Im Rahmen dieser Arbeit wird untersucht, welche Funktion das Stilmittel der Stichomythie in mittelhochdeutscher Epik hat. Anhand von Konrad Flecks "Flore und Blanscheflur" werden exemplarische Stellen analysiert und in Relation zu Hartmann von Aues "Gregorius" gestellt.
Gliederung
1. Einleitung
2. Stichomythie in mittelalterlicher Epik
3. Stichomythie in „Flore und Blanscheflur“
3.1 Konrad Fleck: „Flore und Blanscheflur“
3.2 Flore offenbart Blanscheflur seinen Abschied (V. 1106 - 1144)
3.3 Flore erfährt von Blanscheflurs angeblichem Tod (V. 2146 - 2165)
4. Vergleich mit Hartmann von Aues „Gregorius“
4.1 Hartmann von Aue: „Gregorius“
4.2 Gespräch der Fischersfrau mit ihrem Kind (V. 1298 - 1305)
4.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sprachstile Flecks und Hartmanns
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
‘jâ ich zewâre, ich sage dirz.’
‘nein dû.’ ‘war umbe niht?
mir ist leit daz ez geschiht.’
‘waz wiltû dar? durch welhe nôt?’ ‘mîn vater ist der mirz gebôt.’
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur, V. 1122 - 11261 2
Obgleich ein jeder den obigen Textauszug aus Konrad Flecks „Flore und Blanscheflur“ als Dialog wird bezeichnen können, fällt diese Zuordnung dennoch nicht leicht, da keine Spre- cherzuweisungen vorhanden sind. Warum machen es mittelalterliche Dichter ihren Lesern so schwer? Denn Textpassagen wie die obige rufen zuerst einmal Verwirrung hervor, da zu- nächst eine inhaltliche Auseinandersetzung, sowie eine Einordnung in den Kontext vollzogen werden muss, um Klarheit zu schaffen, welcher Figur welche Redeabschnitte zuzuordnen sind. Erheblich komplizierter wird es, wenn nur der mittelhochdeutsche Originaltext betrach- tet wird, der keinerlei Satzzeichen aufweist. Es ist allein eine ausführliche Analyse erforder- lich, um zu ermitteln, dass es sich tatsächlich um einen Dialog handelt und auf welche Art sich die Sprecherwechsel konstituieren.
Nun stellt sich die Frage, welchen Sinn und welche Funktionen schnelle Dialoge ohne Redeeinleitungen haben sollen? Warum wird in der mittelhochdeutschen Epik dieses als Stichomythie bezeichnete Stilmittel angewandt?
Im Rahmen dieser Hausarbeit soll diesen Fragen im Falle Flore und Blanscheflur von Konrad Fleck nachgegangen werden. Dazu werden exemplarisch zwei stichische Textstellen, die Ein- ordnung dieser im Roman, deren Funktionen und der Sprachstil von Konrad Fleck analysiert. Da ein enormer Einfluss Hartmann von Aues auf Flecks Sprachstil bekannt ist, werden eben- falls Ausschnitte aus seinem Gregorius in Hinblick darauf Betrachtung finden müssen.
2. Stichomythie in mittelalterlicher Epik
Unter dem Begriff der „Stichomythie“, auch „Zeilenrede“ genannt, wird eine spezielle Form des epischen Dialogs, der wehselrede3, die aus der griechischen Tragödie stammt, verstan- den. Hauptmerkmal ist hierbei der schnelle Redewechsel von Vers zu Vers (strenge Sticho- mythie), die zyklische Abfolge von Rede und Gegenrede. Wird der Begriff weiter gefasst, zäh- len auch Sprecherwechsel nach Halb- (Hemistichomythie) oder Doppelversen (Disticho- mythie) dazu.
