Die vorliegende Arbeit beleuchtet das politische System der Föderativen Republik Brasilien. Diese Arbeit ist in drei Blöcke aufgeteilt. So soll zunächst die Demokratietheorie nach Arend Lijphart dargelegt werden und die einzelnen Kriterien vorgestellt werden.
Anhand der brasilianischen föderativen Republik soll, im zweiten Teil, seine Theorie eine Anwendung erfahren und das Fallbeispiel zwischen Konsensus- und Mehrheitsdemokratie verortet werden. Abschließend wird Lijpharts Typologie anhand Brasiliens auf seine methodische Sinnhaftigkeit kritisch überprüft und einer allgemeinen Bewertung unterzogen.
Inhalt
1. Einleitung
2. LijphartsDemokratietheorie
2.1. Das dichotome Modell nach Lijphart
2.2. Die Mehrheitsdemokratie oder die Westminster-Modell
2.2.1. Exekutive-Parteien-Dimension
2.2.2. Foderalismus-Unitarismus-Dimension
2.3. Die Konsensusdemokratie
2.3.1. Exekutive-Parteien-Dimension
2.3.2. Foderalismus-Unitarismus-Dimension
3. Die foderative Republik Brasilien. Mehrheits- oder Konsensusdemokratie?
3.1. Die erste Dimension von Exekutive-Parteien in Brasilien
3.2. Die zweite Dimension von Foderalismus-Unitarismus in Brasilien
3.3. Einordnung Brasiliens in Lijpharts Schema
4. Die Anwendbarkeit am Beispiel von Brasilien und kritische Betrachtung der Theorie
5. Schlussbetrachtung und Fazit
Literatur und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Seit der Antike; ist es das Streben von Gelehrten gewesen, das beste Modell einer Staatsform ausfindig zu machen und zu beschreiben. Man wollte uber den Weg der besten Staatsform zum idealen Saat gelangen.1 Dies blieb, ein uber die Zeiten allgegenwartiger Wunsch und zahlt auch heute noch zu den Hauptaufgaben der politischen Wissenschaften. Immer wieder gab es Modelle der Einordnung und Systematisierung von Herrschafts- oder Regierungssystemen, gleich ob diese nun empirisch-analytisch oder normativ-ontologisch gepragt waren.
Zu den meist rezipierten theoretischen Werken unserer Zeit, gehort Patterns of Democracy2 aus dem Jahr 1999 von dem niederlandisch-amerikanischen Politologen Arend Lijphart. Er konzipierte eine Klassifizierung von Staaten in Mehrheits- und Konsensusdemokratien. An- hand von zehn Kategorien, welche jeweils dichotomisiert3 werden, uberpruft er in seiner Un- tersuchung 32 verschieden demokratische Staaten hinsichtlich ihrer Ausformungen. Viele junge Demokratien sparte der Autor 1999 in seiner Untersuchung aus. Die im Jahr 1988 ge- grundete Foderative Republik Brasilien ist innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte nach Indi- en und den USA zur drittgroBten Demokratie der Erde herangewachsen. Innerhalb der Gruppe der BRICS-Staaten4 gilt der groBte Staat Lateinamerikas neben Indien als die fortschrittlichs- te Demokratie. Diese Arbeit ist in drei Blocke aufgeteilt. So soll zunachst die Demokratiethe- orie nach Arend Lijphart dargelegt werden und die einzelnen Kriterien vorgestellt werden. Anhand der brasilianischen foderativen Republik soll, im zweiten Teil, seine Theorie eine Anwendung erfahren und das Fallbeispiel zwischen Konsensus- und Mehrheitsdemokratie verortet werden. AbschlieBend wird Lijpharts Typologie anhand Brasiliens auf seine methodi- sche Sinnhaftigkeit kritisch uberpruft und einer allgemeinen Bewertung unterzogen.
2. Lijpharts Demokratietheorie
In der politikwissenschaftlichen Disziplin galt nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem das britische Westminster-Modell als die ideale Demokratie. Auch viele britische Kolonien (Indi- en, Jamaika, Singapur, usw.) orientierten sich nach dem Zeitalter des Imperialismus am briti- schen Vorbild, um anhand dieses Beispiels die Transformation zu Demokratien zu vollziehen.
