende juristische Richtlinie betonte bisher jedoch den Aspekt der Neutralität des laizistischen Prinzips und begünstigte somit eine liberale Handhabung religiösen Ausdrucks an Schulen.[83]
In Folge der ersten Kopftuchaffäre im Jahre 1989 wurde bis 1994 von den jeweiligen politisch Verantwortlichen mehrfach öffentlich deklariert, dass das Prinzip der Neutralität sich auf Staatsdiener und staatliche Bedienstete in öffentlichen Funktionen bezöge, nicht aber auf Schüler. Diese konnten, dem Prinzip der Religions- und Ausdrucksfreiheit entsprechend, ihre religiösen Überzeugungen öffentlich ausdrücken. Einschränkend galt einzig, dass die religiösen Symbole weder ostentativ erschienen noch mit Bekehrungseifer einhergingen. Letzteres wurde als Angriff auf die öffentliche Ordnung gewertet und daher sanktioniert. Darüber hinaus galt auch, dass religiöse Zeichen die Teilnahme am Unterricht in keiner Weise beeinträchtigen durften. Eine Verweigerung von Schülern an der Teilnahme bestimmter Fächer konnte zum Ausschluss von der Schule führen.[84]
Obwohl die individuelle Ausdrucksfreiheit der Schüler demnach ausdrücklich betont wurde, kam es in den 1980er und 1990er Jahren regelmäßig zu Konflikten um das muslimische Kopftuch. Lehrer nannten vermeintliche Sicherheitsgründe oder angeblichen Bekehrungs-eifer als Gründe, Kopftücher in ihrem Unterricht zu verbieten. Die Kopftuchaffären zeigen demnach die Gefahr der Willkür, die den jeweils zwischen Schülerinnen und Lehrern individuell ausgehandelten Kompromissen anhaftete. Gleichzeitig decken letztere neben der Notwendigkeit auch die in der Laizität verankerte Möglichkeit des Dialoges auf, der jedoch Gesprächs- und Handlungsbereitschaft beider Seiten voraussetzt, um Spannungen zwischen teilweise divergierenden Ansprüchen so niedrig wie möglich zu halten.[85]
Es wird deutlich, dass Laizismus sowohl auf ideologischer als auch auf realer Ebene weniger ein unantastbares, klar definiertes Prinzip, als ein richtungsweisender Bereich der Verhandlungs- und Wechselbeziehungen ist. Das Hauptziel des Laizismus und gleichzeitig seine ideologische Daseinsberechtigung, Gesellschaft und Politik von der Jahrhunderte alten Hegemonie der katholischen Kirche zu befreien, reicht unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zur Legitimation nicht mehr aus.[86]
Die Betrachtung konkreter Situationen vermittelt den Eindruck, dass in Frankreich eher ein System des geschlossenen Pluralismus herrscht, als dass ein in dem Gesetz von 1905 durch die propagierte Gleichheit der Kulte anvisierter offener Pluralismus existiert. Die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz religiöser Erscheinungsformen hängt neben der Dauer der Präsenz einer Konfession auf nationalem Boden von dem Grad ihrer sozialen und kulturellen Integration sowie von ihrem Bekanntheitsgrad ab. Darüber hinaus spielt die vermeintliche Gefährlichkeit einer Religion eine Rolle, die besonders am schwer zu beurteilenden Bekehrungseifer gemessen wird.[87]
Costa-Lascoux betont, dass Gleichheit in der Behandlung der Religionen nicht die Auslöschung der eigenen kulturellen Vergangenheit der Gesellschaft bedeutet.[88] Im Folgenden wird thematisiert, welche Formen Laizität annehmen kann, wenn sie richtungsweisend in der Gestaltung des öffentlich-sozialen Lebens und an die Stelle religiöser Doktrin gesetzt wird.
