Balzac berichtet im zweiten Teil des Vorworts zu seinem dreiteiligen Roman Illusions Perdues, dass er ursprünglich nur über die Unterschiede der Sitten auf dem französischen Land und in Paris, die darüber herrschenden falschen Vorstellungen und die sich daraus ergebenden Katastrophen schreiben wollte. Aus diesem ursprünglichen Entwurf entwickelte sich jedoch weitaus mehr, und Illusions Perdues wurde zu einer ausführlichen Kritik des Literatur- und Journalismusbetriebs, die sich mit den Gründen für das Scheitern so vieler junger Schriftsteller in Paris auseinandersetzt, aber auch aufzeigen soll, welcher Weg zum schriftstellerischen Erfolg führen kann, wie ein solcher Erfolg überhaupt aussieht und was ihn ausmacht und was nicht. Balzac selbst behauptet in seinem Vorwort, er hoffe, sein Roman werde wenigstens den ein oder anderen jungen Mann davon abhalten, sein dichterisches Glück in der französischen Hauptstadt zu versuchen und sich damit ins Unglück zu stürzen; dabei ist er selbst doch einer der zahlreichen Schriftsteller, die vom Land in die Stadt gegangen sind und sich dort ganz der Literatur gewidmet haben. Hätte er seine Entscheidung ernsthaft bereut, so hätte er den Beruf immer noch aufgeben und zurück zu einem sichereren Gewerbe wechseln können, was er aber nie getan hat. Tatsächlich kann es ihm also vielmehr nur darum gehen, jene jungen Menschen abzuschrecken, die sich für diesen schwierigen Weg nicht eignen und die daher durch den Weg nach Paris tatsächlich ins Verderben gestürzt würden. Jene jungen Autoren aber, die sich – den Kriterien nach, die Illusions Perdues von Seite zu Seite vermittelt – für das Literatendasein eignen, werden sich von dem Roman nicht abschrecken lassen, denn dieser ist für sie geradezu eine Aufforderung, die Herausforderung auf sich zu nehmen.
Doch welche Eigenschaften sind es, an denen in Illusions Perdues die Eignung zum Autor festgemacht wird? Welchem Verständnis des Autorbegriffs entsprechen diese Eigenschaften? Was bezweckt der Autor dieses Textes damit, gerade dieses Bild von Autorschaft an seine Leser zu vermitteln? Dies sind die Fragen, mit denen ich mich in dieser Arbeit beschäftigen werde.
Inhaltsverzeichnis
Von Stadt und Land zu Literatur und Journalismus
Balzacs Autorschaftskonzept
Die zwei Seiten der Literaturproduktion: Kunst und Kapitalismus
Die Eigenschaften des erfolgreichen Autors
Die Aufgaben des Autors
Balzacs Konzeption von Autorschaft: Macht und Ohnmacht des Autors
Von Stadt und Land zu Literatur und Journalismus
Balzac berichtet im zweiten Teil des Vorworts zu seinem dreiteiligen Roman Illusions Perdues, dass er ursprünglich nur über die Unterschiede der Sitten auf dem französischen Land und in Paris, die darüber herrschenden falschen Vorstellungen und die sich daraus ergebenden Katastrophen schreiben wollte.1 Aus diesem ursprünglichen Entwurf entwickelte sich jedoch weitaus mehr, und Illusions Perdues wurde zu einer ausführlichen Kritik des Literatur- und Journalismusbetriebs, die sich mit den Gründen für das Scheitern so vieler junger Schriftsteller in Paris auseinandersetzt, aber auch aufzeigen soll, welcher Weg zum schriftstellerischen Erfolg führen kann, wie ein solcher Erfolg überhaupt aussieht und was ihn ausmacht und was nicht. Balzac selbst behauptet in seinem Vorwort, er hoffe, sein Roman werde wenigstens den ein oder anderen jungen Mann davon abhalten, sein dichterisches Glück in der französischen Hauptstadt zu versuchen und sich damit ins Unglück zu stürzen; dabei ist er selbst doch einer der zahlreichen Schriftsteller, die vom Land in die Stadt gegangen sind und sich dort ganz der Literatur gewidmet haben. Hätte er seine Entscheidung ernsthaft bereut, so hätte er den Beruf immer noch aufgeben und zurück zu einem sichereren Gewerbe wechseln können, was er aber nie getan hat.2 Tatsächlich kann es ihm also vielmehr nur darum gehen, jene jungen Menschen abzuschrecken, die sich für diesen schwierigen Weg nicht eignen und die daher durch den Weg nach Paris tatsächlich ins Verderben gestürzt würden. Jene jungen Autoren aber, die sich – den Kriterien nach, die Illusions Perdues von Seite zu Seite vermittelt – für das Literatendasein eignen, werden sich von dem Roman nicht abschrecken lassen, denn dieser ist für sie geradezu eine Aufforderung, die Herausforderung auf sich zu nehmen.