Auf dem europaischen Festland setze sich vor allem die von Gerhard Lehmbruch5 beschrie- bene Proporzdemokratie durch. Aus Lehmbruchs Proporzdemokratie entwickelten sich spater die Begriff Konsens-, Verhandlungs-, Konkordanz- oder Konsensusdemokratie. In der Litera- tur finden sich alle diese Terme. Man kann sie in der Regel als Synonyme verstehen. In der vorliegenden Arbeit wird durchweg der Begriff Konsensusdemokratie nach Lijphart verwen- det. Letzterer ordnete die Lander in Kategorien ein, um abschlieBend zu erkennen welche Ausformungen die annehmen und ob sie eher konsensus- oder mehrheitsdemokratisch gepragt sind. Der Autor beschreibt anhand der Musterbeispiele des Vereinigten Konigreiches, Neuse- lands und Barbados6 die Mehrheitsdemokratie im Westminster‘schen Sinne und an den Bei- spielen der Schweiz, Belgien und der Europaischen Union7 die Konsensusdemokratie. Lijpharts Modell stutzt sich auf quantifizierbare Ergebnisse und steht so in der Tradition der positivistischen8 Forschung in den Sozialwissenschaften. Letztlich hat Lijphart aber auch eine normative Komponente im Sinne, da er daraus ableiten mochte, welche der beiden Demokra- tieformen die leistungsfahigere ist.9
2.1. Das dichotome Modell nach Lijphart
In seiner als bahnbrechenden bezeichneten Studie10 Patterns of Democracy formulierte Arend Lijphart 1999, aufbauend auf seiner vorherigen Arbeit11, die Unterscheidung zweier Demo- kratiemodelle, der Konsens- und der Mehrheitsdemokratie. Er entwickelte zehn Merkmale, welche je zwei Auspragungen annehmen konnten. Zudem unterteilte er die zehn Merkmale auf zwei verschiedenen Ebenen 1. der Exekutiven-Parteien Dimension und 2. der Foderalis- mus-Unitarismus Dimension. Die erste der beiden Ebenen richtet den Blick auf Merkmale wie Rolle der Parteien, Machtverteilung zwischen Legislative und Exekutive, dem Wahlrecht und der Interessenvertretung. Die zweite Ebene betrachtet insbesondere die horizontale Machtverteilung im Staate, die Stellung der Verfassung und der obersten Gerichtsbarkeit ge- genuber der Legislative sowie die Zentralbank. Nach Lijphart sind Mehrheitsdemokratien exklusiv gegen politische Minderheiten. Sie setzt auf deutliche Durchsetzung des Mehrheits- willens und stabile und starke Regierungen. Im Gegensatz dazu charakterisiert Lijphart die Konsensusdemokratie als wesentlich inklusiver. Kompromissfindung und Machteilung zeich- nen12 sie aus. Daher ruhrt auch die weitere Bezeichnung Verhandlungsdemokratie. Im Fol- genden werden die beiden Modelle von Mehrheits- und Konsensdemokratie nach Lijphart beschrieben und die vom Autor benannten Strukturmerkmale vorgestellt.
2.2. Mehrheitsdemokratie oder Westminster-Modell
Zunachst sollen die stereotypischen Strukturmerkmale einer Mehrheitsdemokratie daherge- hend herausgearbeitet werden, wie Lijphart sie beschrieben hat. Die Reihenfolge der verwen- deten Indikatoren innerhalb der Dimensionen weicht in einigen Lehrbuchern voneinander ab. In dieser Arbeit wird sich an der Auflistung von Lijphart in Kapitel 3 seines Werkes orien- tiert, indem er das Westminster-Modell beschreibt.
