In nahezu allen Lebenssituationen werden Menschen mit unterschiedlichen Formen
von Verhandlungen konfrontiert. Neben Verhandlungen mit Freunden, Kollegen
und Familienmitgliedern, verbringen viele Arbeitsnehmer einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit in Geschäftsverhandlungen. Da sie als Vertreter von gewinnmaximierenden Unternehmen handeln, geraten sie häufig unter enormen Erfolgsdruck. Um den Erwartungen zu entsprechen, erscheint es vielen Manager lohnenswert, sich durch opportunistische und unfaire Verhaltensweisen einen Vorteil zu verschaffen. Eine aktuelle Studie aus dem Jahre 2010 untersuchte dazu das Verhalten von Doktoranten eines Verhandlungskurses in fiktiven Geschäftsverhandlungen. In knapp 94% wendete mindestens eine der Parteien unmoralische Verhandlungstaktiken an, in über 66% waren es sogar beide.
Dabei ist die ökonomische Vorteilhaftigkeit von unfairen und ethisch zweifelhaften Verhandlungsweisen in der Verhandlungsliteratur keineswegs unumstritten. Im Gegenteil, einige empirische Studien konnten bereits
nachweisen, dass faire Verhandlungsführer mindestens genauso gute Ergebnisse
erzielen, wie ihre unmoralischen Verhandlungspartner. Wie sollen sich Manager in
einem Spannungsfeld zwischen ihren persönlichen Moralvorstellungen und dem von
ihren Anspruchsgruppen geforderten Verhandlungserfolg verhalten, um erfolgreich
zu sein? Was bedeutet überhaupt Verhandlungsethik? Werden faire Verhandlungsführer ausgenutzt oder zahlt sich letztlich die Einhaltung einer gewissen Verhandlungsethik in der kurzen oder langen Frist auch ökonomisch aus? Die Untersuchung dieser Fragestellungen steht im Mittelpunkt der vorliegenden Seminararbeit.
Im ersten Teil der Arbeit wird geklärt, was unter Verhandlungen zu verstehen
ist und anhand welcher Ethikkriterien Verhandlungen bewertet werden können. Anschließend werden häufig verwendete Taktiken auf ihre ethische Legitimation untersucht. Das zweite Hauptkapitel stellt theoretische Verhandlungsansätze sowie ein Modell zur ökonomischen Bewertung von Verhandlungsstilen vor und identifiziert mögliche Einflussfaktoren und deren Auswirkungen auf die Bewertung. Im letzten Kapitel soll anhand einer Fallstudie, die Verhandlungen zwischen Pizza Hut und Hunt’s näher betrachtet, die Gültigkeit der theoretischen Konzepte für die Verhandlungspraxis überprüft werden.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlagen der Verhandlungsethik
2.1 Verhandlungsgrundlagen
2.2 Ethiktheorien zur Beurteilung von Verhandlungsweisen
2.3 Beurteilung moralisch zweifelhafter Verhandlungstaktiken
3. Zur ökonomischen Bewertung von Verhandlungsethik
3.1 Verhandlungsansätze zwischen Ethik und Macht
3.2 Ansatz zur ökonomischen Bewertung von Verhandlungsethik
3.3 Einflussfaktoren auf die Bewertung
4. Verhandlungsethik in der Praxis - Die Fallstudie Hunt’s
4.1 Ausgangssituation
4.2 Scanning
4.3 Monitoring
4.4 Forecasting
4.5 Assessment
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ökonomische Auswirkung verschiedener Verhandlungsstile
Abbildung 2: Handlungsalternativen und Management-Entscheidung von Hunt’s
Abbildung 3: Stakeholdergruppen der Management-Entscheidung
Abbildung 4: Verhandlungsziele der Stakeholder-Gruppen