1.3 Sozialer Laizismus und die Angst vor kulturellem Pluralismus
In Bezug auf die Kopftuchdebatte ist besonders die soziale Komponente von Laizität hervorzuheben. Diese verlangt nicht nur die Säkularisierung der Gesellschaft und ihrer Institutionen, sondern definiert die französische Öffentlichkeit als ausschließlich politischen Raum. Sie fordert den kompletten Rückzug religiöser Elemente aus der Öffentlichkeit ins Private. Als französischer Bürger gilt unter ideologischen Gesichtpunkten, wer durch die öffentlichen Institutionen Frankreichs sozialisiert wurde und im öffentlichem Raum nicht als Muslim, Protestant oder Katholik, sondern als Bürger auftritt.[89]
Das Ziel, im öffentlichen Raum nicht unterscheidbar zu sein, gewährleistet den Mitgliedern unterschiedlicher Religionsgemeinschaften auf ideologischer Ebene gleiche Rechte und transportiert die Idee, unabhängig von Konfession, Herkunft und anderen Gruppen-zugehörigkeiten sich von diesen Gemeinschaften zu emanzipieren und als Staatsbürger gleichberechtigtes Mitglied der französischen Gesellschaft zu werden.
Es besteht jedoch, besonders unter Berücksichtigung der zunehmenden kulturellen Vielfalt der Gesellschaft, die Gefahr einer erzwungenen Homogenisierung und Ausmerzung lokal und kulturell abweichender Erscheinungsformen.[90]
Eine Reihe französischer Normen wird als verbindlich für alle Bürger der Republik angesehen und gilt als Gradmesser gelungener Integration bei eingebürgerten Franzosen und Immigranten. Die französische Idee von citoyenneté (Staatsbürgerschaft) war immer staatszentriert und assimilistisch. Sie stützt sich auf die heute sowohl auf politischer als auch auf Ebene der Legislative vertretenen Idee, dass Einwohner nicht-französischen Ursprungs vollwertige Teilnehmer der politischen Gemeinschaft Frankreichs werden können, sofern sie den Willen demonstrieren, französisch leben und in gewisser Weise „werden“ zu wollen. Dies schließt neben dem Habitus auch die Art zu handeln, zu sprechen, sich zu kleiden sowie Essgewohnheiten mit ein.[91] Bezüglich des religiösen Verhaltens von Migranten bedeutet dies, dass der Grad einer als gelungen geltenden Assimilierung mit der Abnahme (sichtbarer) religiöser Verhaltensweisen einher geht. Dies wird als „Laizierung des Verhaltens“[92] bezeichnet.
So machen nicht nur die französische Öffentlichkeit, sondern auch Wissenschaftler einen bewertenden Unterschied zwischen praktizierenden Gläubigen (pratiquant) und sich zu einer Religion zugehörig bekennenden Bürgern (croyant). Dabei genügen meist wenige sichtbare Zeichen regelmäßiger islamischer Glaubenspraxis, wie Gebetsrituale, Moschee-besuche oder das Befolgen religiöser Essenvorschriften, um den pratiquant vom croyant zu unterscheiden. Ähnlich der Vielzahl christlicher Gläubiger, die ihren Glauben lediglich zu religiösen Festen wie Weihnachten aktiv und sichtbar ausleben, gilt auch der muslimische croyant als sich in erster Linie verbal zur Religion bekennend.[93]
Während mit pratiquant ungenügender Anpassungswille, mangelndes Interesse am französischen Staat und Leben, Archaismus und schlimmstenfalls der Hang zu religiösem Fanatismus assoziiert wird, versinnbildlicht die Bezeichnung croyant vor allem den Willen, am gesellschaftlichen Leben Frankreichs teilnehmen zu wollen.
Die Assimilierungsforderungen seitens der französischen Gesellschaft gehen so weit, dass die bloße Aussage, nicht regelmäßig zu beten und auch zu Hause französisch zu sprechen, als Beweis gilt, dass ein Muslim mit Migrationshintergrund zur französischen Gesellschaft gehören möchte und im Gegenzug religiösen Fanatismus, die Unterdrückung von Frauen und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen ablehnt.[94] So erscheint, besonders bei Mus-limen, über den Habitus hinaus auch das Beibehalten eigener religiöser und kultureller Bräuche wie ein Gradmesser der zur französischen Republik eingenommenen Einstellung und Assimilierungswilligkeit.