2.2.1. Exekutive-Parteien-Dimension
Das erste Merkmal einer Mehrheitsdemokratie ist die Machtkonzentration in der Exekutive auf eine Partei, die Mehrheitspartei. Dies bedeutet, dass Regierungen, die aus mehreren Frak- tionen bestehen (Koalitionen), nicht ublich sind. Meist besteht das Parlament sogar nur aus zwei Parteien, was in einem spateren Kriterium noch eine Rolle spielen wird.13 Die Dominanz der Exekutive gegenuber der Legislative stellt das zweite Merkmal dar.14 Meist bedeutet dies, dass die Exekutive von den Mehrheitsverhaltnissen im Parlament unberuhrt bleibt. Die Legislative ist nicht dazu in der Lage, die Regierung zu entmachten. Dies findet man haufig in pra- sidentiellen Regierungssystemen wie in den Vereinigten Staaten: Die Regierung (Prasident)15 wird vom Volk gewahlt. Das dritte Kriterium einer Mehrheitsdemokratie ist ein Parlament mit lediglich zwei Parteien.16 Das Merkmal des Zweiparteiensystems ist, wie das erste Kriterium (Machtkonzentration), stark abhangig vom vierten Merkmal; dem Mehrheitswahlrecht. Im Mehrheitswahlrecht ist immer der Kandidat gewahlt, der die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Dies bedeutet automatisch, dass viele Stimmen fur nicht gewahlte Kandidaten, un- erheblich sind und somit unter den Tisch fallen. In der Praxis nennt sich dieses Prinzip: ,,first past the post“. Dieses Wahlsystem zeigt dadurch hohe Disproportionalitaten auf.17 Das funfte und letzte Merkmal in der Exekutiven-Parteien-Dimension ist die Pluralistische Interessen- vertretung.18 Nach Lijphart gibt es in einer Mehrheitsdemokratie viele Interessensgruppen, die teilweise ahnliche Ziele vertreten, und dennoch getrennt voneinander agieren. Es gibt keine ubergeordneten Institutionen.
2.2.2. Foderalismus-Unitarismus-Dimension
Das sechste Merkmal legt den Fokus auf den Aufbau des Staates. Das Strukturmerkmal einer Mehrheitsdemokratie ist der zentralistische Aufbau. Es gibt keine Gliedstaaten im foderalen Sinne und wenig Selbstverwaltungsrechte fur die Regionen. Der Staat ist somit stark unita- risch strukturiert.19 Folglich hat eine Mehrheitsdemokratie nach Lijphart idealtypisch auch keinen Bikameralismus, da es aufgrund der fehlenden Bundestaatlichkeit keine Vertretungen fur diese gibt. Das Parlament besteht ergo nach dem siebten Kriterium nur aus einer Kam- mer, in der die legislative Gewalt konzentriert ist. Falls es in Mehrheitsdemokratien doch ein bikamerales System geben sollte, sei dies meist, wie im Vereinigten Konigreich, von einer Dominanz der ersten Kammer gepragt.20 Das achte Merkmal ist eine mit einfacher Mehrheit veranderbare Verfassung oder gar das Fehlen einer Verfassung.21 Somit kann die politische Agenda leicht neuen Herausforderungen angepasst werden. Das neunte Merkmal betrifft das Letztentscheidungsrecht der Legislative uber die Gesetze. In Mehrheitsdemokratien bestimmt das Souveran22 uber die RechtmaBigkeit von Gesetzen und nicht die Gerichtsbarkeit. Die obersten Gerichte haben eine schwache Stellung oder existieren zum Teil gar nicht.23 Das abschlieBende Merkmal ist eine geringe Autonomie der Zentralbank. Die Exekutive kann die Geldpolitik der Zentralbank (mit-)bestimmen.24
2.3. Konsensusdemokratie
Im Folgenden soll die Konsensusdemokratie charakterisiert werden und ihre Ausformungen, wie sie Lijphart in Kapitel 3 beschreibt, erlautert werden. Wie in der Mehrheitsdemokratie sollen zunachst der Blick auf die Ebene der Parteien, des Wahlsystems und die Rolle der Exe- kutive gelegt werden, dann wird die zweite Dimension betrachtet.
