Dieter Schnebels Mo-No darf als Musik gelesen werden, ist Schrift-Bild, ist akustisch. Wo und wie lässt es sich einordnen? Eine Analyse der Zeichenhaftigkeit steht neben der Frage nach dem hörbar-lesbar-sinnlichen Erleben von Mo-No.
1. Einleitung
Arnold Schönberg unternimmt um das Jahr 1908 herum die ersten Versuche, dodekaphon, atonal zu komponieren (9 7, Schönberg, Herzgewächse). Die Grenzen des tonalen Raumes sollen derart übertreten werden, als die klassisch tradierte Tonalität und Harmonik der Musik mit jener ersten Erweiterung des Tonraumes, hier der Erweiterung des Oktavraumes um vier weitere Töne, ein neues Spektrum musikalischer Möglichkeiten bergen soll und somit den Weg in eine von der musikalischen Tradition befreiten neuen Musik einschlagen kann.
Nicht nur die Erweiterung des Tonraumes, auch die Loslösung von musikalischer Form, Harmonik, Rhythmik und Metrik wird in der Avantgarde der Musik zentral bedeutsam. Die Ausdehnung des akustisch Darstellbaren und Hörbaren, der Tonraum wird zum Klangraum, wenn nicht zum Klangspektrum ausgebaut. Ende der fünfziger Jahre ist es der Amerikaner John Cage, der die deutsche Avantgarde der Musik auf die Bedeutung der Stille nebst der Bedeutung der Klänge, der Geräusche hinweist. Schritt für Schritt findet, besonders in den Nachkriegsjahren bis in die achtziger Jahre hinein, eine Loslösung von der Tradition und ein stetes Neuentdecken klanglicher Lauterfahrungen statt.
Aber nicht allein das akustisch Erfahrbare, sondern auch die Produktion, Komposition und Interpretation von Musik, gewinnt zunehmend an Bedeutung für die Musik. Denn für das beständige Überschreiten der Grenzen des Traditionellen sind schließlich auch die herkömmlichen Notationssysteme nicht mehr zulänglich. Ein Klang – oder sei es die Stille (und zwar nicht die Pause) – ist in altbekannter Notation weder beschreibbar, noch fixierbar (man denke an John Cages 4’33’’ (9 8, Cage, 4’33’’).
Des Weiteren wird Musik zunehmend auch auf den Ebenen der Komposition, Interpretation und Rezeption als autopoietischer Vorgang verstanden, dem die tradierte Notationsweise ob ihres hohen symbolischen Wertes, der die Musik nicht nur starr fixiert, sondern auch gleich bleibend reproduzierbar und ohne direkte musikalische Ausführung lesbar macht, nur im Wege stünde.
So beschreitet die Avantgarde der Musik den Weg fort von der tradierten Notationsweise über die sprachlich fixierte Beschreibung von Musik (siehe John Cages Variations I & II) hin zu der so genannten graphischen Notation.
Mit der Frage nach dem Aufschreiben von Musik ist natürlich das Verhältnis von Sprache und Musik zunehmend interessanter geworden. Und nicht nur der Frage von Musik als Kommunikationsmittel, sondern auch dem Problem der Bedeutung von Musik wird in der musikalischen Avantgarde verstärkt nachgegangen.
Während sich die syntaktische, grammatikalische Form der Musik von der Tradition gelöst hat, seriell gedacht und schließlich prozessual komponiert, also auf Syntax und Grammatik schlussendlich vollkommen verzichtet wird (wie kann beispielsweise Stille grammatisch sein?), wird das Spektrum der Zeichen, die Lexik der Musik, wie bereits oben erwähnt, durch Klänge angereichert. Wo es in der traditionellen Musik also noch musikalische Floskeln, Zitate gab (man denke beispielsweise an das Seufzer- oder das Kreuzmotiv bei Johann Sebastian Bach), die auch in tonal oder harmonisch unterschiedlicher Ausführung eine für den Hörer eine akustisch und visuell identifizierbare (und vom Komponist gewollte) Bedeutung trugen, steht nun ein Klang, der, in sich schon bedeutungslos, sich arbiträr an den nächsten Klang anschließt. Das vollkommene Fehlen von Tonalität, Harmonik, Form, das Ausblenden syntaktisch-grammatikalischer Rahmen und die Betonung des Zufalls in der Struktur führt zu einer zwar bewusst herbeigeführten, dennoch beinahe absoluten Bedeutungslosigkeit der Musik.
Dennoch, die Musik der Avantgarde wird paradoxerweise in ihrer Bedeutungslosigkeit bedeutungsvoll. Sie spricht eine vollkommen andere Sprache als die Tradition. Interessanterweise ist auch genau hier ein Teilziel der avantgardistischen Musik zu erkennen: eine deutlichere Sprache zu sprechen, verständlicher zu sein als das Tradierte – nicht nur in ihrer Ausführung, sondern auch in ihrer geschriebenen Form. Das Elitäre der Musik abzuwerfen und für jeden zugänglich zu sein.