Darüber hinaus wird die Sichtbarkeit und Intensität der Glaubenspraxis als Position bewertet, die zum Islam und damit vermeintlich in Abgrenzung zur Republik eingenommen wird. Dies verdeutlicht die ideologische Nutzung des laizistischen Prinzips für die Konstruktion und den Erhalt einer französisch-republikanischen Identität. Laizität als sozio-politisches, Identifikation stiftendes Konzept dient hier zur Determinierung dessen, was französisch ist, sein darf und werden könnte. Gleichzeitig werden Bedingungen und Grenzen vorgegeben. Somit kann Laizität als Instrument der französischen Republik gegen religiöse Tradition und Vielfalt gewertet werden. Zudem legitimiert es die Konstruktion des „Anderen“, sobald dieser sich von den als universell geltenden laizistischen Prinzipien abwendet.[95] Dass diese keinesfalls klar umrissen sind und besonders hinsichtlich religiöser Praxis Interpretationsspielraum offen lassen, wurde bereits anhand der Beispiele religiösen Essverhaltens in Schulkantinen und der Handhabung von Kopftüchern im Schul- und Unterrichtsbereich thematisiert. Die Beispiele veranschaulichen mögliche Hindernisse, die einer Homogenisierung des öffentlichen Raumes in der Alltagspraxis entgegenstehen. Ein weiteres Konfliktfeld stellt das im Gläubigen kreierte Dilemma dar, sich zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und religiöser Praxis permanent entscheiden zu müssen.
Die Forderung, religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben zu abstrahieren, um sich den vom Staat und dessen Ideologie vorgegebenen Regeln zu unterwerfen, geht in der Tat weit über die laizistischen Grundprinzipien hinaus und widerspricht der darin verankerten Religionsfreiheit.[96] Sie basiert auf der Annahme, dass sich Religion vollkommen auf den privaten Bereich beschränken ließe. Dabei wird übersehen, dass es im Glaubensalltag von in Frankreich lebenden Muslimen, Katholiken und Juden keine zwangsläufige Inkompatibilität zwischen dem Befolgen der Regeln des Staates und der Religionen gibt. Die Forderung, sich zwischen zwei identitätsstiftenden Lagern entscheiden zu müssen, kreiert erst dann einen Konflikt im Gläubigen, wenn religiöse Ausdrucksmittel und Überzeugungen wie das Tragen der Kippa oder des Kopftuches und die Präsenz religiöser Produkte, Geschäfte, Veranstaltungen und Messen als oppositionelle Haltung gegen die französische Gesellschaft interpretiert wird.
Zu Recht weist Alain Houzioux darauf hin, dass sich aus theologischer Sicht das Individuum nicht in zwei voneinander unabhängige Menschen, den Bürger und den Gläubigen, teilen ließe. Im Gegenteil sei es Appell fast jeder Religion an seine Anhänger, dem eigenen Glauben und dessen Prinzipien möglichst in allen Lebenslagen und auch bei öffentlichen Aktivitäten treu zu bleiben.[97]
Es stellt sich die Frage, inwieweit die öffentliche Forderung nach Assimilierung die Leugnung von Diversifikation mit sich führt. Die rechtliche Grundlage sieht bezüglich der Reglementierung religiöser Präsenz im öffentlichen Raum einzig den Schutz des allge-meinen Rechtes, der Sicherheit und der öffentlichen Moral vor, allesamt konstituierende Elemente der öffentlichen Ordnung.[98] Einen im Sinne der Laizität gemeinschaftlichen a-kulturellen und a-religiösen gesellschaftlichen Raum zu schaffen, beinhaltet nicht die Infragestellung und Beseitigung von Differenz. Im Gegenteil macht Laizität nur in einer multikulturellen und -religiösen Gesellschaft Sinn. Erst eine gewisse Pluralität der französischen Gesellschaft hat zum Entstehen des laizistischen Gedankens der rechtlichen und politischen Gleichheit des von seinem religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Kontext emanzipierten Individuums geführt. Statt religiöse Minderheiten und ethno-religiöse Erscheinungen also als Bedrohung von Säkularisierung und demokratischem Pluralismus anzusehen, sollten sie als Beweis und Grund für diesen gelten.