Doch welche Eigenschaften sind es, an denen in Illusions Perdues die Eignung zum Autor festgemacht wird? Welchem Verständnis des Autorbegriffs entsprechen diese Eigenschaften? Was bezweckt der Autor dieses Textes damit, gerade dieses Bild von Autorschaft an seine Leser zu vermitteln? Dies sind die Fragen, mit denen ich mich in dieser Arbeit beschäftigen werde.
Balzacs Autorschaftskonzept
Die zwei Seiten der Literaturproduktion: Kunst und Kapitalismus
Als Lucien, der Protagonist der Illusions Perdues, seinen kleinen Heimatort Angoulême verlässt und nach Paris geht, ist er voller Hoffnung, innerhalb kurzer Zeit ein erfolgreicher veröffentlichter Autor zu werden. Er trägt einen historischen Roman bei sich, von dem er glaubt, dass er ihn nach einer kurzen Phase der Überarbeitung zu guten Konditionen an einen Verleger verkaufen kann,3 dass dieses Geld sein weiteres Auskommen für eine Weile sichern wird, dass er daraufhin ohne finanzielle Probleme sein nächstes Werk wird schreiben können, und dass er auf diese Art schnell ein berühmter und anerkannter Dichter werden wird. Hierbei geht es ihm vor allem um die Adjektive „berühmt“ und „anerkannt“ - denn für einen Dichter hält er sich bereits; schließlich hat er bereits Werke verfasst, die unter seinen Freunden und Bekannten auf dem Dorf auf Anerkennung gestoßen sind. Auch der Erzähler bezeichnet Lucien bereits als „poète“, unter anderem bereits im Titel des ersten Romanteils Les deux poètes, der sich auf Lucien und seinen Freund David Séchard bezieht.
Doch obwohl Luciens Selbstverständnis als Dichter sowohl vom Erzähler als auch von ihm selbst und den anderen Figuren anerkannt wird, scheitert er letzten Endes; eine Entwicklung, die der aufmerksame Leser nicht nur wegen seines Charakters, sondern auch schon allein aufgrund seines Namens erahnen kann, der an Luzifer, den gefallenen Engel, erinnert.4 Dies lässt sich einfach damit erklären, dass Literatur nicht nur einem, sondern zwei sehr unterschiedlichen und häufig entgegengesetzten Zwecken dienen kann. Lucien gelingt es nicht, sich entschieden dem einen oder anderen Zweck zu verschreiben, und schwankt wie ein Betrunkener zwischen zwei Wegen hin und her. Es ist daher nur natürlich, dass er weder das eine noch das andere Ziel erreicht.
Literatur hat zum Einen einen ideellen Wert: Sie ermöglicht es, Gedanken und Ideen in Form von Texten zu konservieren und weiter zu verbreiten. Diese Texte können aufgrund ihrer außerordentlichen Schönheit oder Einzigartigkeit wertvoll sein, oder sie können Einfluss auf Kultur und Gesellschaft ausüben, indem sie sie verändern oder indem sie den Status quo stabilisieren. Wer zum Ziel hat, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern oder auch, sie vor negativen Veränderungen zu bewahren, oder wer ein besonders künstlerisch wertvolles Meisterwerk schaffen will, der muss dieses Ziel während des Schreibprozesses im Auge behalten. In diesen Fällen ist zunächst die Literatur selbst das Ziel, und die Frage der Leserreaktion ist sekundär.
Dem gegenüber steht Literatur als Ware: In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der das Individuum sich durch bezahlte Arbeit am Leben erhalten muss, ist das Buch auch ein materielles Produkt, das dem Autor die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse sichern soll. Hierzu ist nicht der ideelle Wert des Buchs, sondern sein Marktwert entscheidend, und dieser ergibt sich aus Angebot und Nachfrage. Je größer das Angebot an Literatur auf dem Markt ist, desto schwieriger wird es für den einzelnen Autor, sich durchzusetzen. Je höher die Nachfrage nach seinem Werk ist, umso besser kann er seinen Lebensunterhalt finanzieren. Ökonomisch gesehen muss das Ziel des Autors, der im Kapitalismus eben auch ein Arbeiter wie jeder andere ist, also darin liegen, ein möglichst großes Publikum anzusprechen und möglichst viele Konkurrenten auszuschalten.
Entspricht der Geschmack des Publikums nicht den Prinzipien, die zur Produktion der literarisch oder ideell wertvollsten Werke führen (und genau dies ist in Illusions Perdues der Fall), so kommen sich diese zwei Funktionen von Literatur in die Quere. Wer in einer solchen Situation versucht, beiden Funktionen gleichermaßen gerecht zu werden, weil er sowohl Ruhm, Reichtum und Anerkennung als auch das Schaffen eines literarischen Meisterwerks anstrebt, der muss also notwendig scheitern.
