Die vorliegende synchrone Analyse über die politische Widerstandskultur des sozialdemokratischen
Milieus im Deutschen Kaiserreich begrenzt sich auf das erste Jahrzehnt nach der
Reichsgründung. Anhand der Sedanfeierlichkeiten werden die Integrationskraft des neu etablierten
Reiches und die auftretenden gesellschaftlichen Konfliktlinien untersucht. Hierdurch
können die Trennlinien und die Umdeutungen des Sedantages unabhängig von den Sozialistengesetzen
seit 1878 betrachtet werden. Aus der Untersuchung ergibt sich folgende Kernthese:
Die Sedanfeier konnte durch die Transferleistung seiner historischen Ereignisbasis und die
milieuspezifische Deutung des Sedanfestes keine Integrationswirkung entfalten. Stattdessen
wurde im sozialdemokratischen Milieu eine Gegenöffentlichkeit etabliert, die das Sedanfest
aus dem kollektiven Bezugsrahmen ausgrenzte.
Die Sedanfeier gilt in der Forschung als weitgehend untersucht, dabei verbinden Analysen
das Fest zumeist mit sozialen Milieus und deren Konformität zum bestehenden Herrschaftssystem
im Kaiserreich. Jüngst werden Ansätze der Kulturgeschichte, insbesondere in Verbindung
mit der politischen Festkultur, in den Fokus der Forschung genommen. Die idealtypische
Konstruktion der sozialmoralischen Milieus nach Lepsius verbleibt dabei ein Analyseinstrument
in der Kulturgeschichte. Mittels dieser Ansätze stellen sich die Fragen, warum
das Sedanfest keine integrative Wirkung für die Sozialdemokratie entfalten konnte und wie
jene die gesellschaftliche Ausgrenzung in eine konstruktive Gegenöffentlichkeit transformierte. Hierbei verbindet die Arbeit die Ereignisse um den Sedantag, seine Deutungsbasis während
der Sedanfeiern sowie die politischen Aktionen des Milieus miteinander. Zuerst wird das
sozialdemokratische Milieu definiert und der methodische Ansatz dargelegt. Zweitens werden
die Ereignisse um den ´Tag von Sedan´ am 02.09.1870 und die Konflikte um die Reichsgründung
mit den identitätsstiftenden Haltungen des Milieus verknüpft. Aus den Umdeutungen
dieser Bezugspunkte können die Konfliktlinien und Angriffsflächen binnen der Sedanfeierlichkeiten
aufgezeigt und durch die unterschiedlicher Protestformen des sozialdemokratischen
Milieus untermauert werden. Der Quellenkorpus der Analyse setzt sich aus Reden und Veröffentlichungen
der sozialdemokratischen Parteiführungen sowie Periodika, die über Protestaktionen
des Milieus berichteten, zusammen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Politische Festkultur und das sozialdemokratische Milieu
3 Positive Integration versus Exklusion? Die Sozialdemokratie und der Sedantag 1870/1bis 1878
3.1 Abgrenzungspotenzial und milieubedingte Deutung des `Tages von Sedan´ in der Reichsgründungszeit
3.2 Sedanfeiern als Kristallisationspunkte des sozialdemokratischen Widerstandes
3.3 Politische Protestformen des sozialdemokratischen Milieus
4 Schlussbetrachtung
5 Quellen-und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Als französische Truppen am 02.09.1870 in der Schlacht um Sedan kapitulierten, war der Deutsch-Französische Krieg noch Monate vom Frankfurter Friedensschluss am 10.05.1871 entfernt. Dennoch waren es nicht die glorreichen Tage der Reichseinigung, wie die Kaiserproklamation am 18.01.1870, die als Demarkationslinie für das sozialdemokratische Milieu galten. Der ´Tag von Sedan` besiegelte den Triumph über Frankreich und den in Kriegsgefangenschaft geratenen Napoleon III. Aufgrund der Einheit im Kriege und einer fehlenden Integrationskraft, symbolisierten die Sedanfeiern die Konfliktlinien im Kaiserreich eminenter als jeder andere Feiertag in den ersten Jahrzehnten.