Hinzu kommt, dass sich kulturelle Unterschiede oder Ähnlichkeiten nicht verordnen lassen, sondern im Zuge von Sozialisationsprozessen entstehen.[99] Kulturelle Vielfalt ist nicht aus sich heraus problematisch, sondern hängt vielmehr von der Beschaffenheit des Rahmens ab, der innerhalb einer Gesellschaft für sie vorgesehen ist. Lässt dieser keinen Platz für übergreifende, interagierende Konzepte und Akteure, droht die Dominanz eines zur Staatsideologie stilisierten Konzeptes andere Entwürfe als nicht kompatible Gegen-positionen darzustellen. So wird die eigene Gruppenidentität auf Kosten derer gestärkt, die „nicht dazugehören“, weil sie sich dem einen, dominierenden Konzept nicht unterwerfen. Entsprechend wurde im Zuge der Kopftuchdebatte das mit französischer Einheit gleichgesetzte, kollektive „Wir“ den nicht assimilierungswilligen Mädchen und deren Familien, den „Anderen“, entgegengestellt.[100]
Dem Anspruch der französischen Gesellschaft, den öffentlichen Raum einheitlich und kontrollierbar zu gestalten, entspricht die Verbindlichkeit des Konzeptes der „französischen öffentlichen Ordnung“. Dieses Konzept greift spezielle Werte und Ideen über richtiges Verhalten auf und wandelt sie gegebenenfalls in Forderungen um, die es um der politischen und sozialen Einheitlichkeit und Harmonie der französischen Gemeinschaft halber zu wahren bzw. zu erfüllen gelte. Das Konzept der „öffentlichen Ordnung“ wird sowohl im französischen Recht als auch in strittigen, öffentlichen Angelegenheiten wie der Kopftuchfrage dann zitiert, wenn das französische Werte- und Normensystem in Frage gestellt wird.[101]
Laizismus und der Glaube an die universelle Gültigkeit der ideologischen Prinzipien der französischen Nation führen zu Konsequenzen in Bezug auf den Islam und die Organisation seines gesellschaftlichen Platzes. Entwürfe eines in Frankreich aus Sicht der französischen Gesellschaft praktizierbaren Islams werden im folgenden vorgestellt und eventuelle Grenzen in Frage gestellt.
1.4 „Islam de France“ versus „Islam en France“ - Charakteristika eines französisch-europäischen Islams
Die Termini „Islam de France“ (Islam Frankreichs) und „Islam en France“ (Islam in Frankreich) werden von Wissenschaftlern, Medien und Theologen in Diskussionen um Beschaffenheit und Platz eines in Frankreich sowohl praktikablen, als auch tolerablen Islams oft als klar definierte Gegensätze behandelt. Eine nähere Betrachtung jedoch veranschaulicht, dass ihre Inhalte sich auf unterschiedliche Deutungsebenen beziehen.
Besonders hinsichtlich des „Islam de France“ spielen neben der „äußeren“ Sichtweise der nicht-muslimischen Bevölkerung Frankreichs auch inner-islamische Reformbewegungen sowie eine neue, sozio-historische und analytische Lesart der islamischen Texte eine wichtige Rolle. Zusätzlich wird die Bezeichnung „Islam de France“ besonders von Soziologen und Ethnologen auf einer rein beschreibenden Ebene eingesetzt, um Phänomene zu kennzeichnen, die sowohl französisch als auch muslimisch sind. Nicht die ethnische oder nationale Herkunft von Muslimen rückt dabei in den Blickpunkt, sondern die Positionierung des Islams innerhalb der französischen Gesellschaft. In Frankreich sozialisierte und lebende Muslima sind ein Beispiel dafür, wie der Islam, in einem mehrheitlich nicht-muslimischen Land, in Abhängigkeit zum ideologischen und gesellschaftspolitischen Wesen Frankreichs eigene, französische Züge hervorbringt.[102]
Der Islam der 2. Generation unterscheidet sich vom Islam der Eltern vor allem durch ihre Prägung und ihr Verhältnis zur französischen Gesellschaft und Kultur. Anders als in der Elterngeneration üblich, wird Religion hier nach eigenen Gesichtspunkten rekonstruiert und an die alltäglichen Bedürfnisse der Jugendlichen in der französischen Gesellschaft angepasst.[103]
Die verschiedenen Entwürfe eines in Frankreich praktikabel erscheinenden Islams und deren Abgleich mit beobachteter Glaubenspraxis verdeutlichen, dass weder der Islam, noch die Muslime in Frankreich homogen sind. Nicht nur der Versuch der Zuweisung eines einheitlichen, verbindlichen Platzes des Islams in Frankreich erscheint damit fragwürdig, sondern auch die Gegenüberstellung der Konzepte „Islam en France“ und „Islam de France“.
