In den ständig diskutierten internationalen Schulvergleichsuntersuchungen wird der Focus ausschließlich auf Fachleistungen gelenkt. Dabei kann es passieren, dass man wesentliche Ziele von Schule, zu denen auch außerfachliche Ziele gehören, übersieht.
Moralerziehung rückt immer dann in den Fokus, wenn aktuelle Ereignisse die Diskussion erneut entfachen. Oft handelt es sich dabei um Brutalität Jugendlicher gegenüber Gleichaltrigen oder aber auch Kindern.
Die vorliegende Veröffentlichung beschäftigt sich mit der Frage, ob eine bewusste moralische Erziehung in der Schule tatsächlich möglich ist, d.h. ob sie erstens geeignet ist, das Verhalten und die moralischen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern positiv zu beeinflussen und zweitens, ob ein solches Unterfangen in der staatlichen Schule eines Staates, der sich verpflichtet selbst Weltanschauungsneutral zu sein, überhaupt legitimiert werden kann. In diesem Rahmen werden auch die Erwartungen, die hinter der Forderung schulischer Moralerziehung stehen erörtert sowie Grundbedingungen, von denen jede Moralerziehung ausgehen muss.
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
1. Einleitung
2. Zum Begriff der Moral und seiner terminologischen Umgebung
2.1 Werte und Normen
2.2 Ethik und Moral
3. Psychologische und empirische Grundlagen
3.1 Kohlbergs Theorie moralischer Entwicklung
3.1.1 Ausgangspunkte der Theorie
3.1.2 Das Stufenmodell der moralischen Entwicklung
3.1.3 Kritik an Kohlbergs Theorie
3.1.5 Relevanz von Kohlbergs Theorie für die pädagogische Praxis
3.2 Vom Urteilen zum Handeln
3.2.1 Was charakterisiert moralisches Handeln?
3.2.2 Verantwortungsurteile und moralische Typen
3.2.3 Moralisches Selbst
3.2.4 Außermoralische Einflussfaktoren
3.2.4 Empathie und moralische Gefühle
3.2.7 Die moralische Atmosphäre
4. Erziehungsziele der Schule und Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugend
4.1 Welche Art von Menschen soll die Schule hervorbringen?
4.1.1 Erziehungsziele in den Grundsatzerlassen der Grund-, Haupt- und Realschule
4.1.4 Der Bildungsauftrag der Schule im Niedersächsischen Schulgesetz
4.2 Ergebnisse empirischer Studien zur politischen Bildung, Wertorientierungen Rechtsextremismus und Gewalt
4.2.1 Bereitschaft zu politischem und sozialem Engagement
4.2.2 Akzeptanz und Umsetzung freiheitlich-demokratischer Werte
4.2.3 Rechtsextremismus und Gewalt
4.3 Ist die Schule selbst Schuld am Nicht-Erreichen ihrer Ziele?
5. Ziele von Moralerziehung
5.1 Umsetzung gesetzlicher Vorgaben in praktizierbare Verhaltensnormen
5.2 Moralische Erziehung als Grundlage für beruflichen Erfolg?
5.3 Erhalt der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft
5.4 Entwicklung einer moralischen Persönlichkeit
5.5 Mündigkeit und Autonomie
6. Moralerziehung in der Diskussion: Begründungsansätze und Rechtfertigungsproblematiken
6.1 Moralerziehung im Pluralismus. Zur (Un?)-möglichkeit eines Wertekonsens
6.2 Zur Vereinbarkeit staatlicher Neutralität und moralischer Erziehung
6.3 Ist Schule und Unterricht ohne Moralerziehung möglich?
6.4 Moralerziehung – Privileg der Eltern?
6.5 Ist moralische Erziehung eine Überforderung der Schule?
6.6 Chancen der Intervention
7. Umsetzung von Moralerziehung in der Schule
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
10. Anhang
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1: Die Beziehung zwischen moralischem Urteil und moralischem Handeln (Gielen, 1996b, S. 79)
Abbildung 2: Politische Beteiligungsbereitschaft (Oesterreich, 2002, S. 64)
Abbildung 3: Gesellschaftliche Aktivitäten (Gensicke, 2004, S. 199)
Abbildung 4: Demokratische Beteiligung in der Schule (Oesterreich, 2002, S. 74)
Abbildung 5: Einstellungen zur Gleichberechtigung von Ausländern in % (Oesterreich, 2002, S. 156)
Abbildung 6: Gleichstellung von Frauen (Oesterreich, 2002, S. 175)
Abbildung 7: Rechtsextremistische Einstellungen deutscher Jugendlicher (in %; "stimmt ganz genau" und "stimmt weitestgehend" jeweils als "Zustimmung" zusammengefasst) (Oesterreich, 2002, S. 166)
Abbildung 8: Einstellungen zu den Menschenrechten im internationalen Vergleich (in %) (Oesterreich, 2002, S. 114)
1. Einleitung
„Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann? Oder ob nicht gelehrt sondern geübt? Oder ob sie weder angeübt noch angelernt werden kann, sondern von Natur den Menschen einwohnt oder auf irgendeine andere Art?“ (Platon, 2005)
Die Frage, wie der Mensch zu einem „guten“ Menschen wird, ist, wie das Zitat aus Platons Menon zeigt, bei weitem nicht neu. Sind manche Menschen von Natur aus gut? Kann man Werte vermitteln , moralisches Verhalten lehren? Oder wird es vielleicht nur durch die tägliche Praxis ritualisiert und eingeübt? Sokrates beantwortet diese Fragen des Menon nicht und auch wenn heute umfassende psychologische Erkenntnisse zur Thematik des moralischen Denkens und Handelns vorliegen – eine einfache, eindeutige Antwort ist nach wie vor nicht möglich. Nichtsdestotrotz wird Werte- und Moralerziehung immer wieder gefordert. Einmal sollen die Eltern mehr „Mut zur Erziehung“ aufbringen[1] ein andernmal wird die Einführung eines für alle Schülerinnen und Schüler verbindlichen Schulfachs „Werteunterricht“ beschlossen (Spiegel Online, 09.04.2005). Auch im Moment hat Moralerziehung wieder Konjunktur. Oft sind es aktuelle Ereignisse, die die Diskussion erneut entfachen, wie beispielsweise jüngst die Ermordung einer jungen Türkin auf offener Straße, für die einige Schüler sogar Verständnis bekundeten (Heinemann, 08.04.2005) oder im Jahr 2000 der Vorfall in Sebnitz, wo rechtsradikale Schläger einen kleinen Jungen angeblich öffentlich vor hunderten von Zuschauern im Schwimmbad ertränkten (Dovermann, 2004, S. 180). Aber auch weniger dramatische Anlässe, wie in diesem Jahr der 60-jährige Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs führen dazu, dass von den unterschiedlichsten Seiten darauf aufmerksam gemacht wird, wie wichtig es sei, Kindern und Jugendlichen bestimmte Grundwerte zu vermitteln, sie dazu zu erziehen sich auch in schwierigen Situationen moralisch zu verhalten.
Zunehmend wird jedoch beklagt, dass dies in den Familien nur unzureichend geschehe. Eltern erzögen nicht mehr, bzw. seien verunsichert welches denn nun die „richtige“ Erziehung sei und an welchen Werten sich ihre Kinder orientieren sollten. Als Antwort auf dieses Problem wird dann oft auf den Erziehungsauftrag der Schule verwiesen. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass Kinder und Jugendliche „die Zukunft der Gesellschaft“ (Oelkers, 13.07.2004, S. 3) seien und die Schule dafür sorgen müsse, Erziehungsdefizite zu beseitigen. Wie selbstverständlich wird dabei davon ausgegangen, dass Schulen sowohl die Berechtigung als auch die Kompetenz hierzu haben. Dies ist jedoch besonders für den Fall der moralischen Erziehung zunächst einmal deutlich in Frage zu stellen. Aussagen, wie beispielsweise die von Markus Lönning von der FDP im Rahmen der Auseinandersetzung um das Fach Werteerziehung in Berlin, „Ihm werde schlecht bei der Vorstellung, daß Schulkinder demnächst Werte vermittelt bekämen, die im Berliner Landesparlament festgelegt worden seien“ (Möller, 14.04.2005), kommen nicht von ungefähr. Sie sind vielfach begründet in der jüngeren deutschen Geschichte und ihrer Berechtigung muss ernsthaft nachgegangen werden. Dies wird unter anderem im Folgenden getan.
Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, zu klären, ob eine bewusste moralische Erziehung in der Schule tatsächlich möglich ist, d.h. ob sie erstens geeignet ist, das Verhalten und die moralischen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern positiv zu beeinflussen und zweitens, ob ein solches Unterfangen in der staatlichen Schule eines Staates, der sich verpflichtet selbst Weltanschauungsneutral zu sein, überhaupt legitimiert werden kann. In diesem Rahmen werden auch die Erwartungen, die hinter der Forderung schulischer Moralerziehung stehen, zu erörtern sein sowie Grundbedingungen, von denen jede Moralerziehung ausgehen muss.
Die Ausführungen beginnen im zweiten Kapitel mit der Klärung zentraler Begriffe. Anschließend werden in Kapitel 3 psychologische Forschungsergebnisse zur moralischen Entwicklung sowie moralischem Handeln vorgestellt. Dabei wird besonders die einflussreiche Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg erläutert. Wenn die Schule moralisch erziehen soll, dann muss sie sich dabei an diesen Erkenntnissen orientieren. Sie bilden das Fundament pädagogischer Bemühungen.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit den im Bildungsauftrag des Niedersächsischen Schulgesetzes und in den Erlassen des Niedersächsischen Kultusministeriums formulierten Zielen der Schule. Es gilt die Frage zu beantworten, in wie weit moralische Erziehungsziele derzeit bereits offiziell von der Schule verfolgt werden sollen. Daran schließt sich an, zu überprüfen, wie wirksam diese vom Gesetzgeber geforderte Erziehung ist, d.h. das tatsächliche Verhalten von Schülerinnen und Schülern wird in Beziehung zu den Erziehungszielen der Schule gesetzt. Dieses geschieht im Wesentlichen anhand der Ergebnisse der Civic-Studie zur politischen Bildung von 14-jährigen und der Shell Studie 2002. Die Ergebnisse dieser Analyse werden dann in einem nächsten Schritt kritisch beurteilt, wobei sie besonders vor dem Hintergrund tradierter schulischer Strukturen in Deutschland betrachtet werden.