2.3.1. Exekutive-Parteien-Dimension
Das erste stereotypische Merkmal einer Konsensusdemokratie ist die Aufteilung der Exeku- tivmacht auf mindestens zwei Koalitionsparteien.25 Nicht selten sind es mehrere Parteien, die im Parlament an der Regierungsbildung beteiligt werden. Koalitionsregierungen sind die absolute Regel. Das zweite Merkmal sieht ein Machtgleichgewicht zwischen der Legislative und der Exekutive vor.26 Im Idealfall sollten beide getrennt voneinander agieren konnen. Das drit- te Merkmal besagt, dass in Konsensusdemokratien Vielparteiensysteme vorherrschen.27 Dieses Kriterium des pluralistischen Parteienstaates mit mindestens drei relevanten Parteien im Parlament, ist stark vom vierten Kriterium abhangig. Dieses sieht in einer Konsensusdemo- kratie ein Verhaltniswahlrecht vor.28 Das Wahlsystem ist somit stark um Inklusion bemuht. Im Idealfall (keine % -Hurde) zahlt jede Stimme proportional zu den Sitzen. Das abschlieBen- de Kriterium der ersten Ebene in der Konsensusdemokratie ist eine korporatistisch gepragte Interessenvertretung. Dies bedeutet eine vergleichsweise geringe Anzahl von Interessensorga- nisationen (z.B. Gewerkschaften). Kleinere Interessengruppen sind oft in ubergeordneten Or- ganisationen zusammengefasst. Das Ziel ist, eine gemeinsame Losung zu finden und zusammen Vereinbarungen zu treffen und umzusetzen.29
2.3.2. Foderalismus-Unitarismus-Dimension
Nach Lijpharts Idealvorstellung sind Konsensusdemokratien foderal strukturiert. Es besteht laut dem sechsten Charakterzug, eine vertikale Gewaltenteilung. Der Saat ist in diverse Glied- staaten (Bundesstaaten) unterteilt.30 Dies fuhrt zu einer dezentralen Verwaltungsstruktur in den Konsensusdemokratien. Regionen haben oft eine hohe politische Autonomie. Das siebte Merkmal sieht einen symmetrischen Bikameralismus vor. Das Parlament ist in zwei Kam- mern aufgeteilt, die nach Lijphart in ihren Kompetenzen weitgehend gleichwertig ausgestattet sind.31 Haufig bestehen die zweiten Kammern eines Staates aus gewahlten oder entsandten Vertretern der Gliedstaaten.
[...]
1 Vgl. Riescher, Gisela; Obrecht, Marcus; Haas, Tobias (2011): Theorien der Vergleichenden Regierungslehre - Eine Einfuhrung. Munchen: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, S. 36.
2 Lijphart, Arend (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries. New Haven/London: Yale University Press.
3 Zweigeteilt; jede Kategorie kann zwei verschiedene Auspragungen annehmen.
4 Brasilien, Russland, Indien, VR China, Sudafrika.
5 Lehmbruch, Gerhard (1967): Proporzdemokratie: politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Osterreich. Tubingen: Mohr Verlag.
6 Vgl. Lijphart (1999), S. 9ff.
7 Vgl. ebd., S.31ff.
8 Forschung welche sich auf das Positive und Wahrhaftige beschrankt, sich ergo allein auf Erfahrung und mess- bares stutzt.
9 Vgl. Riescher et. al. (2011), S.79.
10 Vgl. Croissant, Aurel: Regierungssysteme und Demokratietypen. In: Lauth, Hans-Joachim (Hrsg.) (2010): Vergleichende Regierungslehre. Eine Einfuhrung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften, S. 126.
11 Lijphart, Arend (1984): Democracies: Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-one Countries. New Haven/London: Yale University Press.
12 Vgl. Riescher et. al. (2011), S. 76.
13 Vgl. Lijphart (1999), S. 10f.
14 Vgl. ebd., S. 11f.
15 Aus Grunden der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit immer die mannliche Form verwendet. Sie schliebt weibli- che Personen selbstverstandlich mit ein.
16 Vgl. Lijphart (1999), S. 13f.
17 Vgl. Lijphart (1999), S. 14f.
18 Vgl. ebd., S. 16f.
19 Vgl. ebd., S. 17f.
20 Vgl. ebd., S. 18f.
21 Vgl. ebd., S. 18.
22 Volks- oder Parlamentssouveranitat.
23 Vgl. Lijphart (1999), S. 19f.
24 Vgl. ebd., S. 10.
25 Vgl. Lijphart (1999), S. 34f.
26 Vgl. ebd., S. 35
27 Vgl. ebd., S. 36.
28 Vgl. ebd., S. 37
29 Vgl. ebd., S. 37f.
30 Vgl. ebd., S. 38f.
31 Vgl. ebd., S. 39.