Zudem führt die Warenhaftigkeit des Textes dazu, dass sich der Produzent, der Autor, zunehmend von seinem Produkt entfremdet.5 Gleichzeitig spaltet sich der Warencharakter des Textes von seinem ideellen Charakter ab; diese beiden Seiten des Produkts lassen sich nicht miteinander vereinbaren.6
Dass Literatur sowohl ein ideelles als auch ein materielles Produkt ist, führt dazu, dass sich unterschiedliche Anforderungen an den Autor ergeben. Welche dieser Eigenschaften von Balzacs Erzähler als nötig präsentiert werden, um Erfolg zu haben – und zwar Erfolg in dem Sinne, ein großartiges Werk zu schaffen, dass ideell und künstlerisch wertvoll ist – werde ich im Folgenden betrachten. Hierbei wird sich nach und nach auch herausstellen, welches Autorschaftskonzept den Illusions Perdues zugrundeliegt.
Die Eigenschaften des erfolgreichen Autors
Lucien, der scheinbare Held der Illusions Perdues, scheitert bei seinem Versuch, literarischen Ruhm zu erlangen, und beendet sein Leben schließlich in Splendeurs et misères des courtisanes selbst. Doch einige seiner Freunde aus dem Cénacle haben Erfolg: Léon Giraud beispielsweise wird „chef d'une école morale et politique“, d'Arthez hat „toute [sa] gloire“ erreicht und Horace Bianchon ist „l'un des flambeaux de l'École de Paris, et trop connu maintenant pour qu'il soit nécessaire de peindre sa personne“.7
Es wird im Roman mehrfach betont, dass – und wie sehr – sich Lucien von den anderen Personen im Cénacle unterscheidet. Er und seine Freunde bilden einen Gegensatz, der illustriert, welche Eigenschaften für einen Autor nicht nur wünschenswert, sondern absolut essentiell sind, um Erfolg zu haben, und welche Eigenschaften ihn scheitern lassen. Zunächst werden wir uns denjenigen Eigenschaften widmen, die für den Erfolg als unablässlich präsentiert werden.
Hierunter befindet sich eine, die Lucien mit D'Arthez, Chrestien und den weiteren Mitgliedern des Zirkels gemeinsam hat, nämlich das Talent: Sie alle sind mit dem nötigen Intellekt, der Denk-, Lern- und Vorstellungsfähigkeit ausgestattet, um in ihrem jeweiligen Gebiet Erfolg zu haben.
Dies ist es, was Luciens Familie und sein Freund und späterer Schwager David in ihm erkennen, was sie zu dem Glauben verleitet, dass er als Dichter großen Erfolg haben wird, und was für sie Grund genug ist, ihn finanziell zu unterstützen und dabei große Risiken einzugehen. Obwohl sie nur in eingeschränktem Maße die Gelegenheit hatten, sich mit guter Literatur auseinanderzusetzen und einen Geschmack dafür zu entwickeln, stimmt ihre Einschätzung seines Talents mit der überein, die auch der Cénacle und der Buchhändler Doguereau treffen, die sich täglich ausgiebig mit Texten beschäftigen. Luciens Fähigkeiten als Dichter werden also durch alle Bildungsschichten hindurch als außergewöhnlich wahrgenommen.
[...]
1 „Il ne s'agissait d'abord que d'une comparaison entre les moeurs de la province et les moeurs de la vie parisienne; il avait attaqué ces illusions que l'on se forme les uns sur les autres en province par le défaut de comparaison“ – Balzac, Honoré de: Illusions Perdues. Paris: Flammarion (2010), S. 48.
2 Vgl. z.B. http://www.whoswho.de/bio/honor-de-balzac.html, zuletzt aufgerufen am 8. September 2014.
3 „D'ici là, j'aurai sans doute vendu L'Archer de Charles IX et Les Marguérites. N'ayez donc aucune inquiétude à mon sujet. Si le présent est froid, nu, mesquin, l'avenir est bleu, riche et splendide“, schreibt Lucien an seine Schwester – Balzac, Honoré de: Illusions Perdues. Paris: Flammarion (2010), S. 218.
4 Byatt, A. S.: The Death of Lucien de Rubempré. In: The Kenyon Review, New Series, Vol. 27, No. 1 (Winter, 2005), S. 44.
5 Isaac, Bonnie J.: „Tous les refrains sont bons“: Balzac and Poetry's Lost Illusions. In: MLN, Vol. 98, No. 4, French Issue (Mai 1983), S. 731.
6 Isaac, Bonnie J.: „Tous les refrains sont bons“: Balzac and Poetry's Lost Illusions. In: MLN, Vol. 98, No. 4, French Issue (Mai 1983), S. 731.
7 Balzac, Honoré de: Illusions Perdues. Paris: Flammarion (2010), S. 239.