Im fünften Kapitel wird der Frage nachgegangen, welchen Zielen schulische Moralerziehung, diesmal nicht spezifisch auf Gesetzesformulierungen und Erlasse bezogen, eigentlich dienen soll. Gesellschafts- und Gemeinschaftsorientierte Ziele werden hierbei Zielen, die auf das Individuum ausgerichtet sind gegenüber gestellt. Dabei wird außerdem die unterschiedliche Reichweite der jeweiligen Erwartungen, die sich mit moralischer Erziehung in der Schule verknüpfen, verdeutlicht.
Die Diskussion um die Legitimität und Begründbarkeit moralischer Erziehung in der Schule folgt im sechsten Kapitel. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit des Pluralismus und staatlicher Neutralität mit den Ansprüchen moralischer Erziehung. Außerdem geht es um die Klärung der Erziehungsverantwortlichkeiten zwischen Staat und Familie sowie die Frage, ob Schule ohne moralische Erziehung überhaupt möglich bzw. vorstellbar ist. Die Erörterungen führen schließlich dazu, die faktischen Möglichkeiten der Schule moralische Erziehung bewusst und angemessen zu gestalten, vor dem Hintergrund ihrer Ressourcen und Strukturen zu beleuchten.
Kapitel 7 fasst relevante Ergebnisse der bearbeiteten Fragestellungen im Rahmen der Beschäftigung mit möglichen praktischen Ansätzen schulischer Moralerziehung zusammen. Dabei werden besonders die curricularen und organisatorischen Veränderungen, die zu einer sinnvollen moralischen Erziehungspraxis notwendig sind, dargestellt.
Abschließend wird in einem Fazit das Gesamtergebnis dieser Arbeit dargelegt.
2. Zum Begriff der Moral und seiner terminologischen Umgebung
Oft treten die Begriffe Moral, Ethik, Werte und Normen in der Literatur nebeneinander auf, ohne dass genauer darauf eingegangen wird, was mit ihnen eigentlich bezeichnet wird, bzw. worin sie sich unterscheiden. Bei dem Versuch der Begriffsbestimmung wird relativ schnell deutlich, dass eine eindeutige, die Zustimmung aller Autoren findende, Definition nicht möglich ist. Die folgenden terminologischen Erläuterungen stellen von daher nur eine Zusammenfassung verbreiteter Begriffsklassifikationen bzw. das in dieser Arbeit gültige Begriffsverständnis dar.
2.1 Werte und Normen
Der Begriff Wert wurde im 19. Jahrhundert von Rudolf Hermann Lotze aus der Wirtschaft, wo er den Tauschwert von Waren bezeichnete, in die Philosophie übernommen (Schweppenhäuser, 2003, S. 7). Dort und auch in dieser Arbeit bezeichnen Werte dem menschlichen Leben richtung- und sinngebende Ideale und Handlungsziele (Engfer, 1999, S. 15). Anders ausgedrückt: Werte sind handlungsleitende Orientierungsmaßstäbe (Schweppenhäuser, 2003, S. 8).
Etwas zu bewerten bedeutet, zu etwas Stellung zu nehmen, sich also für oder gegen etwas zu entscheiden. Dabei kann sich diese Bewertung sowohl auf reale als auch auf geistige Güter beziehen (Brezinka, 1984, S. 10 f.). Als handlungsleitende Orientierungsmaßstäbe verstanden macht es Sinn, dass Werte auf positiven Bewertungen basieren (Fees, 2000, S. 12), da eine Orientierung an negativ bewerteten Gütern nicht wahrscheinlich ist.
Werte sind in der Regel von hohem Allgemeinheitsgrad, d.h. sie besitzen keinen konkreten Realitätsgehalt, z.B. Freiheit, Aufrichtigkeit oder Gerechtigkeit (Werner, 2002, S. 46). Sie sind Produkte der Bewertung von Gütern und diese fallen zu den verschiedenen Epochen, wie in unterschiedlichen Kulturen nicht gleich aus. Werte sind also keine transkulturellen, zeit- und ortsübergreifenden gültigen Konstanten (Schweppenhäuser, 2003, S. 10).
Individuen bilden im Laufe ihres Lebens eine persönliche Rangordnung von Werten, eine so genannte Wertehierarchie aus. Oft bleibt diese über längere Zeiträume stabil. Jenes wird dadurch erklärt, dass „im Individuum bestimmte Neigungen, Interessen oder Einstellungen als psychische Dispositionen entstanden sind, die das aktuelle Werterleben beeinflussen“ (Brezinka, 1984, S. 11). Diese werden dann als Wertorientierungen bezeichnet.
Wandel von Werten bedeutet, dass bestimmte Werte anders als zuvor gewichtet werden, d.h. die Präferenzordnung sich ändert. Dies kann sich individuell-lebensgeschichtlich vollziehen, d.h. es ändern sich die Wertungen ein und derselben Person im Laufe ihres Lebens; es kann sich aber auch die Werthierarchie einer ganzen Gruppe oder Gesellschaft ändern. Letzteres geschieht, wenn sich die subjektive Werthierarchie vieler Einzelpersonen ändert. Die Zusammensetzung einer Gruppe oder Gesellschaft ändert sich durch Geburt und Tod. Veränderte Lebens-, Erfahrungs- und Lernbedingungen führen zu unterschiedlichen Bewertungen von Gütern und somit im Laufe der Zeit möglicherweise zu einer wesentlichen Änderung typischer Werthierarchien einer Gruppe, die eben auch in einer Gesellschaft bestehen kann (Brezinka, 1984, S. 11 ff.).
In Normen konkretisieren sich Werte. Es handelt sich dabei um Regeln, die die Verwirklichung von Werten zum Ziel haben (Werner, 2002, S. 46). Oftmals sind diese sozial kodiert und sanktioniert (Schweppenhäuser, 2003, S. 13). Sie schreiben etwas vor, bringen ein „Sollen“ zum Ausdruck (Wils, 1996, S. 333). Ihr Gebots- bzw. Verbotscharakter wird auch als einen normativer Anspruch bezeichnet (Pieper, 1998, S. 80). Dabei können ein und demselben Wert mehrere Normen entsprechen (Werner, 2002, S. 46). Gerechtigkeit als Wert schlägt sich beispielsweise sowohl in der Norm der Gleichstellungsklausel nieder (Europäische Union, 2000), wie auch in der Bestrafung von Diebstahl (StGB). Aus diesem Beispiel wird auch deutlich, dass viele Normen in Form von Gesetzen verschriftlicht sind; dies gilt aber nicht für alle Normen.
2.2 Ethik und Moral
Moral ist der Komplex von Handlungsregeln, nach denen sich ein Individuum oder eine Gruppe richtet (von Saldern, 1992, S. 2). Da sich in Handlungsregeln bzw. Normen bestimmte Werte konkretisieren bezeichnet Moral als das Gesamt von Normen einer Person oder Gruppe auch immer einen bestimmten Bestand von Werten und bringt so zum Ausdruck, dass etwas gut oder schlecht ist (Maier, 1986, S. 13).
Moralische Ansprüche werden vielfach auch „mit kulturell vorherrschenden Erwartungen gleichgesetzt“ (Edelstein & Nunner-Winkler, 1993, S. 7). Das besondere der Moral ist, dass sie einen „normativen Grundrahmen für das Verhalten vor allem zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst“ (Höffe, 1997, S. 204) bildet. Moral realisiert sich also immer in einem sozialen Kontext. Sie wird seit Kant oft als Inbegriff der sittlichen Pflichten verstanden (Werner, 2002, S. 37 f.). Wobei sittlich sein bedeutet, sein Leben in allen Bereichen verantwortbar zu führen (Höffe, 1997, S. 270). Gleichzeitig ist es aber ein Charakteristikum der Moral, dass sie sich nur in der freien Entscheidung vollzieht (Maier, 1985, S. 15). „Wenn jemand gar nicht anders könnte, als das Rechte zu tun, dann könnte er niemals moralisch handeln“ (Baier, 1974, S. 22; zit. n. Maier, 1986, S. 15 Hervorhebung bei Maier).
Ethik ist die Theorie oder Philosophie der Moral.[2] In ihr wird „über Prinzipien, Begründungen und Anwendungen der Moral nachgedacht“ (Schweppenhäuser, 2003, S. 15). Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls häufig zu findender Begriff ist der der Moralphilosophie. Moralphilosophie und Ethik werden meist synonym verwendet Dieser Praxis folgt auch die vorliegende Arbeit.[3]
Ethik kann sich mit moralischen Handlungsregeln auf ganz unterschiedliche Weise auseinandersetzen. Die empirische, teilweise auch als deskriptiv bezeichnete Ethik „beschreibt moralische Phänomene und versucht ihre Entstehung zu erklären“ (Schweppenhäuser, 2003, S. 17). Es geht also darum, wie Menschen im Sinne der Moral tatsächlich handeln (Pieper, 1998, S. 72). „Die philosophische Ethik dagegen bewertet ihre Gegenstände; sie wird definiert als ‚die kritisch-normative Wissenschaft vom Sittlichen, vom sittlichen Wollen
und Handeln, von den sittlichen Werten, von den Prinzipien der Sittlichkeit ’ (Eisler, 1922, S. 203)“ (Schweppenhäuser, 2003, S. 17; Hervorhebung im Original). Sittlichkeit bezeichnet eine uneingeschränkte Verbindlichkeit, unter der das eigene Verhalten in Bezug zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst steht (Höffe, 1997, S. 269 f.).
Ausgehend davon, dass moralische Regeln Regeln sind, „deren Befolgung kategorisch geboten ist“ (Edelstein & Nunner-Winkler, 1993, S.11), ergeben sich zwei Aspekte der Moral, mit denen sich die Ethik beschäftigt. Der erste ist der „Sollensaspekt“, die Verpflichtung, die eine moralische Regel impliziert (Tugendhat, 1993, S. 34) der zweite Aspekt betrifft das, was moralisch gesollt wird, also die inhaltliche Komponente der moralischen Normen (Edelstein & Nunner-Winkler, 1993, S. 11).
Begründungen moralischer Normen, die sich auf den „Sollensaspekt“ und ein Konzept unbedingt geltender Verpflichtungen als letzte Begründungsinstanz beziehen, werden als formale Ethik bezeichnet. Die formale Ethik beschreibt daher Prinzipien, wie etwas werden soll, aber nicht, was werden soll (Maier, 1986, S. 32).