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Grundregeln der Ethiktheorien
Tabelle 2: Beurteilung von ethisch zweifelhaften Verhandlungstaktiken
1. Einleitung
In nahezu allen Lebenssituationen werden Menschen mit unterschiedlichen Formen von Verhandlungen konfrontiert.1 Neben Verhandlungen mit Freunden, Kollegen und Familienmitgliedern, verbringen viele Arbeitsnehmer einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit in Geschäftsverhandlungen.2 Da sie als Vertreter von gewinnmaximie- renden Unternehmen handeln, geraten sie häufig unter enormen Erfolgsdruck. Um den Erwartungen zu entsprechen, erscheint es vielen Manager lohnenswert, sich durch opportunistische und unfaire Verhaltensweisen einen Vorteil zu verschaffen. Eine aktuelle Studie aus dem Jahre 2010 untersuchte dazu das Verhalten von Dok- toranten eines Verhandlungskurses in fiktiven Geschäftsverhandlungen.3 In knapp 94% wendete mindestens eine der Parteien unmoralische Verhandlungstaktiken an, in über 66% waren es sogar beide. Dabei ist die ökonomische Vorteilhaftigkeit von unfairen und ethisch zweifelhaften Verhandlungsweisen in der Verhandlungsliteratur keineswegs unumstritten. Im Gegenteil, einige empirische Studien konnten bereits nachweisen, dass faire Verhandlungsführer mindestens genauso gute Ergebnisse erzielen, wie ihre unmoralischen Verhandlungspartner.4 Wie sollen sich Manager in einem Spannungsfeld zwischen ihren persönlichen Moralvorstellungen und dem von ihren Anspruchsgruppen geforderten Verhandlungserfolg verhalten, um erfolgreich zu sein?5 Was bedeutet überhaupt Verhandlungsethik? Werden faire Verhandlungs- führer ausgenutzt oder zahlt sich letztlich die Einhaltung einer gewissen Verhand- lungsethik in der kurzen oder langen Frist auch ökonomisch aus? Die Untersuchung dieser Fragestellungen steht im Mittelpunkt der vorliegenden Seminararbeit.
Im ersten Teil der Arbeit soll geklärt werden, was unter Verhandlungen zu verstehen ist und anhand welcher Ethikkriterien Verhandlungen bewertet werden können. An- schließend werden häufig verwendete Taktiken auf ihre ethische Legitimation unter- sucht. Das zweite Hauptkapitel stellt theoretische Verhandlungsansätze sowie ein Modell zur ökonomischen Bewertung von Verhandlungsstilen vor und identifiziert mögliche Einflussfaktoren und deren Auswirkungen auf die Bewertung. Im letzten Kapitel soll anhand einer Fallstudie, die Verhandlungen zwischen Pizza Hut und Hunt’s näher betrachtet, die Gültigkeit der theoretischen Konzepte für die Verhand- lungspraxis überprüft werden.
2. Grundlagen der Verhandlungsethik
2.1 Verhandlungsgrundlagen
Aufgrund der Vielzahl von unterschiedlichen Verhandlungssituationen und ihren abweichenden Eigenschaften ist es sinnvoll, den Gültigkeitsbereich dieser Seminararbeit einzuschränken, um konkrete Aussagen über eine Verhandlungsethik ableiten zu können. Im Weiteren werden deshalb unter Verhandlungen nur solche verstanden, bei denen zumindest eine der verhandelnden Parteien im Auftrag eines Unternehmens handelt. Zu solchen Geschäftsverhandlungen gehören neben Verkaufs-, Übernahme- oder Akquisitionsverhandlungen auch beispielsweise Verhandlungen über Löhne oder die Budgetaufteilung zwischen Abteilungen.
