Die postkoloniale STS nimmt sich in ihrem Vorhaben gleich mehrerer, hochgesteckter Ziele an. Zum einen will sie aufzeigen, dass koloniale Herrschaftsstrukturen, auch nach der vermeintlichen Auflösung dieser, immer noch Einfluss auf ein Land, dessen Gesellschaft und Ökonomie haben. Zum anderen hat sich die postkoloniale STS auch der Kritik an den vorherrschenden Machtstrukturen zur Aufgabe gemacht und verfügt damit über beinahe aktivistische Grundzüge, wenn auch nicht vergleichbar mit der feministischen STS. Bauer, Heinemann und Lemke nennen die STS in ihrer Einführung zum Werk Science and Technology Studies eine „Neuakzentuierung der STS“. Die postkoloniale STS bildet also eine Neuausrichtung der klassischen STS und scheut sich infolge dessen nicht, auch die, auf klassischen Forschungsmethoden basierenden Erkenntnisse, auf demselben Forschungsgebiet zu kritisieren. Damit liegt auch der postkolonialen STS der revolutionäre Anspruch inne, dem sich alle Forschungsrichtungen dieser noch jungen Disziplin verschrieben haben. Doch inwiefern beansprucht die postkoloniale STS nicht nur einen „externen“ Originalitätsanspruch, indem sie die, auf klassischer Wissenschaftsphilosophie erbrachten Ergebnisse anzweifelt, sondern sogar ein intern gerichtetes Urteil gegen die Vertreter der Science and Technology Studies vornimmt? Inwieweit nimmt die postkoloniale STS die ANT, oft als Ursprung der Disziplin verstanden, in den Fokus ihrer Kritik? Diese Frage versucht die vorliegende Arbeit zu klären, indem zwei Texte, einer der ANT, einer der postkolonialen STS angehörig, verglichen werden sollen.
Gliederung:
1. Einleitung Seite
2. Zwei Geschichten über Macht Seite
2.1 Michel Callon und die Muscheln Seite
2.2 Verran und die Feuerregimes Seite
3. Eine retrospektive Erzählung Seite
4. Fazit Seite
5. Literaturverzeichnis Seite
1. Einleitung
Die postkoloniale STS nimmt sich in ihrem Vorhaben gleich mehrerer, hochgesteckter Ziele an. Zum einen will sie aufzeigen, dass koloniale Herrschaftsstrukturen, auch nach der vermeintlichen Auflösung dieser, immer noch Einfluss auf ein Land, dessen Gesellschaft und Ökonomie haben (Vgl. Conrad 2012). Zum anderen hat sich die postkoloniale STS auch der Kritik an den vorherrschenden Machtstrukturen zur Aufgabe gemacht und verfügt damit über beinahe aktivistische Grundzüge, wenn auch nicht vergleichbar mit der feministischen STS (Vgl. Schramm 2017, S. 472f).
Bauer, Heinemann und Lemke nennen die STS in ihrer Einführung zum Werk Science and Technology Studies eine „Neuakzentuierung der STS“ (Bauer / Heinemann / Lemke 2017, S. 11). Die postkoloniale STS bildet also eine Neuausrichtung der klassischen STS und scheut sich infolge dessen nicht, auch die, auf klassischen Forschungsmethoden basierenden Erkenntnisse, auf demselben Forschungsgebiet zu kritisieren. Damit liegt auch der postkolonialen STS der revolutionäre Anspruch inne, dem sich alle Forschungsrichtungen dieser noch jungen Disziplin verschrieben haben (Vgl. ebd., S. 7ff).
Doch inwiefern beansprucht die postkoloniale STS nicht nur einen „externen“ Originalitätsanspruch, indem sie die, auf klassischer Wissenschaftsphilosophie erbrachten Ergebnisse anzweifelt, sondern sogar ein intern gerichtetes Urteil gegen die Vertreter der Science and Technology Studies vornimmt? Inwieweit nimmt die postkoloniale STS die ANT, oft als Ursprung der Disziplin verstanden, in den Fokus ihrer Kritik?
Diese Frage versucht die vorliegende Arbeit zu klären, indem zwei Texte, einer der ANT, einer der postkolonialen STS angehörig, verglichen werden sollen. Ausgangspunkt meiner Untersuchung sind die Texte von Helen Verran:
Ein postkoloniales Moment in der Wissenschaftsforschung: Zwei alternative
Feuerregimes von Umweltwissenschaftler_innen und aboriginalen
Landbesitzer_innen.
und von Michel Callon:
Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht.