Wird ein bestimmter Inhalt bzw. ein bestimmter Wert zur Begründung herangezogen, so spricht man von einer materialen Ethik (Schweppenhäuser, 2003, S. 14). Hier sind nicht die formalen Fähigkeiten und Prinzipien von Belang, sondern die moralischen Werte und Normen selbst (Maier, 1986, S. 38).So ist beispielsweise die christliche Ethik, die sich auf die zehn Gebote beruft eine materiale Ethik, während der kategorische Imperativ von Kant[4] eine formale Ethik darstellt (von Saldern, 1992, S.2).
3. Psychologische und empirische Grundlagen
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils sowie mit moralischem Handeln. Es baut einerseits auf der Kenntnis der zuvor erläuterten Begriffe auf und macht gleichzeitig deutlich, wie unterschiedlich verschiedene Wissenschaftler sich zu diesen Begriffen stellen und welche Bedeutung dies für die Formulierung einer Theorie der moralischen Entwicklung und des moralischen Handelns hat.
Pädagogische Praxis basiert immer auf bestimmten Entwicklungs-, Bildungs- und Erziehungstheorien. Gleichzeitig werden diese in der Praxis entweder bestätigt oder falsifiziert. Dies gilt auch für moralische Erziehung. Wer moralisch erziehen will, der muss diese Erziehung auf ein solides theoretisches Fundament stellen. Die entwicklungspsychologische Theorie Kohlbergs könnte ein solches Fundament bilden. Auch sie muss jedoch empirisch
überprüft werden, besonders auch im Hinblick auf ihre pädagogische Relevanz, denn nur so kann beurteilt werden, inwieweit sie in der Praxis einen Beitrag zur Erreichung von Moralität, zu leisten vermag. Die Ergebnisse entsprechender Unterfangen sowie die grundlegenden Annahmen Kohlbergs und anderer Ansätze werden im Folgenden dargestellt. Es wird dabei auch das besondere Verhältnis, das Kohlbergs Theorie zur Philosophie eingeht, deutlich werden. Dieses besteht darin, dass Kohlberg „empirisch-psychologische und anthropologische Daten (benutzte; N.K.), um philosophische Behauptungen aufzustellen, und ... philosophische Aussagen, um psychologische. anthropologische und erziehungswissenschaftliche Daten zu definieren und zu interpretieren“ (Kohlberg, 1986b, S. 505; zit. n. Garz, 2001, S. 258).
Ziel der Ausführungen dieses Kapitels ist einerseits, eine viel bestätigte und rezipierte Theorie der moralischen Entwicklung mit ihren Implikationen und Bedeutungen darzustellen und gleichzeitig ihre Begrenztheit zu verdeutlichen sowie über diese Theorie hinausgehende bedeutsame Faktoren moralischen Verhaltens hervorzuheben. Insgesamt soll so eine solide Grundlage für die weiterführende Diskussion um moralische Erziehung in der Schule geschaffen werden.
3.1 Kohlbergs Theorie moralischer Entwicklung
Die Theorie von Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) ist derzeit immer noch die bedeutendste psychologische Theorie im Bereich der moralischen Entwicklung. Es handelt sich dabei um eine kognitiv ausgerichtete Theorie, die sich „auf die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz als besondere Form der kognitiven Entwicklung“ (Werner, 2002, S. 116) bezieht. Sie wurde nach ihrer ersten Veröffentlichung in den sechziger Jahren stetig weiter ergänzt und ist bis heute Ausgangspunkt neuer oder weitergehender Ansätze (Maier, 1986, S. 101).
3.1.1 Ausgangspunkte der Theorie
Nach Oser und Althof (2001, S. 41 f.) stützt sich Kohlberg bei der Formulierung seiner Theorie auf wesentliche Grundgedanken Piagets. Dieser untersuchte die Organisation von Denk- und Erkenntnisprozessen. Nach Piaget besteht die gesamte kognitive Entwicklung von Menschen in dem kontinuierlichen Versuch, die Welt zu verstehen. Kinder konstruieren hiernach ihre eigene Wirklichkeit und übernehmen nicht einfach die Sicht der Erwachsenen. Diese Auffassung bezeichnet man als Konstruktivismus . Ihr schloss sich Kohlberg ebenso an, wie der Position, dass sich das Denken in der Auseinandersetzung, der Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt entwickelt. Man spricht hier vom Interaktionismus .
Piaget formulierte ein bis heute im Wesentlichen gültiges Stufenmodell der Entwicklung des logisch-mathematischen Denkens (Oser & Althof, 2001, S. 43 f.). Dabei konnte er nachweisen, dass „Kinder konsistent auf bestimmte Typen von Denkschritten zurückgreifen und die einzelnen kognitiven Akte sich zu bestimmten Mustern von Denkoperationen[5] fügen. Für jene Muster hat sich der Begriff der (operatorischen) Struktur eingebürgert“ (Oser & Althof, 2001, S. 43; Hervorhebung im Original). Piaget, wie auch Kohlberg später, interessierte sich für die Genese von Strukturen, weshalb oft auch vom strukturgenetischen Ansatz gesprochen wird (Oser & Althof, 2001, S. 43 f.).
Der Begriff Stufe wird zur Kennzeichnung eines Entwicklungsstandes verwendet. Stufen implizieren deutliche qualitative Unterschiede in Denkstrukturen. Sie werden kulturell unabhängig von allen Menschen in invarianter Reihenfolge nacheinander durchlaufen. Jede Stufe für sich bildet ein strukturiertes Ganzes. Insgesamt sind sie hierarchisch integriert, das heißt, sie bilden eine Ordnung von zunehmend differenzierteren und integrierteren Strukturen. Höhere Stufen integrieren die Strukturen, der niedrigeren (Kohlberg, 1973, S. 85).
Die Entwicklung von einer Stufe zur nächsten findet statt, „wenn die bisherigen Strategien des Denkens nicht mehr ausreichen, um ein Problem zu lösen, und nach besseren Strategien gesucht wird“ (Oser & Althof, 2001, S. 42). Auf jeder neuen Entwicklungsstufe erfährt auch das Selbstkonzept einer Person eine Veränderung. „Das Selbst und seine Beziehungen zu anderen werden unter Berücksichtigung einer gemeinsamen sozialen Welt und allgemeiner sozialer Standards jeweils neu konzipiert“ (Gielen, 1996a, S. 37). Dies ist für Moral, die sich, wie erläutert, immer in einem sozialen Kontext realisiert (Werner, 2002, S. 37 f.), von besonderer Bedeutung.
Kohlbergs kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteilens konzentriert sich nun auf die Entwicklung universeller Stufen des moralischen Denkens (Gielen, 1996a, S. 32). Dabei sieht Kohlberg (1968, S. 30) Gerechtigkeitsaspekte als Hauptproblem moralischer Entscheidungen. Die Moralentwicklung ist für ihn „eine fortschreitende Bewegung hin zu einer Verankerung des moralischen Urteils in Gerechtigkeitsbegriffen“ (Kohlberg, 1968, S. 30). Das bedeutet, dass in einer moralischen Konfliktsituation die Beteiligten versuchen, „die unterschiedlichen Ansprüche, Bedürfnisse und Werte in eine Prioritätenrangfolge zu bringen …, die von anderen Menschen, die ebenfalls rational und unvoreingenommen (also von einem „moralischen Standpunkt“ aus) urteilen, als Entscheidungsgrundlage akzeptiert werden könnten“ (Oser & Althof, 2001, S. 47).
Moralisches Denken ist also nach Kohlberg (1968, S. 30) ein Gerechtigkeitsdenken. Das moralisch Gute, eine moralische Pflicht ist jeweils auf ein Recht eines Individuums zurückzuführen. „Eine Handlung als falsch zu bewerten, heißt, zu dem Urteil zu gelangen, daß sie ein derartiges Recht verletzt“ (Kohlberg, 1968, S. 30).
In Längsschnittstudien[6] versuchte Kohlberg, die Veränderung des moralischen Urteils zu erfassen. Hierzu präsentierte er seinen Probanden bestimmte hypothetische moralische Dilemmata[7]. Die untersuchten Personen sollten für vorgegebene Akteure, die sich in einer Situation konfligierender moralischer Verpflichtungen befanden, eine Entscheidung fällen (Keller, 1996, S. 43). Im Anschluss wurden die Personen aufgefordert, ihre jeweilige Entscheidung so ausführlich wie möglich zu begründen. Dabei fragte der Interviewer immer wieder nach und provozierte so den jeweils Befragten[8] dazu, seine Argumentation weiter zu entfalten und zu untermauern. Kohlberg ging es dabei weniger um den Inhalt der Entscheidung, als darum, die Grundelemente des jeweiligen Denkens und die Strukturen zugänglich zu machen (Reinhardt, 1999, S. 24 f.).[9]
3.1.2 Das Stufenmodell der moralischen Entwicklung
Anhand der Ergebnisse seiner Studien teilte Kohlberg (1976, S. 126 f.) die moralische Entwicklung in drei Ebenen ein: Die präkonventionelle Ebene, die konventionelle Ebene und die postkonventionelle Ebene. Jede dieser drei Ebenen setzt sich wiederum aus zwei Stufen zusammen, so dass insgesamt auf ein 6-stufiges Modell der moralischen Entwicklung entsteht. Die drei Ebenen beschreibt Kohlberg (1976, S. 127; Hervorhebung im Original) „als drei unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen dem Selbst und den gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen“. Die sozialmoralische Perspektive ist also auf jeder Ebene eine andere.
Die erste, die präkonventionelle Ebene ist von einer konkret-individualistischen Perspektive gekennzeichnet. Der Grund, sich an moralische Regeln zu halten, besteht hauptsächlich darin, Strafen zu vermeiden. Auf dieser Ebene zieht das Individuum nur die eigenen Interessen und vereinzelt die isolierter anderer Individuen in Betracht (Kohlberg, 1976, S. 134 f.).
Betrachtet man differenziert die Stufen 1 und 2, die die präkonventionelle Ebene umfasst, so ist auf Stufe 1 „der Standpunkt des konkret einzelnen beherrschend“ (Kohlberg, 1976, S. 140). Die Macht von Autoritäten wird erkannt und ihr Führungsanspruch für rechtmäßig erklärt. Es wird sich an Strafe und Gehorsam orientiert (Oser & Althof, 2001, S. 53). Beispiel: Stehlen ist verboten, weil Mama und Papa das sagen und weil man Ärger bekommt, wenn man es doch tut.