Um den Verhandlungsbegriff weiter einzugrenzen, soll nun anhand von distinktiven Merkmalen eine geeignete Definition abgeleitet werden. Grundsätzlich finden Ver- handlungen zwischen zwei oder mehreren, voneinander unabhängigen Parteien statt, welche bei zumindest einem Verhandlungsgegenstand unterschiedliche Inte- ressen verfolgen.6 Durch divergierende Präferenzen der Verhandlungspartner be- züglich der Ausprägung verschiedener Verhandlungsgegenstände entsteht ein Inte- ressenkonflikt, der im Rahmen der Verhandlung durch einen kommunikativen Inter- aktionsprozesses gelöst werden soll.7 Die Verhandlungsparteien verfolgen also trotz unterschiedlicher Interessen das übergeordnete Ziel, durch den wechselseitigen Austausch von Zugeständnissen und Forderungen, eine gemeinsame Einigung er- zielen.8 Anders als beispielsweise in Gerichtsverhandlungen, in denen ein unab- hängiger Richter über das Ergebnis entscheidet, liegt die Entscheidungskompetenz dabei ausschließlich bei den Verhandlungsteilnehmern selbst. Eine austarierte Ver- handlungslösung wird also nur dann als Verhandlungsergebnis akzeptiert, wenn sie alle Verhandlungsteilnehmer besser stellt, als die ihnen sonst zur Verfügung ste- henden Alternativen.9 In der somit entstehenden Ergebnisspanne, versucht jeder Verhandlungsführer seinen Gewinnanteil zu vergrößern. Um einen möglichst maxi- malen Gewinn zu erreichen, muss die Verhandlung sowohl effektiv als auch effizient gestaltet werden. Unter Effektivität versteht man dabei einen möglichst hohen Ziel- erreichungsgrad, wogegen Effizienz auf einen ein möglichst geringen Ressourcen- einsatz bei der Zielerreichung abzielt.10
Unter Einbezug der beschriebenen Merkmale definieren VOETH/HERBST (2009) Verhandlungen wie folgt: „ Eine Verhandlung ist [ … ] der Prozess der Einigung ü ber ein oder mehrere Austauschobjekte zwischen Parteien mit zumindest teilweise unterschiedlichen Präferenzen, in dessen Verlauf die Parteien versuchen, die generell m ö gliche L ö sung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. “11
Bezüglich der Veränderlichkeit ihrer Gewinnsumme lassen sich Verhandlungen wei- ter unterscheiden.12 In distributiven Verhandlungen ist die Gewinnsumme fix und wird über den Interaktionsprozess zwischen den Verhandlungspartnern aufgeteilt. Steigert ein Verhandlungsführer durch geschickte Verhandlungstaktiken seinen ei- genen Gewinn, reduziert sich im Gegenzug der Gewinnanteil der übrigen Verhand- lungsteilnehmer. Besteht jedoch die Möglichkeit, die Gewinnsumme durch einen kommunikativen Austausch der Parteien zu erweitern, spricht man von einer integ- rativen Verhandlung. Den Ausgangspunkt für das integrative Potenzial einer Ver- handlung stellen Unterschiede bei der Bewertung von Verhandlungsbestandteilen sowie der Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse oder abweichende Zeit-, Risiko- oder Bezahlungspräferenzen dar.13 Darüber hinaus können die Verhand- lungspartner durch das Hinzunehmen oder Ausklammern von Gegenständen zur Verhandlungsmasse die Existenz eines integrativen Potenzials beeinflussen. So kann beispielsweise bei einem Maschinenverkauf neben dem Preis auch die Ver- antwortlichkeit für den Transport verhandelt werden. Verfügt das anbietende Unter- nehmen im Gegensatz zum Kunden über eine eigene Logistikabteilung, kann es durch das Angebot des Transportes einen zusätzlichen Gewinn realisieren.14 Gleichzeitig spart sich das nachfragende Unternehmen Kosten für einen externen Logistikpartner und kann trotz der Preissteigerung vom Hinzunehmen des Trans- ports zur Verhandlungsmasse profitieren. Das Beispiel zeigt, wie durch die Nutzung des integrativen Potenzials der Gesamtgewinn der Verhandlung vergrößert werden kann.
In der Verhandlungspraxis ist es jedoch häufig schwer, dieses Potenzial zu erken- nen. Viele Verhandlungsführer geraten deshalb beim Versuch das eigene Verhand- lungsergebnis zu optimieren in ein ethisches Dilemma und bedienen sich auch ethisch zweifelhafter Verhandlungstaktiken.15 Im nachfolgenden Kapitel soll unter- sucht werden, anhand welcher Ethikkriterien solche Verhandlungstaktiken moralisch beurteilt werden können.