Zu diskutieren oder gar zu klären, ob dieses Unterfangen gescheitert ist oder erfolgreich war, soll allerdings nicht Ziel dieses Essays sein. Vielmehr soll im Folgenden anhand des Stückes MO-NO – Musik zum Lesen von Dieter Schnebel der Frage nachgegangen werden, in wie fern und ob überhaupt Musik im literarischen Sinne lesbar sein kann.
2. MO-NO
MO-NO ist zunächst einmal ein Buch, weniger als es Musik sein kann, denn der Leser (oder der Interpret) hat keine Partitur vor sich, er wird keine Noten als solche zu lesen bekommen und dementsprechend keine mentale Repräsentation melodisch-harmonischer Musik erfahren, vielmehr ist MO-NO eine vielschichtige Vermengung verschiedener Möglichkeiten graphischer Notation.
MO-NO bricht dennoch auch mit den Konventionen des Buches: es ist nicht nur von hinten wie von vorne lesbar, auch ist der Leser nicht einer linearen Leserichtung verpflichtet. Desgleichen regt das Buch dazu an, Seiten zu überblättern und an einer beliebigen anderen Stelle weiterzulesen.
Man fühlt sich bei dem Studium des 1969 entstandenen Werkes nicht ganz zu Unrecht an die in Deutschland nur ein Jahr zuvor erschienene McLuhan’sche Gutenberg Galaxis erinnert.
Obgleich Hinweise auf einen direkten Zusammenhang der beiden Werke oder eine Lektüre Marshall McLuhans von Seiten Dieter Schnebels nirgends zu finden waren, scheint ein gedanklicher Zusammenhang jedoch nicht ganz unbegründet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 (Schnebel, 1969)
Während Marshall McLuhan beispielsweise Typographie und Sinnesempfindung interdependent zueinander denkt, löst sich Schnebel parallel dazu ganz bewusst von der traditionellen Notation von Musik, die, nicht nur in Hinblick auf Schrift, sondern auch in Bezug auf Form, festgelegte Denkweisen und Fühlweisen voraussetzt und damit auf einen beschränkten Rezipientenkreis verweisen würde, bzw. – andersherum gedacht – der Musik bereits im Vorweg eine bestimmte Erscheinung (Interpretationsweise) zuweisen würde. Genauso wenig allerdings, wie McLuhan letztendlich auf die Buchstabenschrift verzichtet, blendet Schnebel die Note als solche vollständig aus.
Wie Abbildung 2 sehr deutlich zeigt, wird in der abgebildeten Floskel aus MO-NO nicht gänzlich, aber dennoch beinahe vollständig auf den Verzicht eines linearen Verlaufs der hier lesbaren Musik verwiesen. Nicht gänzlich daher, da eine an Taktstriche erinnernde lineare Leseführung, angeregt durch die Taktzählung „21 – 22 – 23“ und den Hinweis auf den Abschnitt „D“ der scheinbaren Partitur, zwar durch den äußeren Rahmen angedeutet (auch die Gutenberg Galaxis wird schließlich zunächst „herkömmlich“ gelesen), aber durch die innerhalb dieses linearen Systems nichtlinear verlaufenden „Notenlinien“ gesprengt wird.
Was in dem Beispiel deutlich wird, ist der bereits erwähnte Ansatz, sich aus linearen Denkmustern, die, wie bei Marshall McLuhan der Schreibsprache inhärent sind oder, wie bei Schnebel, der traditionellen Notation innewohnen. herauszulösen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3 (McLuhan, 1967)
Das nicht nur kognitive, sondern auch gefühlt-gelebte Kontinuum, in dem wir uns bewegen, wird durch Typographie, graphische Notation oder Sprengen der Form zersplittert, sodass unsere Wahrnehmung in unterschiedliche Richtungen ausufern kann: ein neues Erleben von Musik soll dem Rezipienten so ermöglicht werden. Die „sensorische Symbiose“, die wir bei Marshall McLuhan in seinem 1967 veröffentlichen The Medium is The Message finden (vgl. Abbildung 3) wird auch in Dieter Schnebels MO-NO offenbar: der Versuch, mit den Augen zu hören, und mit den Ohren zu sehen. Dies wiederum setzt eine neue Schriftsprache voraus, eine, herausgelöst aus dem Erwartungshorizont des Lesenden. Denn nur durch das Überwinden der traditionellen (Noten-) Schrift ist ein vollkommen neuartiges Wahrnehmen, Empfinden, Lesen oder auch Hören überhaupt erst möglich.
[...]
- Quote paper
- Johanna Rebling-Schauber (Author), 2008, MO-NO: Musik zum Lesen. Der Versuch, Musik visuell-akustisch erfahrbar zu machen, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/214633