Auf Stufe 2 hat das Individuum erkannt, „daß es eine Reihe anderer Individuen gibt, von denen jedes seine eigene Sichtweise hat“ (Kohlberg, 1976, S. 140). Kinder verstehen nun das Moment der Gegenseitigkeit. Sie urteilen nach dem Prinzip „wie du mir, so ich dir“. Das heißt, wenn jemand etwas für sie tut, dann finden sie es auch moralisch richtig, etwas für diese Person zu tun. Dennoch steht nach wie vor das Eigeninteresse im Vordergrund. „Als ,moralisch’ richtig gilt, Regeln einzuhalten, damit daraus ein konkreter Nutzen erwachse, sei es für sich selber, sei es für andere, speziell die unmittelbaren Bezugspersonen, auf die das Subjekt angewiesen ist“ (Bucher, 1995, S. 52). Beispiel: Stehlen ist verboten, weil man selbst auch nicht bestohlen werden möchte.
Auf der konventionellen Ebene sieht sich das Individuum als Mitglied der Gesellschaft. Ihm ist an der Einhaltung von Regeln gelegen, um das Wohl der Gesellschaft insgesamt zu sichern (Kohlberg, 1976, S. 134).
„Das konventionelle Individuum ordnet die Bedürfnisse des Einzelnen dem Standpunkt und den Bedürfnissen der Gruppe oder der gemeinsamen Beziehung unter“ (Kohlberg, 1976, S. 134). Das es auf dieser Ebene als wertvoll verstanden wird, den Erwartungen der eigenen Gruppe zu entsprechen, resultiert aus einer Loyalität und dem aktiven Bemühen, bestehende Ordnungen „zu unterstützen, zu rechtfertigen und sich mit den entsprechenden Personen oder der Gruppe zu identifizieren“ (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 52).
Auf der Stufe 3 richtet sich die Perspektive des Individuums dabei noch nicht auf die Gesellschaft oder eine Institution insgesamt, sondern die Dinge werden aus dem Blickwinkel gemeinsamer Beziehungen zwischen zwei oder mehr Personen betrachtet (Kohlberg, 1976, S. 140). „Gutes Verhalten ist das, was anderen gefällt oder hilft und deren Zustimmung findet“ (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 52). Im besonderen Gegensatz z.B. zu Stufe 2 spielt nun also auch das Wohlergehen der Anderen eine Rolle. Dabei sind Interessen von Gruppen oder Individuen, die nicht zur Bezugsgruppe gehören, allerdings noch nicht von Belang (Oser & Althof, 2001, S. 57). Beispiel: Stehlen ist in Ordnung, wenn man damit einem Freund oder der eigenen Familie hilft.
Auf Stufe 4 stellt sich das Individuum auf den Standpunkt des sozialen Systems (Kohlberg, 1976, S. 140). Es „erkennt, daß die Gesellschaft aus Individuen und Gruppen in vielfältiger Verbindung zusammengesetzt ist, aus Einzelelementen, die jeweils ihre eigenen Standpunkte und Bedürfnisse haben“ (Oser & Althof, 2001, S. 58). Eine Person, die auf Stufe 4 urteilt, orientiert sich an Gesetz und Ordnung. „Richtiges Verhalten besteht darin, seine Pflicht zu tun, Respekt vor Autorität zu zeigen und die bestehende Sozialordnung um ihrer selbst willen zu erhalten“ (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 52). Anders ausgedrückt: „Das moralisch Wertvolle wird unter dem Blickwinkel der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Ganzen definiert, individuelle Interessen sind dem – im Konfliktfall – unterzuordnen“ (Oser & Althof, 2001, S. 58 f.). Beispiel: Man darf nicht stehlen, denn wenn das alle täten, würde die ganze Gesellschaft zusammenbrechen.
Auf der postkonventionellen Ebene nun findet eine Rückkehr zum Standpunkt des Individuums statt. Es wird nicht mehr unmittelbar die Perspektive eines Gesellschaftsmitglieds eingenommen. Soziale Verpflichtungen werden in einer Weise definiert, dass sie gegenüber jeder moralischen Person gerechtfertigt werden können. Eine solche Rechtfertigung beruft sich auf grundlegende moralische Prinzipien, die man als den in einer Gesellschaft gültigen Gesetzen und Werten vorgeordnet betrachtet. Es besteht das Bemühen, „moralische Werte und Normen zu bestimmen, die unabhängig von der Autorität der Gruppen und Personen, die diese Prinzipien vertreten, und unabhängig von der eigenen Identifikation mit diesen Gruppen Gültigkeit besitzen und anwendbar sind“ (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 52). „Die postkonventionelle Perspektive geht somit der Gesellschaft voraus; sie verkörpert den Standpunkt eines Individuums, welches die moralischen Verpflichtungen eingegangen ist bzw. die Maßstäbe vertritt, denen eine gute oder gerechte Gesellschaft genügen muß“ (Kohlberg, 1976, S. 136; Hervorhebung im Original).
Auf Stufe 5 wird zwischen moralischen und rechtlichen Gesichtspunkten unterschieden (Kohlberg, 1976, S. 141). „Richtige Handlungen werden meist im Hinblick auf allgemeine Individualrechte und auf Standards definiert, die von der gesamten Gesellschaft kritisch geprüft und vereinbart worden sind“ (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 52). Es wird erkannt, dass persönliche Werte und Meinungen relativ sind. Außerhalb dessen, worauf man sich verfassungsmäßig geeinigt hat, wird es von daher als eine persönliche Angelegenheit gesehen, ob etwas als richtig oder falsch beurteilt wird. Der legale Standpunkt wird betont, aber gleichzeitig auf die Möglichkeit verwiesen, Gesetze „aufgrund rationaler sozialer Nützlichkeitserwägungen ändern zu können“ (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 53). Was moralisch richtig ist, wird durch Rückgriff auf Prinzipien, also „universelle Leitlinien für moralische Entscheidungen“ (Oser & Althof, 2001, S. 60) bestimmt. Nach der Kohlbergschen Theorie handelt es sich bei diesen Prinzipien um Gerechtigkeitsprinzipien wie Gleichheit, Würde des Menschen, Freiheit etc. (Oser & Althof, 2001, S. 60 f.). Beispiel: Stehlen ist rechtlich falsch, denn es verletzt das Recht jedes einzelnen auf Eigentum, aber, wenn es nötig ist um ein Menschenleben zu retten, muss das Gesetz eine Ausnahme machen, denn das Recht jedes einzelnen auf Leben ist stärker als das auf Eigentum.
Schließlich folgt Stufe 6 , auf der sich das Individuum an universellen ethischen Prinzipien orientiert. Sie ist die Stufe eines moralischen Standpunktes und der höchste Punkt der moralischen Entwicklung (Gielen, 1996a, S. 48).
Was richtig ist, wird durch Gewissensentscheidung im Einklang mit selbstgewählten ethischen Prinzipien festgelegt, die sich darauf berufen, logisch umfassend und universell konsistent zu sein. Dabei handelt es sich um abstrakte, moralphilosophische Prinzipien (Goldene Regel, Kategorischer Imperativ), nicht um konkrete Regeln wie die Zehn Gebote (Kohlberg & Kramer, 1969, S. 53; Hervorhebung im Original).
Der Unterschied zu Stufe 5 ist schwierig zu fassen, was damit zu tun haben mag, dass eine Stufe 6 bisher empirisch nicht nachgewiesen werden konnte und auch von daher die genaue Definition und der Status der Stufe 6 unsicher bleiben (Gielen, 1996a, S. 48). Dennoch wird in der Theorie Kohlbergs daran festgehalten, dass es theoretisch eine Stufe 6 geben müsse. Denn um bestimmen zu können, dass jede neue Stufe der vorausgehenden im moralischen Urteilen überlegen ist, müsse man wissen, auf welchen Endpunkt die moralische Entwicklung eigentlich ausgerichtet sei (Oser & Althof, 2001, S. 67 f.). Kohlberg hielt die Domäne der Moral „nur für erschließbar, wenn der Theoretiker zumindest ein vorläufiges Verständnis von der idealen Moral besitzt …. Die Stufe 6 definiert für Kohlberg das ,reine Wesen’ der Gerechtigkeit“ (Gielen,1996a, S. 49).
Moralischer Fortschritt auf der „Leiter“ der Entwicklungsstufen des moralischen Urteils wird nach Kohlberg (1976, S. 124) von der allgemeinen kognitiven Entwicklung, wie auch von sozialen Entwicklungsfaktoren bedingt. Weil moralisches Denken eben auch Denken ist, hängt auch fortgeschrittenes moralisches Denken von fortgeschrittenem logischen Denken ab. Die jeweils erreichte Stufe der Logik legt mehr oder weniger die jeweils mögliche Steighöhe auf den Moralstufen fest. Außerdem wird die Stufe der moralischen Urteilsfähigkeit bedingt durch die erreichte Stufe der sozialen Wahrnehmung (auch soziale Perspektiven- oder Rollenübernahme genannt). Diese erfasst „das Niveau, auf dem die Person andere Menschen wahrnimmt, ihre Gedanken und Gefühle interpretiert und ihre Rolle bzw. Stellung in der Gesellschaft versteht“ (Kohlberg, 1976, S. 125).
Nach Kohlberg (1976, S. 125) gibt es „eine horizontale Abfolge von Schritten in Form einer Bewegung von der Logik zur sozialen Wahrnehmung und dann zum moralischen Urteil“.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dabei muss jedoch betont werden, dass die kognitive und die soziale Entwicklung jeweils nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung einer Stufe des moralischen Urteilens darstellt (Kohlberg, 1976, S. 124 f.). Es ist also möglich, auf einer niedrigeren Stufe moralisch zu urteilen, als es einem aufgrund der erreichten sozialen und logischen Stufe möglich wäre.
Die vorliegenden empirischen Ergebnisse bestätigen diese unterstellte Abhängigkeit von kognitiver über soziale hin zu moralischer Entwicklung (Gielen, 1996a, S. 55).
Kohlberg (1976, S. 373 ff.) geht jedoch noch einen Schritt weiter und sieht moralisches Verhalten als Abschluss dieser Sequenz. Moralische Urteile bedingen demnach moralisches Verhalten. Diese Hypothese Kohlbergs wird in Kapitel 3.2 noch genauer zu besprechen sein. Nach den vorliegenden empirischen Ergebnissen scheint es fraglich, ob die Moralstufe sich tatsächlich als Variable erweist, „die Handlungen gut vorherzusagen erlaubt“ (Kohlberg, 1976, S. 126).
