Was die Parteiensysteme und das Wahlverhalten in den jungen osteuropäischen Demokratien angeht, so scheinen viele Beobachter gerne abwarten zu wollen, bis sich eine politische Landschaft scheinbar konsolidiert habe und diese dann mit „bewährten“ Mitteln für Westeuropa beackern ließe. Der zentrale Denkfehler besteht jedoch im Ausblenden der Tatsache, dass sich eine Dekonsolidierung auch in traditionsreichen, älteren Demokratien vollziehen kann und dann mitnichten als Kinderkrankheit bewertet würde, was bei den östlichen „Novizen“ jedoch häufig so ausgelegt würde.
Außerdem kann man nach 25 Jahren postkommunistischer Entwicklung und weiterer Kongruenz zum Westen davon ausgehen, dass der größte Teil der Bevölkerung wenigstens ihr halbes Erwachsenenleben in Berührung mit demokratischen Wahlen gekommen ist und auch eine starke autoritäre Legacy, ob nun kommunistisch oder nicht, entsprechend langwierige Lernprozesse nicht zu verhüten vermag, wenn auch ihre Nachwirkungen nicht vollkommen ignoriert werden können.
Die Tschechoslowakei war vor dem Zweiten Weltkrieg die letzte funktionierende Demokratie in Mitteleuropa und einer der reichsten Staaten der Welt. In vielerlei Hinsicht ist Tschechien unter allen anderen ehemaligen Ostblockstaaten noch am ehesten mit den neuen Bundesländern vergleichbar, jedoch ohne einen großen westlichen Bruder zu haben, der einem sein eigenes System übergestülpt hätte.
Grundsätzlich postuliert die Seminararbeit, dass die äußerst niedrige Wahlbeteiligung des tschechischen Wahlvolks als Symptom mehrerer sich überlagernder Faktoren darstellt: Einmal die empfundene Nachrangigkeit der Europawahl (als sogenannte Second-Order-Election), sodann die resignative Gleichgültigkeit der Nichtwählerschaft bedingt durch die Nachwirkungen der Ostblockzeit und der postkommunistischen Systemtransformation und schlussendlich der politische Wechsel nach den nationalen Parlamentswahlen von 2013, welche das bei den vorangegangenen Europawahlen existente Protestwählerpotential eindämmte.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Die Motivation zur Seminararbeit
- 1.2 Warum Tschechien?
- 1.3 Forschungsfrage
- 2 Hypothesen und Argumente
- 2.1 Hypothesen
- 2.2 Argumente
- 2.2.1 Wahlverhalten bei Europawahlen als Second-Order-Election allgemein
- 2.2.2 Wahlverhalten im postkommunistischen Transformationsraum
- 2.2.2.1 Politische Kultur
- 2.2.2.2 Umkehrung der „perzipierten Wahlpflicht“
- 2.2.3 Wahlverhalten im spezifisch tschechischen Kontext
- 2.2.3.1 Zufriedenheit mit der aktuellen Tagespolitik
- 3 Methodischer Ansatz
- 3.1 Dimensionen einer Second-Order-Election nach Reif/Schmitt (1980)
- 3.1.1 Less-At-Stake-Dimension
- 3.1.1.1 Geringere Wahlbeteiligung
- 3.1.1.2 Effekte durch den Wegfall der taktischen Wahl
- 3.1.1.3 Periodenabhängige Effekte
- 3.1.2 Dimension der spezifischen politischen Arena
- 3.1.3 Institutionell-prozedurale Dimension
- 3.1.4 Dimension des Wahlkampfes
- 3.1.5 Spezifische Änderungen auf der politischen Hauptebene
- 3.2 Michigan-Modell bzw. Ann-Arbor-Modell der politischen Wahlforschung
- 4 Empirische Analyse
- 4.1 Wahlergebnisse für die bisherigen Europawahlen und die vorherigen Abgeordnetenhauswahlen
- 4.1.1 Europawahl 2014 und Abgeordnetenhauswahl 2013
- 4.1.2 Europawahl 2009 und Abgeordnetenhauswahlen 2006
- 4.1.3 Europawahl 2004 und Abgeordnetenhauswahl 2002
- 4.2 Über die niedrige Wahlbeteiligung
- 4.3 Über die Ergebnisse der Partei im Einzelnen
- 4.4 Überprüfung des Wahlgangs nach Reif/Schmitt über ihren Charakter als Second-Order-Election
- 4.4.1 Less-At-Stake-Dimension
- 4.4.1.1 Geringere Wahlbeteiligung
- 4.4.1.2 Chancen für kleine und neue Parteien durch untaktisches Wählen
- 4.4.1.3 Andere Effekte des untaktischen Wählens
- 4.4.1.4 Effekte des Zyklus der aktuellen Wahlperiode (Flitterwochen - Abstrafung zur Midterm Vorfeld der Wahlen)
- 4.4.2 Dimension der spezifischen politschen Arena
- 4.4.3 Institutionell-prozedurale Dimension
- 4.4.4 Dimension des Wahlkampfes