Das vorliegende Material wurde gewählt, weil sich in diesen beiden Texten, so glaube ich, ein Ansatzpunkt finden lässt, um die klassische ANT mittels der postkolonialen STS angreifbar zu machen. Beide Texte verbindet zunächst das Thema „Umwelt“, sowie der scheinbar (un)kontrollierte Umgang der Menschen mit dieser.
Doch liegt beiden Texten ein noch umfassenderes Thema zugrunde, welches als Kern der Kritik begriffen werden kann: Die Entschlüsselung von Macht. Verran ist davon überzeugt, ihre „Postkolonialen Momente brechen diese Machtbeziehungen auf“ (Verran 2017, S. 496), während Callon sich vornehmlich der „Strukturierung von Machtverhältnissen“ (Callon 2017, S. 293) widmet. Ich glaube, in diesen beiden Herangehensweisen, eine retrospektive Aufschlüsselung des jeweils anderen gefunden zu haben. Während Callon die Entstehung von Macht in einem vorwärtsgewandten Prozess denkt, geht Verran den umgekehrten Weg und versucht Machtverhältnisse durch die Umkehrung der Machterzählung aufzuschlüsseln. Dies würde eine Umkehrung von Callons Machttheorie und damit eine vermutliche Kritik an dieser bedeuten.
Um meine Hypothese zu belegen, bediene ich mich in dieser Arbeit einer sehr schematischen und stilistischen Vorgehensweise und werde versuchen, nah am Text, mittels einer Erzählung die Machtgeschichten beider aufzuzeigen und zu vergleichen. Ich werde versuchen, beide Geschichten gegenüberzustellen und Parallelen zu finden, als Stadien der Verhandlung um Macht, welche sich dann selektiv vergleichen lassen. Dieser Prozess der parallelen Erzählung stelle ich mir ähnlich wie in diesem Schaubild vor.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Blaupause der Machtgeschichten von Verran und Callon
Um diese Blaupause meiner Erzählung füllen zu können und meine Hypothese zu beweisen, werde ich zunächst beide Machtgeschichten einmal wiedergeben um in einem anschließenden Kapitel die Parallelen zu ziehen. Bei der Wiedergabe soll bereits darauf geachtet werden, ob Verran direkt Bezug auf Callons System oder der ANT nimmt. Im Hauptteil der Arbeit sollen dann die gefunden Parallelen verglichen und bewertet werden. Mittels dieser Vorgehensweise erhoffe ich mir, eine Kritik von Verrans postkolonialer STS an dem vom Callon gewählten Übersetzungsmodell und auch an der ANT selbst zu finden.
2. Zwei Geschichten über Macht
Im Folgenden sollen wie angekündigt beide Machtgeschichten wiedergegeben werden. Dabei werde ich mich kurzfassen und die Geschichte so komprimieren, dass die, für das Ergebnis der Arbeit wichtigen Momente zu Tage gefördert werden.
2.1 Michel Callon und die Muscheln
Im Text von Michel Callon wird die Geschichte dreier Meeresforscher erzählt, welche versuchen, in der St. Brieuc-Bucht, die Gründe für den Rückgang der Kammmuscheln zu finden und eine neue Regenerationsstrategie zu konzipieren. Das Vorgehen der Forscher, andere beteiligte Akteure in diesem Prozess davon zu überzeugen, sich ihnen bei der Neupopularisierung der Muscheln anzuschließen, bettet Callon in die „Soziologie der Übersetzung“ (Callon 2017, S. 293) ein. Damit stellt Callon die Forscher an die Spitze des Prozesses und will zudem aufzeigen, welchen Beitrag Wissenschaft und Technik zur Ordnung der Machtverhältnisse leisten (Vgl. ebd.).
Ausgangspunkt seiner Geschichte sind die drei Forscher, welche auf einer Reise in Japan die dortigen Kultivierungsmethoden von Kammmuscheln kennen gelernt haben und diese nun in St. Brieuc etablieren möchten. Für Callon sind Herkunft und Handlungsmotivation unwichtig, auch Identität und Handlungsspielraum der Forscher sollen im Prozess „ausgehandelt und abgegrenzt werden“ (ebd. S. 306). Die Forscher sind nach Callon Ausgangspunkt aller Aktivitäten und für den Prozess der Machtbildung unentbehrlich (Vgl. Ebd. S. 306f). Die Forscher wiederum definieren als „Vorsitzende“ des Prozesses die weiteren Zielgruppen selbst (Vgl. ebd. S. 308):
(1): Die Fischer in St. Brieuc, die keine klare Identität besitzen und die Bucht ohne Kenntnisnahme leerfischen.