3.1.3 Kritik an Kohlbergs Theorie
Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung ist sehr anspruchsvoll und dementsprechend von allen Seiten auf den Prüfstand gestellt worden. Sie zog eine unüberschaubare Anzahl psychologischer und pädagogischer Forschungsarbeiten nach sich und hat auch viel Kritik erfahren (Oser & Althof, 2001, S. 183). Eine ausführliche Besprechung jedes einzelnen Kritikpunktes würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen und so soll sich im weiteren Verlauf nur auf die wichtigsten unter ihnen bezogen werden. Zunächst wird dabei die Universalitätsbehauptung der Stufen des moralischen Urteils überprüft. Anschließend geht es um die Gültigkeit, die Kohlbergs Theorie für jüngere Kinder hat und die Frage ob deren Moralverständnis doch über das von Kohlberg postulierte hinausgeht.
Es folgt die Darstellung wesentlicher Punkte der Diskussion um das Verhältnis von Struktur und Inhalt in Kohlbergs Theorie. Dabei geht es besonders um den Einfluss von Kontextbedingungen auf moralische Urteile und die Relevanz des Inhalts der moralischen Entscheidung in Kohlbergs Theorie, also ob ein Urteil als moralisch gut oder schlecht angesehen wird. Schließlich werden mögliche Unterschiede des moralischen Urteils zwischen den Geschlechtern analysiert und die Ergebnisse der Kritik kurz zusammengefasst.
3.1.3.1 Zur Kulturübergreifenden Gültigkeit von Kohlbergs Theorie
Besonders intensiv wurde die Frage diskutiert, ob die Abfolge der Stufen Kohlbergs tatsächlich universeller Natur sei oder ob „diese Universalitätsbehauptung womöglich eine quasi imperialistische Behauptung ist. Das wäre dann der Fall, wenn Konventionen westlicher Gesellschaften als angeblich allgemeingültige auf andersartige Gesellschaften übergestülpt würden“ (Reinhardt, 1999, S. 38). Kulturübergreifende Untersuchungen bestätigen Kohlberg jedoch insofern, als sie „deutlich die Existenz, Kohärenz und Sequentialität moralischer Stufen in drei sehr unterschiedlichen Gesellschaftssystemen“ (Gielen, 1996b, S. 67) nachweisen. Für die postkonventionelle Ebene lässt sich jedoch feststellen, dass in anderen Kulturen neben Gerechtigkeit auch andere „universalisierbare Werte der Liebe, des Mitgefühls, der Sympathie und der Unvoreingenommenheit“ (Gielen, 1996b, S. 70) eine Rolle spielen und Kohlbergs Stufenmodell insofern „sowohl eine globale wie auch eine eher begrenzte Sicht der Moral“ (Vasudev & Hummel, 1987, S. 116; zit. n. Gielen, 1996, S. 71) darstellt.
3.1.3.2 Frühkindliche Moralentwicklung
Es wurde erläutert, dass bei Kohlberg die moralische Entwicklung mit der präkonventionellen Ebene beginnt. Diese Ebene wird aber erst von Kindern, die etwa sieben Jahre alt sind erreicht. Sie bildet von daher nicht den absoluten Nullpunkt moralischer Entwicklung. Die Zeit vor Erreichen der Stufe 1 wird von Kohlberg nicht spezieller untersucht. Sie bildet schlicht das „vormoralische Stadium“, also eine Art Stufe 0 (Oser & Althof, 2001, S. 50 ff.). Auf präkonventionellem Niveau gesteht Kohlberg Kindern nur ein instrumentelles Verständnis der Geltungsgründe moralischer Normen zu. Sie versuchen demnach durch die Befolgung bzw. Anerkennung moralischer Regeln lediglich Sanktionen zu vermeiden (Nunner-Winkler, 1999, S. 90). Andere Forscher fanden dagegen in empirischen Untersuchungen heraus, „daß Kinder schon früh ein angemessenes kognitives Verständnis der intrinsischen Geltungsgründe einfacher moralischer Gebote besitzen. Sie verstehen diese als autoritäts- und sanktionsunabhängig universell und unabänderlich gültig“ (Nunner-Winkler, 1999, S. 91).
Kinder argumentieren demnach für die Gültigkeit einer moralischen Norm mit einer Vielzahl von Kategorien, auch wenn den eigenen Wünschen und Präferenzen das größte Gewicht zukommt (Keller, 1996, S. 88). Die Altruismusforschung zeigt, dass Kinder schon früh empathiefähig sind und anderen spontan helfen, ohne dabei auf einen eigenen Nutzen aus zu sein (Nunner-Winkler, 1999, S. 91). Argumente, die nach Nunner-Winkler (1999, S. 95 f.) bei Kohlberg der Stufe 3 zugewiesen werden (z.B. negative Gefühle), treten nach anderen Studien im prosozialen moralischen Denken schon früher auf, als im verbotsorientierten, nämlich schon zwischen sieben und zehn Jahren. Die Forschung ergab außerdem, dass Begründungen von Kindern stark situationsabhängig entweder autoritätsgebunden oder empathisch sind. Kinder reagieren sensibel auf Kontextbedingungen. So spielt beispielsweise die Intimität einer Beziehung eine wichtige Rolle (Keller, 1996, S. 92 ff.).
3.1.3.3 Verhältnis von Inhalt und Struktur in Kohlbergs Theorie
Dem Einfluss von Kontextbedingungen auf das moralische Urteil ist nach Ansicht einiger Wissenschaftler (z.B. Reuss & Becker, 2001 oder Döbert, 1986) in Kohlbergs Theorie generell zu wenig Beachtung geschenkt worden. Ihrer Ansicht nach stellt sich das Verhältnis von Inhalt und Struktur in Kohlbergs Theorie problematisch dar. Kohlbergs Aufmerksamkeit galt den invarianten, universellen Strukturen moralischen Urteilens. „Die Frage nach möglichen Kontexteffekten – in Abhängigkeit von unterschiedlichen Dilemmatypen, Fragetypen und der ‚issue’-Wahl – stellte sich für Kohlberg nicht …“ (Reuss & Becker, 2001, S. 198).
Inhalte sind aber von Bedeutung für Handlungsentscheidungen. Das kann man bereits aus Kohlbergs eigener Formulierung der Stufen folgern. Demnach hat die Moral auf jeder neuen Stufe eine andere Funktion. Auf Stufe 1 beispielsweise die Vermeidung von Strafe und auf Stufe 3 die Erhaltung der Anerkennung der Bezugsgruppe. Es liegt nun nicht fern, wie Döbert (1986, S. 91) zu schlussfolgern, dass mit dem Auftauchen neuer Motive in das moralische Kalkül auch andere Elemente eingehen. Das bedeutet jedoch, dass sich nicht nur die Struktur, sondern auch der Inhalt, also die Wahrnehmungen und Erfahrungen des Individuums, verändert (Döbert, 1986, S. 91). Bezweifelt wird von Döbert (1986, S. 107) auch, dass Gerechtigkeit, die ja nach Kohlberg den Kern der Moral bildet, sich inhaltsunabhängig definieren lässt. Generell hält er die Identifizierung von Moral mit Gerechtigkeit für unangemessen und argumentiert, dass sie schon immer nur einen Teil der Moral darstellte (Döbert 1986, S. 96 ff.). Gerade Gerechtigkeitsprinzipien eigneten sich nicht dazu „universalistische Ansprüche gegen relativistische Positionen zu stärken“ (Döbert, 1986, S. 107). Seiner Ansicht nach gibt es einen „universellen Kernbereich von Moral“ (Döbert, 1986, S. 109) der durch die „banalen Grundvoraussetzungen unserer Existenz“ (Döbert, 1986, S. 103) definiert werde und um den es in Kohlbergs Dilemmata auch eigentlich gehe (und eben zumeist nicht um Gerechtigkeitsfragen).
In dieser Kritik klingt bereits eine Thematik an, die vor allem in Kapitel 6.1 noch einmal aufgegriffen werden wird. Dabei geht es um die Frage, ob es denn so etwas wie einen „Kernbereich von Moral“ (Döbert, 1986, S. 103), eine Festlegung auf bestimmte Werte, die in allen Kulturen von Bedeutung sind, überhaupt geben kann. Oder ob man feststellen muss, dass Werte generell relativ sind.
Es gibt jedoch noch eine weitere Inhaltsproblematik in Kohlbergs Theorie. Diese besteht darin, dass der Inhalt der moralischen Entscheidung der Versuchspersonen Kohlbergs für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen zweitrangig war. Da man auf der Suche nach Strukturen war, spielte es zunächst keine Rolle ob „richtige“ Antworten gegeben wurden oder nicht. Die Beschäftigung mit Moralentwicklung wäre aber sinnlos, wenn es nicht darum gehen würde, Strukturen zu finden, die immer wahrscheinlicher zu einem „richtigen“ Urteil führen würden (Döbert, 1986, S.117 ff.). „Wären die sich entwickelnden Strukturen generell so gleichgültig gegenüber den moralischen Entscheidungen, dann hätte die kognitivistische Entwicklungstheorie dem ethischen Relativismus endlich die wissenschaftliche Basis geliefert“ (Döbert, 1986, S. 119). Kohlberg vertrat diese Position, so Döbert (1986, S. 120), letztlich auch nicht, sondern behauptete stattdessen, dass eben erst die Strukturen der postkonventionellen Stufe geeignet wären, um eindeutig moralisch richtige Entscheidungen treffen zu können. Die empirische Analyse der Antworten einiger Dilemmata scheint auch zu belegen, dass mit höherer Stufe „richtigere“ Entscheidungen getroffen werden. Es finden sich aber ebenso Dilemmata, in denen auch Personen auf postkonventioneller Ebene moralische Fragen als unentscheidbar empfinden und sich nicht im Stande sehen, unstrittige moralische Normen, die miteinander in Konflikt geraten, in eine Hierarchie zu bringen, um eine eindeutige, prinzipienorientierte Entscheidung zu treffen (Döbert, 1986, S. 121). Erschwerend kommt hinzu, dass bei der Befragung zu Dilemmata es den Personen nicht erlaubt ist, auf in der Praxis übliche Problemlösestrategien wie z.B. das Ausweichen auf Prozeduren (Losen), Kompromisslösungen (Abstriche auf beiden Seiten) oder integrative Lösungen (einen Weg finden, der allen Ansprüchen gerecht wird) anzuwenden (Döbert, 2001, S. 208 ff.). Der Interviewer schränkt, um dies zu verhindern, den Kontext immer weiter ein (Döbert, 2001, S. 211). Dies zeigt aber wiederum, dass, wie oben bereits festgestellt, der Kontext offensichtlich für die Entscheidung von Bedeutung ist.