Die vorliegende synchrone Analyse über die politische Widerstandskultur des sozialdemokratischen Milieus im Deutschen Kaiserreich begrenzt sich auf das erste Jahrzehnt nach der Reichsgründung. Anhand der Sedanfeierlichkeiten werden die Integrationskraft des neu etablierten Reiches und die auftretenden gesellschaftlichen Konfliktlinien untersucht. Hierdurch können die Trennlinien und die Umdeutungen des Sedantages unabhängig von den Sozialistengesetzen seit 1878 betrachtet werden. Aus der Untersuchung ergibt sich folgende Kernthese: Die Sedanfeier konnte durch die Transferleistung seiner historischen Ereignisbasis und die milieuspezifische Deutung des Sedanfestes keine Integrationswirkung entfalten. Stattdessen wurde im sozialdemokratischen Milieu eine Gegenöffentlichkeit etabliert, die das Sedanfest aus dem kollektiven Bezugsrahmen ausgrenzte.
Die Sedanfeier gilt in der Forschung als weitgehend untersucht,[1] dabei verbinden Analysen das Fest zumeist mit sozialen Milieus und deren Konformität zum bestehenden Herrschaftssystem im Kaiserreich.[2] Jüngst werden Ansätze der Kulturgeschichte, insbesondere in Verbindung mit der politischen Festkultur, in den Fokus der Forschung genommen.[3] Die idealtypische Konstruktion der sozialmoralischen Milieus nach Lepsius verbleibt dabei ein Analyseinstrument in der Kulturgeschichte.[4] Mittels dieser Ansätze stellen sich die Fragen, warum das Sedanfest keine integrative Wirkung für die Sozialdemokratie entfalten konnte und wie jene die gesellschaftliche Ausgrenzung in eine konstruktive Gegenöffentlichkeit transformierte. Hierbei verbindet die Arbeit die Ereignisse um den Sedantag, seine Deutungsbasis während der Sedanfeiern sowie die politischen Aktionen des Milieus miteinander. Zuerst wird das sozialdemokratische Milieu definiert und der methodische Ansatz dargelegt. Zweitens werden die Ereignisse um den ´Tag von Sedan´ am 02.09.1870 und die Konflikte um die Reichsgründung mit den identitätsstiftenden Haltungen des Milieus verknüpft. Aus den Umdeutungen dieser Bezugspunkte können die Konfliktlinien und Angriffsflächen binnen der Sedanfeierlichkeiten aufgezeigt und durch die unterschiedlicher Protestformen des sozialdemokratischen Milieus untermauert werden. Der Quellenkorpus der Analyse setzt sich aus Reden und Veröffentlichungen der sozialdemokratischen Parteiführungen sowie Periodika, die über Protestaktionen des Milieus berichteten, zusammen.
2 Politische Festkultur und das sozialdemokratische Milieu
Während Karl Rohe die politische Kultur noch als eine Rahmung betrachtet, in dem sich politische Handlungen der Akteure vollziehen können,[5] stellt die Neue Kulturgeschichte des Politischen laut Thomas Mergel einen methodischen Ansatz dar, der sämtliche Themen des Politischen einbeziehe.[6] Politik erscheint selbst als „soziales Handeln, als ein Netz von Bedeutungen, Symbolen, Diskursen, in dem […] Realitäten konstruiert werden“[7]. Dadurch würden Strukturen und Handlungen erst durch repetitiven Vollzug produziert und gefestigt. Politische Inszenierungen, z.B. Feste, werden demnach von sozialen Trägern genutzt, um Abstrakta in „sinnlich wahrnehmbare und ästhetisch aufgewertete“[8] Realitäten zu verwandeln.
Da Handlungen sich stets in einem Deutungszusammenhang unter variierender Problemwahrnehmung bestimmter Milieus vollziehen, ist der Milieubegriff entscheidend. M. Rainer Lepsius definiert Milieus als „soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen, gebildet werden“[9]. Ausgehend von einem politischen Rahmen und dessen sozio-ökonomische Faktoren, erweitert Lepsius seine Milieudefinition um eine kulturelle Ebene. Es entstehen sozialmoralische Milieus mit eminenter Abgrenzungstendenz und spezieller Binnenkommunikation.[10] Die Zuordnung solcher „sozio-kulturelle[n] Gebilde“ zu spezifischen Teilen der Gesellschaft und die Synthese aus Parteien mit ihrem Sozialmilieu bergen somit das Risiko, dass das „Parteiensystem mehr der Aufrechterhaltung der Autonomie des Milieus als seiner Integration in die Gesamtgesellschaft dient“.[11] Dabei ist die Aufspaltung in den 1863 etablierten lassalleanischen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) und die seit 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) der ehemaligen Eisenacher zu beachten.[12] Da sozialmoralische Milieus Idealkonstruktionen sind, entsprechen die Haltungen der Parteiführungen nicht eo ipso der Gesinnung des Milieus. Sie stellen jedoch Indikatoren für ausgehende Impulse an die Arbeiterbewegung dar, die mit regionalen Protestformen ihre eigene Gewichtung repräsentierte. Die Widerstandskultur des sozialdemokratischen Milieus ist hierbei nicht als normative Größe zur herrschenden politischen Elite zu betrachten, sondern als milieuspezifische Konstruktion.