2.2 Ethiktheorien zur Beurteilung von Verhandlungsweisen
Unter dem Begriff der Verhandlungsethik versteht man kein einheitliches Regelwerk, das den Verhandlungsführern vorgibt, welche Verhaltensweisen unmoralisch oder integer sind.16 Vielmehr besitzt jeder Verhandlungsführer eine individuelle Vorstel- lung darüber, welche Fairness-Standards von allen Teilnehmern befolgt werden sollten. Diese sind beispielsweise auch durch die kulturellen Herkunft eines Ver- handlungsführers oder seinen individuellen Erfahrungen geprägt. Darüber hinaus ist die subjektive, moralische Bewertung einer Verhandlungstaktik oftmals auch abhän- gig davon, ob sie der Verhandlungsführer selbst oder einer seiner Verhandlungs- partner anwendet.17 Treffen in einer bestimmten Verhandlungssituation Parteien mit unterschiedlichen Fairness-Standards aufeinander, wären also stets neue und spe- zifisch gültige „Regeln“ abzustecken. Für diese Arbeit erscheint es daher sinnvoll, allgemeine Ethikkriterien zur Beurteilung heranzuziehen. Unabhängig von subjekti- ven Einstellungen, kann dabei die Einhaltung gültiger Gesetze als ethischer Min- deststandard angesehen werden.18 Ebenso sollten möglicherweise vorhandene Ethikregeln des jeweiligen Berufsstandes, wie beispielsweise die „Rules of professi- onal Conduct“ der American Bar Association, unbedingt beachtet werden.19 Da eine moralische Verhandlungsweise zwar oftmals mehr, jedoch niemals weniger als die- se Vorgaben erfordert, werden zur Bewertung der Verhandlungstaktiken vier mo- derne Ethiktheorien herangezogen.20
Die Goldene Regel ist zugleich eine der ältesten sowie bekanntesten Verhaltens- richtlinien und lautet: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ oder als negativ formuliertes Sprichwort: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“21 Demnach sollen sich die Beteiligten einer Verhandlung mit ihrem Verhalten an moralische Grundsätze und Fairnessstandards halten, die sie sich auch für das Verhalten ihrer Verhandlungspartner erhoffen.22 Die Goldene Regel bildet darüber hinaus die Grundlage für KANT´S kategorischen Impe- rativ,23 nach dem Verhandelnde nur nach derjenigen Maxime handeln sollen, von welcher sie zugleich wollen, dass sie ein allgemeines Gesetz werden.24 Nach KANT ist ein moralkonformes Verhalten dabei nicht zwingend auch als ethisch einwand- freies Verhandeln anzusehen. Ein Verhandlungsführer, der nur zur Steigerung sei- nes eigenen Verhandlungsgewinnes (Eigennutz) moralisch verhandelt, wird dem kategorischen Imperativ noch nicht gerecht. Erst wenn dieser auch die Interessen der Verhandlungspartner unparteilich berücksichtigt, kann von moralischem Ver- handeln gesprochen werden. Tabelle 1 gibt die Grundaussagen der vier Ethiktheo- rien übersichtlich wieder.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Grundregeln der Ethiktheorien Quelle: REITZ / WALL / LOVE (1998), S. 7.
Beim ethischen Universalismus handelt es sich um eine weitere Ethiktheorie, die sich zur Beurteilung von Verhandlungstaktiken eignet.25 Der Universalismus geht davon aus, dass sich die moralische Richtigkeit des menschlichen Handelns a priori und somit vor Kenntnis der daraus resultierenden Folgen bewerten lässt. Da der Mensch nicht in der Lage ist die Resultate seiner Entscheidungen und Handlungen vollständig vorherzusehen, sollte eine Überprüfung der ethischen Konformität nur über die Art und Weise des Entscheidungsprozesses erfolgen. Damit eine Verhand- lungstaktik gemäß dem Universalismus als moralisch anzusehen ist, müssen drei ethisch Kriterien erfüllt werden: Zunächst muss die Entscheidung oder das Handeln den inhärenten Wert und die Würde aller an der Verhandlung teilnehmenden oder betroffenen Personen berücksichtigen. Menschen dürfen nicht als reines Mittel zum Zweck benutzt werden. Darüber hinaus müssen Verhandlungstaktiken für alle Men- schen in ähnlichen Situationen anwendbar sein. Sonderbehandlungen einzelner sind dagegen nicht erwünscht. Zuletzt sollten Entscheidungen, die nach dem Uni- versalismus als integer angesehen werden, mit allen weiteren moralischen Regeln des Universalismus konsistent sein.