3.1.3.4 Geschlechtsunterschiede im moralischen Urteil
1982 legte Gilligan (1988, S. 33) eine Theorie vor, in der sie behauptete, weibliche Personen hätten ihre eigene Moral, die sich nicht an Gerechtigkeit, sondern flexibel (also kontextbezogen) an Fürsorge und Verantwortung orientiere. Frauen, so Gilligan (1988, S. 27), würden sich in jeder Gesellschaft über die Verbindungen zu anderen Menschen definieren und beurteilten sich selbst auch nach ihrer Fähigkeit der Anteilnahme. Diese moralische Orientierung werde in Kohlbergs Entwicklungstheorie einer Gerechtigkeitsmoral unterdrückt und führe dazu, dass Frauen oft auf Stufe 3, auf der die Moral „in zwischenmenschlichen Begriffen definiert (wird; N.K.)“ (Gilligan, 1988, S. 29) sozusagen „stecken blieben“, während Männer zu höheren Stufen fortschritten (Gilligan, 1988, S. 29).
Die empirische Untersuchung dieser These zeigt jedoch, dass sich im allgemeinen und spätestens bei der Eliminierung von Bildungs- und Berufsunterschieden keine Geschlechtsunterschiede ergeben, was die Verteilung auf die Moralstufen angeht (Nunner-Winkler, 1996, S. 358). Auch der Aussage, Frauen bezögen sich in ihren moralischen Urteilen flexibler auf Kontextbedingungen, während Männer rigide Gerechtigkeitsurteile träfen, wurde nachgegangen. Ergebnis war, dass beide Sichtweisen, sowohl eine Moral der Gerechtigkeit, als auch eine Moral der Fürsorge ihre Berechtigung haben und sich auch in Urteilen beider Geschlechter wieder finden lassen (Oser & Althof, 2001, S. 313). In Forschungsinterviews findet sich gewöhnlich eine Mischung beider „Stimmen“ (Gielen, 1996b, S. 73). Bestimmender Faktor ist dabei die persönliche Betroffenheit (damit auch die Intimität von Beziehungen). So orientieren sich Mädchen in einem Schwangerschaftsdilemma beispielsweise eher an einer Moral der Fürsorge und kontextueller als Jungen. Umgekehrtes gilt jedoch, wenn es um Wehrdienstverweigerung geht (Nunner-Winkler, 1996, S. 359). Fürsorglichkeit und Kontextbezogenheit als Personenmerkmal der Frauen konnte also nicht nachgewiesen werden. Gilligans Arbeit kommt aber dennoch der Verdienst zu, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass „Fürsorglichkeit und Rücksichtnahme, die Berücksichtigung der kontextuellen Umstände bei moralischen Entscheidungen und der besonderen Bedürfnisse und Verletzlichkeit anderer Menschen ... Aspekte der Moral (sind; N.K.), die gerade im direkten zwischenmenschlichen Umgang nicht vernachlässigt werden dürfen“ (Oser & Althof, 2001, S. 329).
3.1.3.5 Zusammenfassung
Ausgehend von den dargelegten kritischen Betrachtungen von Kohlbergs Theorie, lässt sich bis hierhin sagen, dass das Prinzip der Gerechtigkeit offensichtlich ein zu enges Kriterium für den komplexen Bereich der Moral darstellt und das Moralverständnis von Kindern komplexer ist, als es in Kohlbergs Theorie den Anschein macht.
Eine Eingrenzung auf Gerechtigkeitsdenken ist methodisch möglicherweise sinnvoll, insofern sich Gerechtigkeitsdenken leichter erschließen lässt, als fürsorgliches Denken (Oser & Althof, 2001, S. 47). Kohlberg reagierte auf entsprechende Kritik jedoch hauptsächlich indem er herausstellte, dass auf der postkonventionellen Ebene auch das Thema der Fürsorge für andere integriert sei. Nach seiner Auffassung „setzen persönliche Verpflichtungen zur Anteilnahme die allgemeine Pflicht zur Gerechtigkeit voraus, reichen aber noch darüber hinaus, so daß Gerechtigkeit notwendig, aber noch nicht hinreichend für sie ist“ (Kohlberg & Candee, 1984, S. 245 f.). Diese Rechtfertigung bestätigt aber im Grunde Döbert (1986, S. 121) in seiner Auffassung, dass es in Kohlbergs Dilemmata eben nicht nur um Gerechtigkeitsdenken, sondern um ein moralisches Denken, zu dem auch Kontextbedingungen und Rücksichtnahme auf andere gehören, gehe.
Insgesamt dienen die dargelegten Aspekte dazu, die Vielschichtigkeit moralischer Fragen noch einmal zu verdeutlichen und so ein Bewusstsein dafür zu schaffen, auf welchen umfassenden Grundlagen und Fragestellungen die Diskussion moralischer Erziehung basiert und wie anspruchsvoll entsprechend die Integration dieser Thematik in den Schulalltag ist.
3.1.5 Relevanz von Kohlbergs Theorie für die pädagogische Praxis
Für die pädagogische Praxis hat der Übergang vom moralischen Urteil zum Handeln eine besondere Bedeutung, denn moralische Erziehung bezweckt, wie in Kapitel 4 und 5 näher ausgeführt werden wird, nicht nur Kinder und Jugendliche in ihrer moralischen Urteilsfähigkeit zu fördern, moralische Erziehung will moralische Kompetenzen verbessern, damit Menschen sich moralisch verhalten (Maier, 1986, S. 12 f.).
Kohlberg und Candee (1984, S. 373 ff.) gingen bei der Konzeption der Stufen moralischer Entwicklung von einem direkten Zusammenhang zwischen moralischem Urteil und moralischer Handlung aus. Das heißt, was das Individuum entsprechend seiner Stufe als moralisch gut ansieht, wird es auch ausführen. Von dieser Annahme wich er prinzipiell auch später nicht ab, schränkte sie aber, wie im nächsten Kapitel näher erläutert wird, etwas ein, indem er zusätzlich ein Verantwortungsurteil einführte, welches jedoch wiederum an die Stufen des moralischen Urteils gebunden blieb. Diese postulierten Zusammenhänge konnten empirisch durchaus nachgewiesen werden (Kohlberg & Candee, 1984, S. 373 ff.), dennoch reichen sie nicht aus, um die Beziehung sowie Brüche zwischen Urteilen und Handeln vollständig zu erklären. Viele Forscher haben sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und eine Vielzahl von Modellen entwickelt, in denen sie versuchen, die Bedingungen moralischen Handelns zu klären. Dabei sind sie ganz unterschiedliche Wege gegangen und haben Konzepte entworfen, die vor allem auch Kohlbergs eigenen Ansatz kritisch betrachten und in vielen Punkten ergänzen. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die Praxis sollen im Folgenden einige dieser Theorien, darunter auch die Kohlbergs, vorgestellt werden.
3.2 Vom Urteilen zum Handeln
Wenn in der pädagogischen Praxis versucht wird, Kinder und Jugendliche so zu erziehen, dass aus ihnen moralisch handelnde Individuen werden, dann ist es unablässig darüber nachzudenken, wodurch einerseits ein moralisches Verhalten gekennzeichnet ist und andererseits, welche Momente denn konstitutiv für moralisches Handeln sind. Moralisches Wissen allein ist ganz offensichtlich keine Garantie für moralisches Verhalten (Nunner-Winkler, 1996, S, 138 f.; Kohlberg & Candee, 1984, S. 374 ff.)
Trotz zahlreicher Bemühungen ist es bis heute noch nicht gelungen, Brüche zwischen Urteilen und Handeln systematisch zu erklären. Die vorliegenden Theorien und Forschungsarbeiten geben aber dennoch einige Anhaltspunkte, die möglicherweise zur Orientierung von Erziehern in ihrer alltäglichen Praxis beitragen können.
3.2.1 Was charakterisiert moralisches Handeln?
Nicht jedes Handeln, das einem außenstehenden Betrachter als gut und richtig erscheint, ist schon ein moralisches. Wenn jemand einen anderen vor dem Ertrinken rettet, weil derjenige den Schlüssel zu seinem neuen Auto in der Tasche hatte, wird das wohl kaum jemand als moralisches Handeln charakterisieren. Bereits unser Alltagsverständnis sagt uns, dass, wer moralisch handelt, sich eben nicht nur von seinen persönlichen Interessen und Wünschen leiten lässt, wie es im Beispiel der Fall gewesen wäre. „Eine Handlung ist nicht schon dann moralisch, wenn sie objektiv und tatsächlich richtig ist, wenn sie also objektiv den Erwartungen und Regeln der Gesellschaft oder auch extern definierten moralischen Normen entspricht“ (Blasi, 2000, S. 118).
Blasi (2000, S. 118) identifiziert drei Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung moralisch ist:
Die Handlung muss das Ergebnis einer Absicht sein.
Die Absicht muss auf moralischen Motiven beruhen und durch sie bestimmt werden.
Der Handelnde muss die Handlung wollen, weil sie moralisch gut ist.
Dieses allgemein anerkannte Verständnis moralischen Handelns kann durch Kohlbergs Definition moralischen Handelns weiter spezifiziert werden. Für Kohlberg (Kohlberg & Candee, 1984, S. 403 f.) ist ein moralisches Handeln nur solches, welches erstens „dem handlungsrelevanten Urteil des Individuums entspricht“ (Kohlberg & Candee, 1984, S. 403) und zweitens unter objektiven und universellen Maßstäben (zum Beispiel nach Kants kategorischem Imperativ) für gut befunden werden kann. Damit kann ausgeschlossen werden, dass jedes Handeln als moralisch charakterisiert werden kann. Ohne diese doppelte Eingrenzung könnte ansonsten z.B. auch gewalttätiges Handeln als moralisch angesehen werden , denn dieses kann durchaus in Konsistenz mit einem Stufenurteil stehen. Auf Stufe 3 beispielsweise kann es nach Kohlbergs Theorie durchaus als richtig angesehen werden, Unterlegene zu schlagen, wenn man damit der eigenen Gruppe gefällt. Von einem objektiven und universellen Standpunkt aus kann ein solches Verhalten jedoch nicht als richtig angesehen werden. Entsprechend stellt es kein moralisches Handeln dar.
3.2.2 Verantwortungsurteile und moralische Typen
Wie schon angedeutet sehen Kohlberg und Candee (1984) moralisches Urteilen und moralisches Handeln als voneinander abhängig. Kohlbergs Meinung nach
ist die Entwicklung des moralischen Urteilens ebenso die Ursache moralischen Handelns, wie sie aus dem moralischen Handeln selbst erwächst. Ein neu erworbenes moralisches Urteil kann zu einer neuen Verhaltensweise führen, während die Ausführung einer neu erworbenen Verhaltensweise zur Bildung eines neuen moralischen Urteils verhelfen kann (Kohlberg & Candee, 1984, S. 384).