Der „Islam en France“ bezeichnet im Vergleich dazu allenfalls das Gegenteil eines aktiv in bezug zur französischen Republik gesetzten Islams.[104] Der Schwerpunkt liegt hier auf der universalistischen, durch die arabische Sprache und theologische Interpretationen zusam-mengehaltenen, gebiets- und nationenunabhängigen Ausrichtung des Islams.
Das Konzept eines französischen Islams rückt dagegen trotz unterschiedlicher Deutungs-ebenen insbesondere die Frage ins Zentrum, inwieweit ein globales, religiös-kulturelles System auf einen begrenzten Nationalstaat übertragbar ist und sich mit und in diesem weiterentwickelt.
Generell fördert die demokratische, individualisierte Lebensweise westlicher Gesellschaften eine europäische Ausprägung des Islams. Verschiedene Bezeichnungen wie „Euro-Islam“, „Islam de France“ oder „Europäischer Islam“, die das Phänomen eines sich in und durch die Beziehung mit den europäischen Gesellschaften entwickelnden Islams kennzeichnen, dürfen jedoch nicht zur Überschätzung der Veränderbarkeit der Beziehung zwischen Tradition und sozialer Aktion führen. Auch der Tendenz, Konzepte von Modernität und Tradition gegenüber zu stellen und Stereotypisierungen wie der angeblich dank Europa modern gewordenen Muslime daraus abzuleiten, muss entgegen gewirkt werden.[105]
Traditionen müssen nicht zwangläufig rückwärts gerichtet, antimodern und starr sein. Vielmehr bestehen sie aus einer Vielzahl moralischer und emotionaler Dispositionen, die gesellschaftlich und institutionell unterschiedlich stark verankert sind und soziale Praxis sowie gesellschaftsideologische Diskurse gleichermaßen prägen. Mitnichten unflexibel, bedeutet lebendige Tradition, dass die moralischen und sozialen Referenzen während gesellschaftlicher Umwandlungsprozesse und durch veränderte Lebensbedingungen zu Neu- und Umformungen führen. Modernität und Tradition lassen sich also nicht nach einer „Entweder-oder–Logik“ gegenüberstellen, sondern beeinflussen sich in der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse gegenseitig.[106]
Vor diesem Hintergrund fordern viele Islamkundige Frankreichs die französische Gesellschaft auf, den in Frankreich praktizierten Islam nicht als Bedrohung von außen und vordergründig unter der Frage der Verträglichkeit mit einem demokratischen System zu betrachten. Stattdessen plädieren sie dafür, die Geschichte und Entwicklung des Islams anzuerkennen, der, wie Christentum und Judentum auch, eine lange Tradition und Vielfalt vorweist. So betonen sie, dass es auch in islamischen Kerngebieten eine wissenschaftliche Tradition und aufklärerische Strömungen gegeben hat und gibt, die Berührungspunkte mit den humanistisch-aufklärerischen Gedanken der europäischen Gesellschaften haben
[...]
[1] Siehe dazu Terray: 2004. S. 108, Bouamama: 2004. S. 37 und Gaspard/Khosrokhavar: 1995. S. 29.
[2] Gaspard: 2004 und Gaspard/ Khosrokhavar: 1995.
[3] Gaspard/ Khosrokhavar: 1995, Khosrokhavar: 2003 und 2004.
[4] Venel: 2004, 1999 und 1999a.
[5] Boubekeur: 2004 und 2004a.
[6] Bouzar: 2004 und 2004a.
[7] Nordmann (Hrsg.): 2004.
[8] Houziaux (Hrsg.): 2004.
[9] Bourdieu: 2004.
[10] Terray: 2004.
[11] Baubérot: 2004.
[12] Costa-Lascoux: 2004.