Es muss hierbei vom Leser bzw. Vortragenden selbst erschlossen werden, welche Textpassagen welcher Figur zugeteilt sind, da auf Redeeinleitungen (inquit-Formeln) verzichtet wird.4 Bei längeren Zeilenreden ist deshalb auch eine erhöhte Konzentration von Nöten, um die Übersicht zu behalten. Ihre volle Wirkung entfalten stichische Textpartien nur bei auditiver Rezeption, da hierbei die Figuren akustisch unterschiedlich dargestellt werden können.5 Dieses Stilmittel fand über die französische Epik seinen Weg in mittelhochdeutsche Texte, wird jedoch nicht von allen Autoren gleichermaßen angewandt.6
Die grundlegenden Funktionen der Stichomythie sind ein Scheinparadox: Zum einen sorgen die schnellen Sprecherwechsel und die fehlenden inquit-Formeln für eine „gedrängte Kürze“7 und eine Steigerung des Erzähltempos gemäß dem antiken Brevitas-Ideal8, zum anderen bewirken häufige Unterbrechungen, Wiederholungen, Nachfragen und rhetorische Frageformen eine retardierende Funktion. Dadurch tritt der Dialog auf der Stelle, die weitere Handlung wird hinausgezögert und somit baut sich Spannung auf.9
Demzufolge zieht der Einsatz von Stichomythie die Aufmerksamkeit des Lesers (bzw. Zuhö- rers) in besonderem Maße an und wird darum vor allem in konversationsreichen Schlüssel- szenen eingesetzt. Häufig zu finden sind Momente der Anagnorisis, sowie Streit-, Affekt- und Überredungsszenen, in welchen kaum Handlung parallel zum Dialog abläuft und somit einzig die Sprechertexte zum Verständnis genügen. Das Stilmittel der Stichomythie kann auch mit einem semantischen Aspekt verknüpft sein, indem sich alle stichischen Textstellen inhaltlich ähneln oder sich auf das selbe Thema beziehen, wodurch die Stichomythie semantischen Signalcharakter bekommt.10
Ob und wie weit Stichomythie als wertvolles und ästhetisches Stilmittel angesehen wird, ist nach wie vor ein Streitpunkt in der Forschung. Als anerkannt gilt jedoch die These, dass sehr häufiger und umfangreicher Einsatz von Zeilenrede einem Text schade und die spannungssteigernde Wirkung so verloren gehe.11
3. Stichomythie in „Flore und Blanscheflur“
In Flore und Blanscheflur finden sich stichische Stellen, wovon zwei nach einer inhaltlichen und produktionsästhetischen Zusammenfassung vorgestellt, übersetzt und interpretiert wer- den.
3.1 Konrad Fleck: „Flore und Blanscheflur“
Sowohl über den Autor Konrad Fleck, als auch über die Entstehung seines einzigen vollstän- dig überlieferten Werks Flore und Blanscheflur, ist wenig bekannt. Fleck ist urkundlich nicht bezeugt und nennt sich selbst nicht in seinem Werk. Da er Kenntnisse des Hartmann’schen Sprachstils haben musste und von Rudolf von Ems um 1325 als bereits verstorben erwähnt wird, ist davon auszugehen, dass Flore und Blanscheflur um 1220 nach der französischen Vorlage Floire et Blacheflor, version aristocratique von etwa 1160 entstanden ist.12
Flore und Blanscheflur, die beiden Protagonisten werden fast zeitgleich geboren, Flore als heidnischer Königssohn und Blanscheflur als christliche Sklaventochter. Sie wachsen zusam- men auf und entdecken früh ihre Minne füreinander, was Flores Vater dazu veranlasst, Blan- scheflur zu verkaufen, da er eine nicht standesgemäße Heirat nicht toleriert. Er täuscht sei- nen Sohn, indem er ein Grabmal errichten lässt, während er ihn nach Muntôre schickt und ihm bei seiner Rückkehr mitteilt, Blanscheflur sei verstorben. Erst als Flore aus Kummer den Freitod wählen will, erfährt er von Blanscheflurs tatsächlichem Schicksal und macht sich auf, sie zu retten. Durch listiges Vorgehen schafft Flore es, zur gefangenen Blanscheflur, die einen amiral heiraten soll, vorzudringen. Als die beiden entdeckt werden, verurteilt man sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Ihre innige Liebe zueinander erweicht jedoch den amiral, so- dass er sie freispricht und Flore zudem noch zum Ritter schlägt. Nach dem Tod seines Vaters übernimmt dieser dann die Herrschaft in Spanien. Im Alter von hundert Jahren sterben Flore und Blanscheflur am selben Tag. Ihre Tochter wird die Mutter Karls des Großen.