Das moralische Urteil ist jedoch nur notwendige, nicht hinreichende Voraussetzung moralischen Handelns. Dieses deontische Urteil bestimmt, was richtig ist. Zusätzlich können andere Wissens- und Motivationsfaktoren, die nicht spezifisch moralisch sind, einen Einfluss auf das Handeln haben (Kohlberg & Candee, 1984, S. 394). Solche außermoralischen Faktoren schlagen sich in einem Verantwortungsurteil nieder. In diesem Urteil bestimmt die Person, ob sie sich selbst verpflichtet sieht, die Handlungsalternative, die sie selbst als die richtige bestimmt hat, auch auszuführen (Gielen, 1996b, S. 80).
Empirische Studien zeigen, dass das Verantwortungsurteil tatsächlich eine gute Vorhersagekraft für moralisches Handeln besitzt. Der Bezug zu den Stufen des moralischen Urteils bleibt dennoch erhalten, denn das Verantwortungsurteil ist an das deontische Urteil gebunden. Das bedeutet, je höher die Stufe des deontischen Urteils, desto eher fällt auch das Verantwortlichkeitsurteil der Person positiv aus (Kohlberg & Candee, 1984, S. 404 f., 418 f.). Es wird „von einer linearen Zunahme von Verantwortlichkeit nach Stufenhöhe gesprochen“ (Oser & Althof, 2001, S. 232). Die zunehmende Konsistenz von deontischem und Verantwortungsurteil mit steigender Stufe geht einher mit einer Abnahme von „Quasi-Verpflichtungen“, die Individuen als Entschuldigungen angeben, wenn sie nicht in Übereinstimmung mit ihrem deontischen Urteil handeln (zum Beispiel „Ich konnte zu dem Zeitpunkt nicht helfen, denn mein Vorgesetzter brauchte mich gerade dringend für eine andere Sache.“). Mit steigender Urteilsstufe wird es zunehmend schwieriger, solche Rechtfertigungen zu finden, da solche „nur aus einem Denken erwachsen können, das nicht – im philosophischen Sinne – prinzipienorientiert ist“ (Kohlberg & Candee, 1984, S. 409). Verantwortlichkeitsurteile können als eine mit den Stufen wachsende Vorstellung von moralischer Freiheit und Autonomie interpretiert werden (Kohlberg & Candee, 1984, S. 425).
Zusammengefasst kann also zunächst gesagt werden, dass Menschen, die eine höhere Stufe moralischer Urteilfähigkeit erreicht haben, sich eher verantwortlich fühlen, ihre moralischen Urteile auch in Handlungen umzusetzen.
Weitere wissenschaftliche Untersuchungen ergaben jedoch, dass es auf allen Stufen Menschen gibt, die „intuitiv“ moralische Entscheidungen treffen, die postkonventionellen Prinzipien gerecht werden. Das heißt, es finden sich bereits auf niedrigeren Stufen moralischen Urteilens Menschen, die beispielsweise den Schutz des Lebens durchgehend als entscheidungsbestimmende Norm sehen (Keller, 1996, S. 68). „Zur Erklärung dieses Widerspruchs wurde die Unterscheidung moralischer Typen innerhalb der Entwicklungsstufen herangezogen und ein Zusammenhang zwischen moralischem Typ und Verantwortlichkeitsurteil postuliert“ (Keller, 1996, S. 68).
Es wird unterschieden zwischen einem autonomen Typ B und einem heteronomen Typ A. Personen des Typ B machen „intuitiv Aspekte postkonventioneller moralischer Urteile geltend, ohne diese aber rational im Sinne einer kohärenten normativen Ethik begründen zu können“ (Krettenauer, 2001, S. 97). Ihre Urteile zeichnen sich dadurch aus, „dass sie sich nicht auf kontingente Neigungen, Bedürfnisse oder Interessen des Handelnden stützen, sondern kategorisch den Vorstellungen über das moralisch Richtige entspringen“ (Krettenauer, 2001, S. 97).Urteile des Typ A sind dagegen durch heteronome Achtung vor Regeln und Autorität gekennzeichnet. Beide Typen können auf jeder Stufe moralischen Urteilens auftreten (Kohlberg & Candee, 1984, S. 427). Dabei ist es möglich, dass sich ein Individuum von 3A zu 3B entwickelt, nicht aber umgekehrt (eine Entwicklung von 3B zu 4A ist jedoch wiederum möglich). Der Typ B stellt also immer eine reifere Version moralischen Urteilens dar als Typ A (Kohlberg, 1976, S. 145).
Nach Keller (1996, S. 68) sollen in Kohlbergs Theorie „die Verantwortlichkeitsurteile der Probanden des Typ B ... mehr den Verantwortlichkeitsurteilen der Probanden auf höheren Stufen gleichen als die Urteile des Typs A auf gleicher Stufe“. Es zeigt sich, dass Personen des Typs B sich durch eine größere Konsistenz von Urteil und Handeln auszeichnen, sich stärker politisch engagieren und unabhängiger von sozialem Erwartungsdruck sind (Krettenauer, 2001, S. 98).
Aufbauend auf diesen und weiteren Analysen entwickelte Kohlberg ein vierstufiges Modell des Urteils-Handlungs-Zusammenhangs, welches angelehnt ist an ein, sich ebenfalls auf diesen Zusammenhang beziehendes Modell von Rest (Rest, 1999, S. 89). Am Anfang steht darin die Interpretation der Situation. Es folgt das deontische Urteil, dann das Verantwortlichkeitsurteil. Der letzte Schritt besteht in der Überprüfung bestimmter außermoralischer Ausführungsfähigkeiten. Erst am Schluss dieser vier Schritte steht die moralische Handlung (Kohlberg & Candee, 1984, S. 429 f.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Die Beziehung zwischen moralischem Urteil und moralischem Handeln (Gielen, 1996b, S. 79)
Kohlbergs Aufmerksamkeit galt besonders den beiden mittleren Schritten. Andere Forscher, auf die Kohlberg sich auch bezieht, haben sich mit den übrigen Schritten des Modells näher auseinandergesetzt oder aber bestimmte Aspekte einzelner Schritte ausführlicher erläutert. Mit einigen dieser Gedanken setzt sich das folgende Kapitel auseinander.
3.2.3 Moralisches Selbst
Auch Blasi (1993) hat sich intensiv mit der Beziehung zwischen Urteilen und Handeln beschäftigt. Ähnlich wie Kohlberg postuliert er, dass moralisches Denken dann zuverlässiger in Handeln umgesetzt wird, „wenn es in ein Urteil persönlicher Verantwortlichkeit überführt wird“ (Blasi, 1993, S. 119). Moralische Verantwortlichkeit ergibt sich nach ihm „aus der Integration von Moral in die eigene Identität oder das eigene Selbst-Empfinden“ (Blasi, 1993, S. 119). Schließlich rühre „aus moralischer Identität ... die psychologische Notwendigkeit her, in Übereinstimmung mit den eigenen Idealen zu handeln“ (Blasi, 1993, S. 119). Blasi (1999, S. 58) stellt fest:
Es muß (a) die motivationale Kraft sowohl von Vernunftgründen wie von nichtrationalen Bedürfnissen erkannt werden; (b) die beiden Arten von Motiven müssen auseinandergehalten werden; (c) es muß deshalb eine Vermittlungsinstanz postuliert werden, die die Sphäre der kognitiven Prozesse, des Wissens und der Vernunftgründe, und die affektive Sphäre der Bedürfnisse überwölbt; (d) diese Vermittlungsinstanz muß, soll sie rational sein, empfänglich für die normative Zugkraft von Vernunftgründen angesichts anderer Motive und (e) sensibel gegenüber Inkonsistenzen zwischen eigenen Handlungen und Vernunftgründen sein.
Kognitive Motive bilden demnach nur eine Klasse von Motiven für moralisches Handeln. Erst wenn sie Teil des Selbst geworden sind, sich also eine Person über bestimmte Werte, die sie rational für gut befindet, definiert, gewinnt Moralität für eine Person strikte Verbindlichkeit (Keller, 1996, S. 70). „Unter spezifischen Umständen in einer spezifischen Weise zu handeln, wird dann als so eng damit verbunden gesehen, was man selbst ist, daß man sich nicht mehr als dieselbe Person erschiene, handelte man nicht entsprechend seinem Urteil“ (Blasi, 1999, S. 67). Schuldgefühle wären die Folge.
Sowohl Forschungen wie auch die täglichen Erfahrungen zeigen uns jedoch, dass wir durch den Einsatz von Abwehrmechanismen uns selbst vormachen können, wir hätten nicht wirklich gegen unsere eigenen Normen verstoßen. Strategien, die unsere eigene Wahrnehmung von Inkonsistenz verhindern, können also Brüche zwischen Urteilen und Handeln trotz der Integration moralischer Werte in das Selbst ermöglichen (Blasi, 1999, S. 71). Rechtfertigungen und Entschuldigungen sind Ausdruck des Versuchs, das Bild von sich selbst als moralisch handelnde Person sowohl sich selbst, als auch anderen gegenüber, wieder herzustellen (Keller, 1996, S. 71).
Das Konzept des moralischen Selbst in Verbindung mit Selbstkonsistenz setzt jedoch ein Identitätsempfinden voraus, das sich erst in der Adoleszenz entwickelt (Blasi, 1993, S. 136 f.). Dementsprechend lassen sich zwar schon bereits bei Kindern Anzeichen der Entwicklung eines moralischen Selbst finden (z.B. Schuldgefühle), das Erleben einer Notwendigkeit zur Selbstkonsistenz scheint jedoch eine späte Errungenschaft zu sein, wenn auch darauf hingewiesen werden muss, dass es durchaus personenspezifische Variationen gibt (Keller, 1996, S. 71). Davon abgesehen ist Moral für viele Menschen auch persönlich bedeutsam, wenn sie nicht im Zentrum der Identität steht. Denn moralisches Verhalten hat Auswirkungen auf soziale Beziehungen und damit das Bedürfnis, von anderen akzeptiert und aufgenommen zu werden (Blasi, 1993, S. 142).
