Die Tradition von Gewalt, die Normalität von Gewalt in den Unterschichten Russlands und besonders auf den Dörfern, hat bis vor einem guten Jahrzehnt eine nur geringe Rolle in den Darstellungen des spätzaristischen Russland und der Revolution von 1917 gespielt. Dafür gibt es vor allem zwei Ursachen, und beide haben mit den historischen Quellen zu tun.
Zum einen mag der Blick westlicher Historiker häufig durch die weltfremde Brille der russischen Oberschicht gefallen sein, und was dieser Blick zeigte, ließ sich nur als plötzliche Eruption nie da gewesener Gewalt deuten. Zum anderen hatten diejenigen, die im Wortsinn an (und auf) den Quellen saßen, also die Historiker der Sowjetunion, kein Interesse daran, die Wurzeln einer Gewalt zu untersuchen, die nach offizieller marxistischer Sicht in der Oktoberrevolution als Revolution klassenbewusster Arbeiter allenfalls ein unangenehmes Randphänomen gewesen sein durfte.
Doch Gewalt und Terror kamen weder 1905 noch 1917 noch danach aus dem Nichts. Wer sich, wo Unkenntnis der zaristischen Oberschicht den Blick verstellte und Ideologie die sowjetischen Historiker blind machte, auf die Suche nach den Wurzeln der Gewalt begibt, wird sie besser verstehen.
Inhaltsverzeichnis
- Über Unterschichtengewalt im spätzaristischen Russland
- Gewalt und Chaos und eine gleichgültige Bevölkerung
- Die Tradition von Gewalt, die Normalität von Gewalt in den Unterschichten Russlands
- Die Wurzeln der Gewalt deutlich zurückverfolgen
- Auch in St. Petersburg und Moskau kamen viele der Arbeiter vom Land
- Der Schlüssel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden
- The Problem of Violence
- Streiks schlagen in Judenpogrome um, die wieder werden zu allgemeinen Plünderungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Essay analysiert die Gewalt in den Unterschichten des spätzaristischen Russlands und zeigt auf, dass diese kein neues Phänomen der Revolution von 1905 war, sondern tief in der russischen Gesellschaft verwurzelt war. Er hinterfragt die gängige Perspektive der russischen Oberschicht und die Ideologie sowjetischer Historiker, die die Gewalt als ein Randphänomen darstellten. Stattdessen argumentiert der Text, dass die Gewalt aus der bäuerlichen Tradition und den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse resultierte.
- Traditionelle Gewaltstrukturen in der bäuerlichen Gesellschaft
- Gewalt in der Arbeiterklasse und ihre soziale Verortung
- Die Rolle von Ideologie und Perspektiven in der Geschichtsschreibung
- Analyse von Gewaltformen und ihre Auswirkungen
- Die Bedeutung der "dichten Beschreibung" für die Gewaltforschung
Zusammenfassung der Kapitel
- Das erste Kapitel beleuchtet die Reaktion der russischen Oberschicht und ausländischer Beobachter auf die Gewalt während der Revolution von 1905. Es stellt die weitverbreitete Unkenntnis und den Schock über die Brutalität des Volkes dar.
- Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Tradition von Gewalt in den Unterschichten Russlands und führt zurück zu den bäuerlichen Wurzeln der Gewalt. Es argumentiert, dass diese Tradition in die Industriestädte übertragen wurde und sich in Form von Massenschlägereien und Gewalttaten äußerte.
- Das dritte Kapitel untersucht die komplexeren Sozialstrukturen von Städten wie St. Petersburg und Moskau und stellt die Frage, ob sich die bäuerliche Tradition der Gewalt dort nachweisen lässt. Es diskutiert den Ansatz der "dichten Beschreibung" als Methode, um die Gewalt selbst zu analysieren und ihre Ursachen zu verstehen.
- Das vierte Kapitel beleuchtet verschiedene Kategorien von Gewalt und kritisiert deren Eignung zur Erklärung der komplexen sozialen Umwälzungen am Ende des Zarenreichs. Es zeigt, wie Streiks, Judenpogrome und allgemeine Plünderungen ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen.
Schlüsselwörter
Der Essay befasst sich mit den Themen Gewalt, Terror, Unterschichtengewalt, bäuerliche Tradition, Arbeiterklasse, Sozialgeschichte, Russland, Zarenreich, Revolution von 1905, "dichte Beschreibung", Gewaltforschung.
- Arbeit zitieren
- Hans-Joachim Frölich (Autor:in), 2003, Über Unterschichtengewalt im spätzaristischen Russland, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/27287