Mithilfe der Kulturgeschichte der Politik und Lepsius‘ Konstruktion der sozialmoralischen Milieus kann verdeutlicht werden, warum Nationalfeiertage Indikatoren für innerpolitische Konfliktlinien und Probleme im Nationalstaat werden können. Sie stellen „Kristallisationspunkte“[13] dar, an denen sich die gesellschaftlichen Gruppen darstellen oder alternativ positionieren. Ute Schneider spricht der sozialdemokratischen Arbeiter-Festkultur eine Einzigartigkeit zu. Jene vollzog sich kontinuierlich als Gegenöffentlichkeit zur bürgerlichen Sphäre und unterschied sich vornehmlich in ihrem Bezugsrahmen und Umdeutungsleistungen von der staatskonformen Sphäre.[14] Dies zeigt sich bereits an den Deutungen der Ereignisse um die Sedanschlacht im Herbst 1870.
3 Positive Integration versus Exklusion? Die Sozialdemokratie und der Sedantag 1870/1 bis 1878
3.1 Abgrenzungspotenzial und milieubedingte Deutung des `Tages von Sedan´ in der Reichsgründungszeit
Die Ereignisse[15] um die Sedanschlacht sind symbolische Angriffspunkte und Mittel zur eigenen Bewusstwerdung. Sie wurden milieubedingt umgedeutet und für die eigene Abgrenzung instrumentalisiert. Dabei sind drei Komponenten auszumachen, an denen sich das sozialdemokratische Milieu abgrenzte. Ab der Sedanschlacht wurden die unterschiedlichen Meinungen der Führungen zum Kriegscharakter nivelliert.[16] Seit der Ausrufung der französischen Republik am 04.09.1870 ging das Milieu entschieden gegen die Kriegstreiberei Preußens, die Fortführung eines Eroberungskrieges und den weiteren Massenmord an deutschen Soldaten vor. Die Ablehnung erfolgte aus strategischen Prinzipien und aufgrund des dynastischen Charakters des Krieges.[17] Auffällig ist die neue Bezugsvariable der Nation für die zukünftige politische Teilhabe. Die Sozialdemokraten sahen sich als patriotische Deutsche und einzige Sachverwalter der Nation.[18] In Resolutionen ging das Milieu dagegen vor „den Krieg oder Massenmord durch […] Festlichkeiten zu verherrlichen“[19].
Nachdem Marx und Engels sich zum Krieg geäußert hatten,[20] erwartete der Braunschweiger Ausschuss für die deutsche Arbeiterschaft eine Stellungnahme. Das nicht mehr erhaltene Antwortschreiben von Marx bildete die Basis für das Braunschweiger Manifest[21] vom 05.09.1870. In ihm wird der zweite Aspekt deutlich: Die Sozialdemokratie ging im Sinne einer internationalen Solidarität mit der Arbeiterbewegung und Friedensgesinnung gegen den Franzosenhass sowie die Annexionsvorhaben von Elsass-Lothringen vor. Seit Sedan hatte sich der Schwerpunkt der Arbeiterbewegung nach Deutschland verlagert und verlangte eine Verantwortlichkeit der hiesigen Sozialdemokratie.[22] So forderte das Manifest einen „ehrenvollen Frieden“[23] für die junge Republik und lehnte die Annexion der Grenzgebiete vollends ab.[24] Auch August Bebel sprach sich im Reichstag des Norddeutschen Bundes gegen den Eroberungscharakter des noch andauernden Krieges und eine potenzielle Annexion aus. So müsse der „Friede mit der französischen Nation unter Verzichtsleistung auf jede Annexion schleunigst geschlossen werde[n]“[25]. Das Vorgehen gegen die Sedanverherrlichung wurde vom sozialdemokratischen Milieu als verantwortungsbewusstes Handeln für die internationale Arbeiterbewegung und wahre Nation gesehen.[26] Endgültig erhielt die Sozialdemokratie das Stigma der ´vaterlandslosen Gesellen` nach der Solidaritätserklärung mit der Pariser Commune, die im Bürgerkrieg vom 18.03.1871 bis Mai desselben Jahres kämpfte.[27]