Im Gegensatz zum Universalismus bewertet die Ethikkonzeption des Utilitarismus, welche im Wesentlichen auf dem Nützlichkeitsprinzip basiert, ein Handeln anhand des Resultates. Eine Verhandlungstaktik ist genau dann moralisch und somit als ethisch korrekt anzusehen, wenn sie unparteilich den höchsten Durchschnittsnutzen stiftet.26 Um mit Hilfe dieser Maxime eine Regel beurteilen zu können, hat Harsanyi in seinem Gleichwahrscheinlichkeitsmodell das Konzept eines „Schleiers des Nicht- wissens“ entwickelt.27 In diesem Gedankenexperiment kennt kein Individuum seine zukünftige Position und bekommt jede der möglichen Positionen mit einer gleich hohen Wahrscheinlichkeit zugewiesen.28 Bei der Bewertung einer Verhandlungstak- tik müssen deshalb die Konsequenzen von verschiedenen Handlungsalternativen für alle an der Verhandlung beteiligten Personen berücksichtigt werden. Eine Ver- handlungstaktik, die für die größte Anzahl von Personen den größten Nutzen stiftet, ist als integer anzuerkennen.
Auch für die Bewertung von Verhandlungstaktiken mit Hilfe der Gerechtigkeitsethik von Rawls wird einen „Schleier des Nichtwissens“ herangezogen. Dabei sollen alle betroffenen Parteien, gemeinsam in einem fiktiven Urzustand, die Regeln der Ver- handlung festlegen. In diesem Urzustand verfügen die Verhandelnden zwar über allgemeine Informationen bezüglich der Rahmenbedingungen, nicht jedoch darüber, welche Position die einzelnen Parteien einnehmen werden. Die Gerechtigkeitsethik geht davon aus, dass den Verhandelnden dadurch strukturell der Charakter von moralischen Personen zugewiesen wird und sie somit verallgemeinerungsfähige Regeln aufstellen können. In seinem Differenzierungsprinzip schlägt Rawls einen risiko-aversen Gerechtigkeitsgrundsatz vor, in dem soziale und ökonomische Un- gleichheiten für zulässig erklärt werden, wenn sie den größten zu erwartenden Vor- teil für die am wenigsten Begünstigten darstellen.29 Demnach wird aus unterschied- lichen Verhandlungsalternativen diejenige ausgewählt, deren schlechtmöglichstes Ergebnis die betroffene Verhandlungspartei besserstellt, als das jeder anderen. Das somit eingeräumte Vetorecht der Gruppe von am wenigsten Begünstigten stellt den größten Unterschied zum Utilitarismus von Harsanyi dar. Nach Harsanyi müssen alle Beteiligten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit für jede Position rechnen, wes- halb der Durchschnittsnutzen aller, nicht jedoch der Nutzen einer bestimmten Grup- pe zu maximieren ist.30
Welche der Konzeptionen sich für die Verhandlungsbeurteilung am besten eignet, hängt von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Verhandlung ab. Während sich der Utilitarismus beispielsweise besonders für Verhandlungen mit wenigen Parteien und einfach vorherzusehenden Folgen eignet, kann der Universalismus auch bei komplexen Verhandlungssituationen mit vielen Parteien herangezogen werden.31
2.3 Beurteilung moralisch zweifelhafter Verhandlungstaktiken
In den meisten Geschäftsverhandlungen stehen Verhandlungsführer unter dem Druck, ein möglichst maximales Verhandlungsergebnis für ihr Unternehmen errei- chen zu müssen. Dazu steht ihnen eine große Anzahl an unterschiedlichsten Takti- ken zur Verfügung. Viele der häufig eingesetzten Verhandlungstaktiken stehen je- doch im Verdacht, den in Kapitel 2.2 erläuterten Ethiktheorien zu widersprechen und sind daher als ethisch fragwürdig anzusehen.32 Nachfolgend soll überprüft werden, welche dieser Verhandlungstaktiken tatsächlich unmoralisch sind und welche be- denkenlos anwendbar sind.