3.2 Flore offenbart Blanscheflur seinen Abschied (V. 1106 - 1144)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten13 14 15 16 17 18 19 20 21
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1 Alle verwendeten Zitate stammen aus folgender Ausgabe: FLECK, KONRAD: Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung. Hrsg. von EMIL SOMMER, Quedlinburg und Leipzig 1846.
2 Bildnachweis: Fleck, Konrad: Flore und Blanscheflur - Cod. Pal. germ. 362. Hagenau 1442. Digitalisat: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg362/
3 vgl. zu wehselrede: Becker, wehselrede, S. 41ff
4 In heutigen Editionen sind Sprecherwechsel durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Dabei handelt es sich jedoch um ein Resultat der Interpretation des Herausgebers, die sich teilweise auch zwischen verschiede- nen Editionen unterscheiden. Im mittelhochdeutschen Originaltext wurden noch keine Satzzeichen verwendet.
5 Bei mittelalterlichen Texten spielte die Erzählsituation viel mehr als bei neuzeitlicher Literatur eine große Rolle. Darum werden beispielsweise bei Flore und Blanscheflur nach dem Prolog (V. 147 - 272) die genauen Umstände erläutert, unter denen die Geschichte erzählt wurde, bzw. wie sich der Autor eine ideale Erzählsituation vorstellt (vgl. hierzu: Lieb/ Müller, Situationen literarischen Erzählens, S. 46 - 57).
6 vgl.: Becker, wehselrede, S. 116
7 Müller, Vers gegen Vers, S. 126
8 Maxime des griechischen Rhetoriksystems, Aussagen kurz und knapp zu halten
9 vgl.: Müller, Vers gegen Vers, S. 129f
10 Bsp.: Im Eneasroman (Veldeke) beziehen sich alle stichischen Stellen auf das Thema Minne. So kann der Leser auch im Umkehrschluss davon ausgehen, dass Stichomythie ein Indiz für Minne ist (vgl. Becker, wehselrede, S. 126 - 131).
11 Eine Vertiefung dieser Debatte würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ein Überblick ist in Becker, wehselrede, S. 118f zu finden.
12 vgl.: GANZ, PETER: Fleck, Konrad. In: Ruth u.a., Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 744f und KIENING, CHRISTIAN: Fleck, Konrad, um 1200. - Verfasser eines höfischen Liebesromans. In: Kühlmann, Killy, Bd. 3, S. 470f
13 Flore bezieht sich dabei auf einen Traum Blanscheflurs, den sie ihm unmittelbar zuvor geschildert hatte und der sie bedrückt. Darin wurden zwei Tauben beim Nisten von einem Habicht gestört (V. 1089 - 1099).
14 Die Taube (Columbia livia) gilt als friedliebendes Tier und wird schon seit den Römern als Symbol des Friedens gesehen. Nach antiker Auffassung haben Tauben keine Galle, was ihnen die Attribute Sanftmut und Klarheit zuschreibt. (vgl. Kampe, Tiere, S. 76f)
15 habech: habicht (Lexer, Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1130). Der Habicht wage es laut dem Physiologus nicht, Tauben anzugreifen, wenn sie zusammen fliegen, da ihre Flügel im selben Takt schlagen. Finde er jedoch eine einzelne, so erlege und fresse er sie. (vgl. Kampe, Tiere, S. 76f)
16 gîtikeit: s.v.a. gît: gierigkeit, habgier, geiz (Lexer, Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1024).
17 leit: Adj. schlimm, böse, unangenehm, leidig, verhasst, traurig, arm (Henning, Wörterbuch, S. 201).
18 nein: Hier nein + Personalpronomen als vehemente Ablehnung (Henning, Wörterbuch, S. 237).
19 waz wunders: etwas Wunderbares, Herrliches, Staunenswertes, Erstaunendes, Unvorstellbares, Unerhörtes, Seltsames, Beunruhigendes (Henning, Wörterbuch, S. 481; vgl. auch Friedrich, Phraseologisches Wörterbuch, S. 481).
20 wan: Adv., nur [auch niht w.]; niht w. nichts als; ausgenommen (Henning, Wörterbuch, S. 451).
21 In der Edition enrîte. Vgl. auch Berliner und Heidelberger Handschrift: rîte ohne Negationspartikel.