Drittens agitierte die Sozialdemokratie gegen die Verpreußung und den Charakter des neuen Reiches. Entgegen einer preußischen Vormacht, die einen dynastischen Krieg forciert hatte, wollte die Vereinsführung das Ziel eines Volksstaates erreichen. Laut Dieter Groh und Peter Brandt ging Liebknecht von einem Gegensatz der Hohenzollernschen und völkischen Interessen aus, wodurch der Preußenstaat bekämpft werden musste.[28] Die Umdeutungen der Ereignisse um Sedan ermöglichten ein Abgrenzungsmoment und die Vereinfachung der Realität. Dabei stärkten die Bezugsebene zur Nation und die Diffamierung definierter Feindbilder die eigene Identität. Bereits 1870 wird deutlich, dass der Sedantag keine integrative Wirkung beinhalteten konnte. Um die konstruierte Identität des Milieus nicht ad absurdum zu führen, verfestigte sich die Positionierung gegen die aufkeimenden Sedanfeiern.
[...]
[1] Schellack: Sedan-und Kaisergeburtstagsfeste, Anm. 4, S. 295.
[2] Siehe u.a.: Schneider: Einheit.
[3] Siehe dazu: Düding: Einleitung.
[4] Tenfelde: Milieus, S. 16.
[5] Rohe: Politische Kultur , S. 333.
[6] Mergel: Kulturgeschichte, S. 4
[7] Mergel: Überlegungen, S. 605.
[8] Behrenbeck/ Nützenadel: Politische Feiern, S. 9.
[9] Lepsius: Parteiensystem, S. 38.
[10] Müller-Rommel /Poguntke: Lebensstile, S. 180.
[11] Lepsius: Parteiensystem, S. 38.
[12] Die Führung der SDAP oblag dem Ausschuss in Braunschweig, August Bebel und Wilhelm Liebknecht wa- ren diesem nicht zugehörig. Interne Spannungen blieben jedoch bis weit über die Vereinigung mit dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) in Gotha 1875 erhalten.
[13] Knoll: Heil, S. 151.
[14] Schneider: Politische Festkultur, S. 18.
[15] Zum Begriff der „negativen Integration“ siehe: Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentis- mus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1973.
[16] Conze/Groh: Arbeiterbewegung, S. 94. Vor Sedan traten der ADAV für einen Verteidigungskrieg, der Aus- schuss der SDAP nolens volens für einen Krieg ein. A. Bebel und W. Liebknecht bekämpften den „ dynasti- schen“ Krieg und gerieten in die Isolation.
[17] Brandt/Groh: Gesellen, S. 17.
[18] Brandt/Groh : Gesellen, S. 21.
[19] In Hanau 1872: Dresdner Volksbote, Nr. 200, vom 29.09.1872.
[20] Siehe: „Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg“, verfasst vom 19. bis 23. Juli 1870 von Karl Marx, abgedr. in: MEW, Bd. 17, Berlin 1968, S. 3-8.
[21] „Aufruf des Ausschusses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zum Kampf um die Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges“, Braunschweig, 05.09.1870; abgedr. in: Internationale, S. 533-539.
[22] Ebd., S. 538.
[23] Ebd., S. 535 (im Original fett gedruckt).
[24] Ebd. , S. 537.
[25] „Gegen den Eroberungskrieg, gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen“. Reden und Anhörung im Norddeutschen Reichstag zum Gesetzesentwurf über weitere Gelder für die Kriegsausgaben, 26. November 1870 (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1. Leg.-Per., II. außerordentliche Session 1870, Berlin 1870, S. 9-13), abgedr. in: August Bebel: Reden, S. 118-128, hier S. 128.
[26] H. Müller: Arbeiterklasse, S. 1564.
[27] Brandt/Groh: Gesellen, S. 23. Die Resultate waren Verfolgungen und Verhaftungen gegen die Parteiführungen u.a. gegen den Braunschweiger Ausschuss und Bebel sowie Liebknecht.
[28] Brandt/Groh : Gesellen, S. 20.