Unter einer Lüge versteht man die Aussage eines Verhandlungsführers, welche im Widerspruch zu seinem Wissen oder Glauben steht.33 Lügen werden in Verhand- lungen eingesetzt, um die Verhandlungspartner in Bezug auf die eigenen Werte, Ziele oder Absichten sowie mögliche Einschränkungen zu täuschen. Die Erwähnung eines nicht existenten Alternativangebotes kann als ein Beispiel der Verhandlungs- taktik „Lügen“ herangezogen werden. Gemäß der Goldenen Regel lässt sich Lügen ethisch nicht rechtfertigen, da sich kein Verhandlungsführer wünscht, von seinem Gegenüber belogen zu werden. Auch die oft getroffene Ausnahme, dass Lügen legi- tim sei, wenn es die einzige Möglichkeit darstellt einen größeren Schaden abzu- wenden, ändert dies nicht. Da Manager wohl hauptsächlich zur eigenen Gewinnma- ximierung lügen, bleibt die Verhandlungstaktik nach der Goldenen Regel abzuleh- nen. Auch aus Sicht des Universalismus gilt lügen als nicht moralische Taktik. So legt beispielweise Kant dar, dass die Ehrlichkeit ein unverzichtbarer Bestandteil ge- genüber der inhärenten Würde eines jeden Menschen ist.34 Ein lügender Verhand- lungsführer würde daher gegen eine der hier dargelegten Grundregeln des Univer- salismus verstoßen und somit unethisch verhandeln. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Beurteilung unter dem utilitaristischen Schleier des Nichtwissens. Auf den ersten Blick kann eine Lüge zwar den Nutzen eines Verhandlungspartners erhöhen, dem steht jedoch eine Nutzensenkung des belogenen Verhandlungsführers entge- gen. Da jedoch zusätzlich weitere Nutzeneinbußen wie beispielsweiße zähe Folge- verhandlung oder gar der Verhandlungsabbruch folgen können, kann eine Steige- rung des Durchschnittsnutzens durch Lügen ausgeschlossen werden.35 Auch nach der Gerechtigkeitsethik handelt es sich beim Lügen um eine ethisch verwerfliche Verhandlungstaktik. Unter der Annahme eines Vetorechts der am wenigsten Be- günstigten, also den Belogenen, lässt sich eine solche Taktik in Verhandlungen nicht rechtfertigen, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelehnt werden würde. Bei einer Übertreibung versucht ein Verhandlungsführer den Wert des Verhand- lungsobjektes wider besseres Wissens zu groß oder zu klein darzustellen, um seine relative Verhandlungsmacht zu stärken.36 Ein gängiges Beispiel von Übertreibungen der Verhandlungspraxis ist das Anführen von Alternativangeboten, deren genannter Wert das tatsächlich existierende Angebot überschreitet (Zum Beispiel die Aussage „Mir liegt ein Kaufgebot der Firma XY von über 5000€ für das Produkt vor.“, wenn- gleich das Kaufgebot lediglich 2000€ beträgt.). Ein Verhandlungspartner wird somit dem Druck ausgesetzt, sein Kaufangebot ebenfalls auf mindestens 5000€ zu erhö- hen. Auch wenn sich der Verhandlungsführer bei einer Übertreibung auf eine grund- sätzlich wahre Informationen stützt, handelt es sich um eine Verfremdung der Wahrheit und somit lediglich um einen Euphemismus für Lügen.37 Die Überprüfung anhand der vier Ethikkonzeptionen ergibt deshalb auch hier keine ethische Legiti- mation für Übertreibungen in Verhandlungen.