3.2.4 Außermoralische Einflussfaktoren
Es gibt Situationen, in denen Menschen nicht moralisch handeln, obwohl sie ein entsprechendes Urteil fällen und obwohl moralische Werte Teil ihres Selbst sind. Gerade erst ging der Fall eines Berufsschülers durch die Medien, der monatelang von seinen Mitschülern gequält wurde (Die Welt, 03.06.04). Niemand griff ein, obwohl es vermutlich ein offenes Geheimnis war. Wie kann es dazu kommen, dass in solchen Situationen sich niemand verantwortlich fühlt (kein entsprechendes Verantwortlichkeitsurteil gefällt wird) oder aber eine Person trotz Erkennen einer Verantwortlichkeit tatenlos bleibt?
Es sei in diesem Zusammenhang an das Modell des moralischen Handelns erinnert, das Kohlberg entworfen hat. Darin steht am Anfang des Prozesses die Beurteilung der Situation als moralische. Noch bevor also überhaupt ein moralisches Urteil getroffen wird, muss eine Person kognitive Anstrengungen unternehmen und bereit sein, Merkmale einer Situation als moralisch relevant zu deuten. Dazu gehört, dass sie sich mögliche Handlungsweisen vorstellt und wie sie das Wohlergehen der betroffenen Parteien beeinflussen. Forschungen zeigen, dass viele Menschen bereits Probleme haben zu erkennen, was sich in einer Situation genau ereignet und welche Reaktionsmöglichkeiten sie haben (Rest, 1999, S. 92 f.). In Bezug auf den letzteren Aspekt fand Oser heraus, dass durch künstliches Aufschieben der Entscheidung Situationen länger diskutiert werden und ansonsten vernachlässigte Handlungsmöglichkeiten Berücksichtigung finden können (Oser & Althof, 2001, S. 252 ff.).
Individuen unterscheiden sich außerdem erheblich darin, wie gut sie Bedürfnisse anderer Menschen ausmachen können und emotional reagieren (Rest, 1999, S. 92 f.). Empathiefähigkeit, scheint also für die Interpretation der Situation eine wichtige Rolle zu spielen, sie wird ja auch von Kohlberg als Grundlage moralischen Handelns angeführt (Kohlberg, 1976, S. 124 f.).
In unserem täglichen Leben werden wir in unserem Verhalten nicht nur davon beeinflusst, was wir als moralisch richtig ansehen, sondern auch von individuellen Wünschen und Präferenzen sowie langfristigen Nutzenerwägungen (Nisan, 1993, S. 237). Tatsächlich zwingen uns moralische Erwägungen oft dazu, unsere individuellen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Soll man beispielsweise ein Kind, das sich verlaufen hat, nach Hause begleiten, wenn man dadurch ein wichtiges Einstellungsgespräch verpasst? Unser Verantwortungsurteil kann von diesen widerstreitenden Interessen beeinflusst werden. Bei einer moralischen Wahl erhalten sowohl moralische als auch außermoralische, egoistische Überlegungen Gewicht (Nisan, 1993, S. 236). Wir fühlen uns nämlich auch uns selbst verantwortlich. Das mag zwar kulturell unterschiedlich stark ausgeprägt sein, ist aber dennoch Bestandteil einer jeden Person. Dabei kann, wie oben erwähnt, die Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen im Mittelpunkt des individuellen Interesses stehen, möglicherweise aber auch Selbstverwirklichung, Schutz der eigenen Gesundheit und anderes. Im wirklichen Leben sind wir eben nicht unparteiisch und messen allen Positionen der an einer moralischen Situation beteiligten Parteien wie Habermas (1991) im ethischen Diskurs , Kohlberg, Levin und Hewer (1984) mit den moral musical chairs oder Kant (1994) im kategorischen Imperativ gleich viel Bedeutung zu.
In den moralischen Dilemmata, die Kohlberg untersucht hat, geht es um eine Entscheidung zwischen zwei moralischen Erwägungen. Trifft man eine Handlungsentscheidung, so sind aber auch unmoralische Erwägungen von Bedeutung. Dabei nimmt man Kratzer am moralischen Selbst in einem gewissen Rahmen durchaus in Kauf (Oser & Althof, 2001, S. 248).
Untersuchungen zeigen, dass auch unsere Umwelt es durchaus akzeptiert, zum Teil sogar erwartet, dass wir uns in bestimmten Situationen nicht entsprechend universalisierbarer Werte verhalten, sondern persönlichen Zielen und Projekten den Vorzug geben (Nisan, 1993, S. 241 f.). Dies liegt darin begründet, dass auch persönliche Interessen und Ziele Teil unserer Identität, unseres Selbst, sind (Nisan, 1993, S. 244). Man kann damit schlussfolgern, dass bei widerstreitenden egoistischen und moralischen Interessen, es für die Handlung bedeutsam ist, welche „Nichtbefolgung“ mehr Schaden am Selbst anrichtet.
Nisan entwirft das Bild der bilanzierten Identität, nach der wir eine Identitätsbalance herstellen, indem wir von uns ein bestimmtes Realisierungsniveau sowohl moralischer als auch außermoralischer persönlichkeitsbildender Werte erwarten (Nisan, 1993, S. 249 ff.). Wenn man also in letzter Zeit oft moralisch gehandelt hat, kann man es sich eher erlauben, in einer aktuellen Situation den individuellen Wünschen nachzugehen und das als moralisch richtig Erkannte nicht zu tun. Wichtig ist nur, dass das Gesamt der Handlungen der Person entspricht, die man sein möchte. Diese Annahme konnte in mehreren empirischen Untersuchungen bestätigt werden und hilft also zu erklären, warum Menschen manchmal außermoralische Erwägungen gegenüber moralischen vorziehen (Nisan, 1993, S. 251 f.).
Die Sozialpsychologie konnte zudem zeigen, dass allein die Anwesenheit anderer Personen das Verantwortungsurteil wesentlich beeinflusst. Je mehr Menschen einer Situation beiwohnen, desto weniger fühlt sich der einzelne verpflichtet einzugreifen. Auch Autoritäts- und Konformitätsdruck beeinflussen das Handeln einer Person (Forgas, 1999, S. 244 ff.). Dies lässt sich ebenfalls auf das Verantwortungsurteil hin interpretieren: Das Individuum attribuiert in diesen Situationen die Verantwortung für Handlungen nicht allein sich selbst, Quasi-Verpflichtungen gegenüber der Gruppe oder der Autoritätsperson werden begünstigt. Kohlberg und Candee (1984, S. 441 ff.) selbst verweisen auf diese Phänomene, allerdings im Rahmen des Versuchs zu zeigen, dass diese Einflüsse mit höherer Urteilsstufe an Relevanz abnehmen
Letzter Punkt des Modells der Beziehung zwischen dem moralischen Urteil und dem moralischen Handeln sind die außermoralischen Ausführungsfähigkeiten.
Es zeigt sich, dass der Intelligenzquotient Auswirkungen auf Aufmerksamkeit und Ausdauer hat, die sich wiederum darauf auswirken, ob eine beabsichtigte Handlung auch erfolgreich ausgeführt wird (Kohlberg & Candee, 1984, S. 459). Als besonders bedeutsam für moralische Handlungen hat sich Selbstaufmerksamkeit erwiesen: Eine höhere Selbstaufmerksamkeit führt eher zu moralischen Handlungen, d.h. wer sich dabei im Spiegel sieht, wird eher nicht stehlen, als jemand, dessen Selbstaufmerksamkeit nicht durch einen Spiegel erhöht wird (Heidbrink, 1996, S. 104 f.).
Ich-Stärke beschreibt die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren, Belohnungen aufzuschieben, ein inneres Gefühl von Leistungskraft und Selbstachtung zu haben (Gielen, 1996b, S. 80). Wer hohe Ich-Stärke Werte aufweist, setzt geplante Handlungen eher in die Tat um. Das heißt jedoch nicht, dass diese Handlungen moralisch gut sein müssen. Ich-Stärke trägt auch dazu bei, dass Menschen unmoralische Handlungen, die sie durchführen wollen, auch durchführen (Kohlberg & Candee, 1984, S. 460). Auch körperliche und geistige Energie haben Auswirkungen darauf, ob die Handlung, die man als richtig erkannt hat und für die man sich selbst verantwortlich sieht, umgesetzt wird (Gielen, 1996b, S. 80).
Schließlich sind auch Sachkompetenzen von Bedeutung (Hermann & Meyer, 2004, S. 80). Wenn jemand entschieden hat, dass es das Richtige ist, erste Hilfe zu leisten und auch befindet, dass er oder sie selbst dafür verantwortlich ist, diese Hilfe einer verletzten Person zukommen zu lassen, aber noch nie einen erste Hilfe Kurs besucht hat, also über keine Sachkompetenz verfügt, kann die Person die Handlung nicht ausführen.
Es erfordert Mut, eine moralische Handlung durchzuführen, wenn die herrschende Meinung gegen einen ist. Ein Mangel an solchem moralischen Mut kann das Umsetzen moralischer Urteile in Handlungen verhindern. Forschungen zeigen, dass moralischer Mut interindividuell unterschiedlich stark ausgeprägt ist (Oser & Althof, 2001, S. 250 f.).
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[1] Diese Anmerkung bezieht sich auf einen Aufruf des Bonner Forums von 1978
[2] Dies ist zumindest die am häufigsten anzutreffende Auffassung. Es gibt jedoch auch Autoren, die Ethik und Moral gleichsetzen (z.B. Garz, 1998, S. 30).
[3] Im Gegensatz hierzu legt z.B. Habermas Wert auf eine Unterscheidung von Ethik und Moralphilosophie. Von Ethik spricht er nur, wenn es um Fragen des guten Lebens geht, während Moralphilosophie sich auf die rationale Rechtfertigung moralischer Normen bezieht (Habermas, 1991, S. 105 f.).
[4] „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant, 1994, S. 42)
[5] Eine Operation bezeichnet eine geistige Handlung (Oser & Althof, 2001, S. 43).
[6] In einer Längsschnittstudie wird dieselbe Gruppe von Personen im Abstand mehrerer Jahre wiederholt untersucht.
[7] In einem Dilemma befinden wir uns, „wenn wir uns zwischen zwei konträren, einander ausschließenden Handlungsmöglichkeiten entscheiden müssen, deren Folgen wir beide Male nicht wollen können“ (Schweppenhäuser, 2003, S. 40).
[8] In Kohlbergs Studien wurden tatsächlich nur männliche Probanden untersucht (Oser & Althof, 2001, S. 296).
[9] Für eine ausführlichere Beschreibung der Messung des moralischen Urteils siehe Kohlberg, 1976, S. 146 ff.
- Arbeit zitieren
- Nicola Körner (Autor:in), 2005, Moralische Erziehung in der Schule. Begründung, Ansätze, Perspektiven, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/52522