- 4.4.5 Spezifische Änderungen auf der poltischen Hauptebene des betroffenen Landes
- 4.5 Wahlanalyse nach dem Michigan-Modell
- 4.5.1 Langfristige Faktoren – Parteibindung
- 4.5.1.1 Aktion unzufriedener Bürger (ANO)
- 4.5.1.2 Tradition, Verantwortung, Wohlstand (TOP 09)
- 4.5.1.3 Sozialdemokratische Partei (ČSSD)
- 4.5.1.4 Kommunistische Partei (KSČM)
- 4.5.1.5 Christdemokraten (KDU-ČSL)
- 4.5.1.6 Bürgerdemokraten (ODS)
- 4.5.1.7 Partei freier Bürger (Svobodní)
- 4.5.1.8 Piratenpartei
- 4.5.1.9 Grüne Partei
- 4.5.1.10 Morgendämmerung (Úsvit)
- 4.5.2 Kurzfristige Faktoren – Kandidatenbindung
- 4.5.2.1 Aktion unzufriedener Bürger (ANO)
- 4.5.2.2 Tradition, Verantwortung, Wohlstand (TOP 09)
- 4.5.2.3 Sozialdemokratische Partei (ČSSD)
- 4.5.2.4 Kommunistische Partei (KSČM)
- 4.5.2.5 Christdemokraten (KDU-ČSL)
- 4.5.2.6 Bürgerdemokraten (ODS)
- 4.5.2.7 Partei freier Bürger (Svobodní)
- 4.5.2.8 Piratenpartei
- 4.5.2.9 Grüne Partei
- 4.5.2.10 Morgendämmerung (Úsvit)
- 4.5.3 Kurzfristige Faktoren – Themenbindung
- 4.5.3.1 Aktion unzufriedener Bürger (ANO)
- 4.5.3.2 Tradition, Verantwortung, Wohlstand (TOP 09)
- 4.5.3.3 Sozialdemokratische Partei (ČSSD)
- 4.5.3.4 Kommunistische Partei (KSČM)
- 4.5.3.5 Christdemokraten (KDU-ČSL)
- 4.5.3.6 Bürgerdemokraten (ODS)
- 4.5.3.7 Partei Freier Bürger (Svobodní)
- 4.5.3.8 Piratenpartei
- 4.5.3.9 Grüne
- 4.5.3.10 Morgendämmerung
- 4.6 Vergleich der Europawahlen 2004, 2009 und 2014
- 4.7 Überprüfung der Hypothesen
- 4.7.1 Niedrige Wahlbeteiligung
- 4.7.1.1 Europawahl allgemein
- 4.7.1.2 Altlasten aus dem Realsozialismus
- 4.7.1.3 Spezifisch tschechische Bedingungen
- 4.7.2 Milieuspezifisches Wahlverhalten
- 4.7.3 Protestwahlverhalten
- 5 Fazit
- Wahlverhalten bei Wahlen zweiter Ordnung (Second-Order-Elections)
- Wahlverhalten in postkommunistischen Transformationsstaaten
- Niedrige Wahlbeteiligung in Tschechien
- Einfluss der politischen Kultur auf das Wahlverhalten
- Analyse der tschechischen Parteiensysteme und des Wahlkampfes
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Seminararbeit befasst sich mit dem Wahlverhalten in der Tschechischen Republik bei den Europawahlen 2014, und analysiert dieses im Kontext von Wahlen zweiter Ordnung. Sie untersucht die spezifischen Herausforderungen des Wahlverhaltens im postkommunistischen Transformationsraum und analysiert die niedrige Wahlbeteiligung in Tschechien im Vergleich zu anderen europäischen Staaten.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung der Arbeit legt die Motivation und die Forschungsfrage dar. Sie stellt die Bedeutung des Themas im Kontext der europäischen Integration und der Entwicklung der tschechischen Demokratie heraus. Kapitel 2 definiert die Hypothesen und argumentiert für die Bedeutung des Wahlverhaltens bei Wahlen zweiter Ordnung im Allgemeinen und im spezifischen Kontext des postkommunistischen Transformationsraums. Kapitel 3 erläutert den methodischen Ansatz, der auf dem Modell der Second-Order-Election von Reif/Schmitt (1980) und dem Michigan-Modell der politischen Wahlforschung basiert. In Kapitel 4 wird eine empirische Analyse der tschechischen Europawahlen 2014 durchgeführt. Dabei werden die Wahlergebnisse der vergangenen Europawahlen und Abgeordnetenhauswahlen, die Wahlbeteiligung, die Ergebnisse der einzelnen Parteien und die Überprüfung des Wahlgangs nach Reif/Schmitt vorgestellt. Außerdem wird eine Wahlanalyse nach dem Michigan-Modell durchgeführt, die die Langfristigen Faktoren – Parteibindung, und die Kurzfristigen Faktoren – Kandidatenbindung und Themenbindung – untersucht.
Schlüsselwörter
Wahlverhalten, Second-Order-Election, Europawahlen, Tschechien, postkommunistische Transformation, politische Kultur, Wahlbeteiligung, Michigan-Modell, Parteibindung, Kandidatenbindung, Themenbindung.
- Quote paper
- Alexander Knödler (Author), 2014, Ostmitteleuropäisches Wahlverhalten bei Wahlen zweiter Ordnung. Die Europawahlen in der Tschechischen Republik, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/316193