Unter einer bewussten Täuschung versteht man den Versuch, die logischen und schlussfolgernden Prozesse des Verhandlungspartners zu manipulieren und ihn so zu falschen Schlussfolgerungen über die eigenen Absichten oder zukünftige Taten zu verleiten.38 Dazu zählen beispielsweise falsche Aussagen oder Drohungen über das zukünftige Verhalten, den Verhandlungsgegenstand oder die Verhandlungspo- sition.39 Da es sich letztlich auch hier um eine besondere Form des „Lügens“ han- delt, muss auch die bewusste Täuschung nach einer moralischen Beurteilung abge- lehnt werden: Kein Verhandlungsführer möchte selbst getäuscht werden, weshalb das Kriterium der Goldenen Regel nicht erfüllt werden kann. Da das bewusste Täu- schen auch die Würde des Verhandlungspartners nicht respektiert und nicht den größten Nutzen für die größte Anzahl an Verhandelnden stiftet, kommt eine Über- prüfung anhand des Universalismus und des Utilitarismus zum gleichen Ergebnis.40 Dennoch wird das bewusste Täuschen in vielen Beiträgen als festen Bestandteil von Verhandlungen angesehen und als zielführend empfohlen.41
[...]
1 Vgl. VOETH / HERBST (2009), S. 5.
2 Vgl. LEWICKI / STARK (1996), S. 70.
3 Vgl. VOLKEMA / FLECK / HOFMEISTER (2010), S. 270ff.
4 Vgl. dazu bspw. die Untersuchung von BANAS / PARKS (2002) unter 136 MBA Studenten.
5 Vgl. CRAMTON / DEES (1993), S. 360.
6 Vgl. LEWICKI/ROBINSON (1998), S. 5.
7 Vgl. hier und im Weiteren ERBACHER (2010), S. 22ff.
8 Vgl. BANAS/PARKS (2002), S. 237.
9 Vgl. LAX/SEBENIUS (1986), S. 11.
10 Vgl. ERBACHER (2010), S. 26f.
11 VOETH/HERBST (2009), S. 5
12 Vgl. dazu bspw. GIBSON (1994), S. 374ff.
13 Vgl. WETLAUFER (2004), S. 34ff.
14 Vgl. VOETH/HERBST (2009), S. 126.
15 Vgl. BARRY/ROBINSON (2002), S. 137.
16 Vgl. SHELL (2004), S. 58.
17 Vgl. TSAY/BAZERMAN (2009), S. 474f.
18 Vgl. WHEELER (2004), S. XLII
19 Vgl. BURR (2001), S. 11.
20 Vgl. dazu im folgenden Abschnitt REITZ/WALL/LOVE (1998).
21 Vgl. dazu beispielsweise Die Bibel, Tobias 4,16 (Lutherbibel von 1545).
22 Vgl. REITZ/WALL/LOVE (1998), S. 7.
23 Vgl. hier und weiter SCHRAMM, Skript zur Vorlesung „Management-Ethik“ SS 2011, F. 49ff.
24 Vgl. KANT (1974), S. 51.
25 Vgl. hier und im Weiteren REITZ/WALL/LOVE (1998), S. 7.
26 Vgl. SANDEL (2009), S. 34f.
27 Vgl. dazu HARSANYI (1976).
28 Vgl. SCHRAMM (2004), S. 5.
29 Vgl. RAWLS (1993), S. 382f.
30 Vgl. SCHRAMM (2004), S. 9.
31 Vgl. REITZ/WALL/LOVE (1998), S. 8.
32 Vgl. BURR (2001), S. 10.
33 Vgl. REITZ/WALL/LOVE (1998), S. 6
34 Vgl. KANT (1973), S. 429f.
35 Vgl. REITZ/WALL/LOVE (1998), S. 9.
36 Vgl. REITZ/WALL/LOVE (1998), S. 6
37 Vgl. HERBST/VOETH (2008), S. 139.
38 Vgl. LEWICKI/STARK (1996), S. 77.
39 Vgl. CRAMTON/DEES (1993), S. 363 ff.
40 Vgl. dazu bspw. auch BOK (2004), S. 80.
41 Vgl. bspw. SHELL (2004) oder CARR (1968).