[13] Bowen: 2004.
[14] Bowen: 2001.
[15] Abu-Lughod, Lila: 2002.
[16] Pradelles de Latour: 2001.
[17] Chebel: 2004.
[18] Ders.: 1986.
[19] Massignon: 2000.
[20] Molokotos Liedermann: 2000.
[21] Babès: 2004.
[22] Klein-Hessling/ Nökel/ Werner (Hrsg.): 1999.
[23] Klein-Hessling/ Nökel/ Werner (Hrsg.): 1999a.
[24] Salzbrunn: 1999.
[25] Venel: 1999a.
[26] Bistolfi/ Zabbal (Hrsg,): 1995.
[27] Schnapper: 1995.
[28] Arkoun: 1995.
[29] Withol de Wenden: 1995.
[30] Amir-Moazami/ Salvatore: 2003.
[31] Amir-Moazami: 2001.
[32] Ich stütze mich insbesondere auf die Arbeit Siegfried Jägers „Kritische Diskursanalyse“ von 2004 und das im selben Jahr herausgebrachte Werk Reiner Kellers „Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen“.
[33] Jäger: 2004. S. 366
[34] Ebd. S. 127
[35] Habermas: 1988. S. 326
[36] Jäger: 2004. S. 366
[37] Dracklé: 1991. S. 69
[38] Foucault: 1973. S. 48 ff.
[39] Jäger: 2004. S. 125. Vgl. Foucault: 1991. S. 15
[40] Um ihre historische Dimension zu unterstreichen, bezeichnet Jäger Diskurse auch als „Fluss von Wissen durch die Zeit“. Vgl. ebd. S. 129. Zum Begriff der „Wahrheit“ s. Foucault: 1991. S. 25. Foucault verdeutlicht hier, dass „die Wahrheit“ sagen nicht gleichbedeutend ist mit „im Wahren zu sein“. Letzteres ist für die gesellschaftliche Akzeptanz einer Wahrheit wichtiger als deren Richtigkeit; jedoch ist sie nur dann im Wahren, wenn sie den Regeln einer diskursiven Kontrollinstanz gehorcht, die in jedem ihrer Diskurse reaktiviert werden muss. Ein wichtiges Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses ist nach Foucault die wissenschaftliche „Disziplin“, die einerseits schöpferische Quelle, andererseits Grenze des Diskurses ist.
[41] Keller: 2004. S. 28
[42] Jäger: 2004. S. 129. Vgl. Dracklé: 1991. S. 71
[43] Keller: 2004. S. 29
[44] Ebd. S. 31
[45] Vgl. Jäger: 2004. S. 170
[46] Ebd. S. 171
[47] Ebd. S. 172
[48] Ebd. S. 166
[49] Keller: 2004. S. 33
[50] Marlière: 2003. S. 1
[51] Vgl. Tietze: 2001. S. 172
[52] Bezeichnung für das absolutistische Herrschaftssystem in Frankreich vor der Revolution. Der König war alleiniger Herrscher von Gottes Gnaden über ein Volk ohne Mitbestimmungsrechte. Das Gesellschaftssystem war in drei Stände aufgeteilt: Oben der Adel und der Klerus, unten die Bürger und Bauern. Letztere machten ca. 98 Prozent der Bevölkerung aus. Vgl. Hartmann: 1999. S. 26
[53] Poulat: 2004. S. 39
[54] Ebd. S. 40. Nichts/Niemand darf aufgrund von Meinungsäußerungen, selbst religiöser Art, angefochten werden. Frei ins Deutsche übersetzt von C. May, wie auch sämtliche nachfolgende französischen Zitate und Begriffe ohne weitere Angaben.
[55] Bondeele: 2004. S. 3
[56] Die Französische Revolution setzte das Modell der modernen Nation, verstanden als politische Willens- und Solidargemeinschaft, in einen zentralistisch-unitarischen Nationalstaat um. Das von Rousseau entwickelte Konzept einer Nation freier und gleicher Bürger, die zugleich politischer Souverän sein sollte, wurde als Staatsbürgernation bezeichnet und prägt das französische Nationalverständnis bis heute. Dann: 1996. S. 45
[57] Bondeele: 2004. S. 3
[58] Poulat: 2004. S. 40. Kein Kult wird von der Republik anerkannt noch subventioniert oder in den Dienst gestellt.