(2): Die Wissenschaftskollegen, die keine Kenntnisse über die Muscheln und deren Entwicklungsweise haben und deshalb an neuem Wissen interessiert sind.
(3): Die Muscheln selbst, an die die Frage gestellt wird, ob sie sich selbständig am Meeresboden verankern können.
Die Frage, an welcher alle Akteursgruppen gleichermaßen interessiert sind, ist, ob sich Kammmuscheln selbstständig am Meeresboden verankern können. Diese Frage wurde durch die drei Forscher an die anderen Akteursgruppen gestellt, welche so alle in den Machtbildungsprozess involviert wurden. Dabei ist für die Forscher selbstverständlich, dass alle Akteure an der Klärung der Frage und der Erreichung des Ziels interessiert sein müssen. Die Erreichung dieses gemeinsamen Zieles ist das, was Callon in seiner Machtgeschichte als OPP, obligatorischer Passage-Punkt, bezeichnet. Diesen Punkt müssen alle Akteure durchschreiten um ihr gemeinsames sowie die persönlichen Ziele erreichen zu können (Vgl. ebd. S. 309ff).
Diesen Status in Callons Erzählung werde ich, im Hinblick auf einen späteren Vergleich, als „Definition der Akteure“ festhalten, weil ich annehme, dass Verran die in ihrer Geschichte beteiligten Akteure auf andere Weise definiert und bewertet.
Im nächsten Schritt beschreibt Callon den Aufbau einer Interessensbeziehung zwischen den Forschern und den anderen Akteuren. Dafür bestimmen die Forscher erneut die Identitäten der Akteure und versuchen diese in verhandlungsoffene Beziehungen zueinander zu bringen, indem andere, außenstehende Akteure aus dem Prozess ausgeschlossen werden. So sollen die Akteure jeweils nur zueinander im Interesse stehen und auf keine andere Weise definiert werden können (Vgl. ebd. S. 312f). Um diese Interessensbeziehungen zu bilden, bedarf es nach Callon einiger, teils schwieriger Verhandlungen. So versuchen beispielweise die Forscher, die Muscheln von ihrer Idee zu überzeugen, indem sie diese physisch von anderen Verhandlungspartnern wie den Fressfeinden oder der Strömung trennen. Diese Phase der Aushandlung nennt Callon das Interessment. Ich möchte diese Phase als „Akteurs- Beziehungen“ bezeichnen und als nächste, vermeintliche Parallele in meiner Blaupause festhalten.
Die Phase der Aushandlung beschränkt sich bei Callon jedoch nicht nur auf die theoretische Darlegung von Interessensgemeinschaften auf dem Papier.
In der Realität müssen viele Kompromisse eingegangen und Verhandlungen
geführt werden, ehe eine Konstellation wirklich zustande kommt und ein Akteur seine ihm zugedachte Rolle einnimmt (Vgl. ebd. S. 320 f.)
In diesen Verhandlungen treten den drei Forschern immer nur einzelne Repräsentanten der einbezogenen Akteure gegenüber. So verhandeln die Forscher nicht mit allen Muscheln in St. Brieuc, sondern mit wenigen Larven, welche als Repräsentanten und „Sprecher“ ihrer gesamten Population im Prozess eingebunden sind. Dies verlangt zum einen nach dem Vertrauen danach, dass die anderen Larven auch auf ihre Repräsentanten „hören“, zum anderen stellt sich immer die Frage nach der Repräsentativität eines erzielten Ergebnisses, wenn nur wenige Verhandlungspartner beteiligt sind. Bedeutet: Wie viele Muschel-Repräsentanten müssen sich verankern, um Forscher und Kollegen zu überzeugen (Vgl. ebd. S. 324f)?