[59] Im Zuge der Neuordnung Europas nach dem Sieg über Napoleon 1815 sollte Europa nach den Prinzipien der Restauration, der Legitimität und der Solidarität neu geordnet werden. Restauration meinte die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände in territorialer und politischer Hinsicht. So wurden die alten, sich auf vermeintlich legitime, gottgegebene Rechte stützenden Herrschaftsverhältnisse wieder eingeführt und die Regierung Frankreichs dem Bourbonen Ludwig XVIII. unterstellt. Eine vollständige Restauration fand aber nicht statt: Der Großteil der nachrevolutionären juristischen Säkularisierungsmaßnahmen wurde nicht aufgelöst. Vgl. Geschichte Grundwissen: 2004. S. 117 und Bondeele: 2004. S. 4
[60] Bondeele: 2004. S. 4
[61] Tietze: 2001. S. 173
[62] Massignon: 2000. S. 354
[63] Bondeele: 2004. S. 5
[64] Krieg der zwei französischen Republiken
[65] Poulat: 2004. S. 40
[66] Tietze: 2001. S. 173
[67] Poulat: 2004. S. 43. Die Republik stellt die Freiheit des Bewusstseins sicher. Sie garantiert die freie Ausübung der Kulte.
[68] Tietze: 2001. S. 173
[69] Baubérot zitiert nach Molokotos Liedermann: 2000. S. 380
[70] Amir-Moazamai: 2001. S. 316
[71] Ebd. S. 317
[72] Bondeele: 2004. S. 41. Frankreich ist eine laizistische Republik.
[73] Tietze: 2001. S. 174. Vgl. auch Poulat, Emile: 2004. S. 42
[74] Vgl. Balibar: 2004. S. 20
[75] Houziaux: 2004. S. 20
[76] Massignon: 2000. S. 355
[77] MacNeill: 2000. S. 346
[78] Massignon: 2000. S. 354
[79] Ebd. S. 356
[80] Ebd. S. 357
[81] Tietze: 2001. 173 . Das Heiligtum der Laizität, die republikanische Schule.
[82] S. Kapitel 3.1
[83] Massignon: 2000. S. 356. Vgl. auch Herrgott: 2004. S. 15 und Marlière: 2004. S. 2. Besonders Marlière weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der von Frankreich am 7. August 1990 unterschriebenen internationalen Konventionen zum Schutze des Kindes hin, die zu mäßigenden Appellen französischer Politiker in der damaligen Debatte führten.
[84] Massignon: 2000. S. 358
[85] Baubérot bezeichnet die in den Schulgesetzen Ferrys und in dem Gesetz von 1905 verankerte Offenheit der Laizität als „laïcité inclusive“ (inklusive Laizität). Die jahrzehntelang praktizierte „Fall-zu-Fall“-Entscheidung ist für ihn Bestandteil eines liberalen Laizitätskonzeptes, welches durch Vernunft, Dialog und Demokratie lebt und weiterentwickelt wird. Baubérot: 2004. S. 70
[86] Tietze: 2001. S. 175
[87] Massignon: 2000. S. 359 ff.
[88] Costa-Lascoux zitiert nach Massignon: 2000. S. 361
[89] Tietze: 2001. S. 183 und Houziaux: 2004. S. 19
[90] Bowen: 2004. S. 46
[91] Bowen: 2003. S. 13
[92] Ders: 2004. S. 45
[93] Ebd.
[94] Ebd. S. 44
[95] Amir-Moazami: 2001. S. 316
[96] Vgl. Baubérot: 2004, Houziaux: 2004 und Ogilvie: 2004.
[97] Houziaux: 2004. S. 20
[98] Ebd. S. 22
[99] Bouamama: 2004. S. 42
[100] Amir-Moazami: 2001. S. 311
[101] Bowen: 2003. S. 15
[102] Vgl. Venel: 1999a. S. 81 ff.
[103] Ebd. S. 98
[104] Bowen: 2004. S. 43
[105] Amir-Moazamai/ Salvatore: 2003. S. 53
[106] Ebd. S. 60