Dieser Punkt erscheint mir für meine weitere Analyse sehr wichtig, da einer „Sprecher-Zuhörer-Beziehung“ schon in seiner Ontologie immer auch ein Machtverhältnis innewohnt. Ähnlich wie bei einem Vortrag oder einer Rede im Bundestag, hat der Redner die Macht, sei es auch für einen kurzen Moment. Diese Idee des Sprechers werde ich als weitere Parallele festhalten um zu untersuchen: Wo sind die Sprecher bei Verran? Besitzen sie eine ähnliche Macht und mit wem verhandeln sie?
Schlussendlich kommt die Machtgeschichte Callons zu ihrem Ende, indem sich die Repräsentanten zu einer Allianz zusammengeschlossen haben, welcher die drei Forscher als Sprecher voranstehen. Sie repräsentieren nun den Konsens aller Akteursgruppen, denen ein „zwingendes Netzwerk von Beziehungen“ (Ebd. S. 328) zugrunde liegt. Wobei dieser Konsens nicht wirklich das Ende bildet. Denn wie im Märchen, werden die guten und heldenhaften Forscher durch die Muscheln verraten, welche sich eben nicht im Boden verankern wollen, wie ihre wenigen Repräsentanten es getan haben und so „Dissidenten“ (Ebd. S. 329) werden.
Das Ende von Callons Machtgeschichte hält also gleich zwei weitere Aspekte für einen möglichen Vergleich parat: Zum einem die Ausübung von Macht in Form einer sich im Prozess gebildeten Allianz, deren Sprecher für ein ganzes Ökosystem sprechen darf. Zum anderen der Aspekt, dass zur Macht wohl auch immer Verrat und Irrtum gehören und sich diese Ambivalenzen wohl in keiner guten Geschichte über Macht trennen lassen.
2.2 Verran und die Feuerregimes
Helen Verran steht in der Tradition der postkolonialen STS und strebt damit, wie bereits in der Einleitung erwähnt, eine Neuaktzentuierung der STS an. Weiterhin bildet die postkoloniale Forschung eine Kritik, welche sich gegen die „universalistische („Es ist so“) als auch relativistische („Es ist überall anders!“) Positionen“ (Schramm 2017, S. 472) richtet. In Bezug auf die Entschlüsselung oder auch Beschreibung von Macht, hat es sich die Disziplin zum Ziel gemacht, auf gegebene Machtverhältnisse zu verweisen und diese im Folge des Forschungsprozesses aufzubrechen (Vgl. ebd. S. 477).
Verran selbst führt an, mit ihren Ausführungen Machtverhältnisse neu verteilen zu wollen, um damit Kooperation und Koexistenz für zuvor asymmetrisch behandelte Akteure zu gewährleisten (Vgl. Verran 2017, S. 496). Ihr Geschichte über Macht handelt von einer Gruppe Umweltwissenschaftler, die zu einem Brandlegungs- Workshop der Yolngu-Aborigines nach Australien eingeladen wurden. Ziel der Wissenschaftler war es, „theoretischen und praktischen Nutzen für ihre Arbeit“ (Ebd. S. 497) zu gewinnen. Die Aborigines hingegen versuchten, ihre WaldrodungsPraktiken gegenüber den Wissenschaftlern zu rechtfertigen. Der Workshop gliederte sich dabei in theoretische Seminar-Phasen und praktische Demonstrationen im australischen Wald (Vgl. ebd.). Verran möchte durch die symmetrische Erzählung beider Geschichten der unterschiedlichen Feuerregimes die vorherrschenden Machtverhältnisse zwischen beiden aufbrechen (Vgl. ebd. S. 499).
Verran beginnt in ihrer Geschichte über Macht mit der Definition beider Akteure. Definition meint hier genauer, die Motivation beider Akteursgruppen, am Workshop teilzunehmen, beziehungsweise diesen abzuhalten. Die Motivation der Wissenschaftler besteht in dem Ziel, das Wissen der Aborigines zusammenzutragen, um es gegebenenfalls in die eigenen Praktiken mit einzubeziehen. Der Streit über die Rechtfertigung beider Praktiken steht dabei schon seit der Eroberung Australiens durch den weißen Mann im Raum. Auf Seite der Wissenschaftler gibt es sowohl Befürworter, als auch Gegner der aboriginalen Waldrodungspraktik (Vgl. ebd. S. 501ff).
Den Aborigines geht es in erster Linie darum, „die Kontrolle über ihre Gebiete zurückzugewinnen“ (Ebd. S. 504) und durch ihren wissenschaftlichen Beitrag „eine Rolle in der australischen akademischen Landschaft zu spielen“ (Ebd. S. 505).
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