Verwandlungen sind seit jeher ein Sujet, das den Menschen immer stark interessierte. Dabei variieren die Herangehensweisen an das Thema sowie an das tatsächliche Phänomen ebenso wie die Erscheinungsformen dessen, was man zusammenfassend unter Metamorphosen versteht. Die Entwicklung einer Raupe hin zu einem Schmetterling empfindet man als faszinierend, wohingegen der Verwandlung eines konservativen, bürgerlich angepassten Menschen ins Anarchistische mit Abscheu und Skepsis begegnet wird. Das durch Eigeninitiative herbeigeführte Umformen des Phänotyps oder auch des Charakters, der Angewohnheiten und dergleichen, erleben wir als angenehm und beachtenswert. Die willenlose beziehungsweise gar ungewollte Transformation hingegen versetzt uns in Schaudern und schreckt ab.
Bei der Auseinandersetzung mit Verwandlungen jedweder Art befindet man sich automatisch in einem Zustand, der stetig zwischen Faszination und Abscheu pendelt. Einerseits lockt jenes vielseitige Phänomen mit seinem Facettenreichtum und der imponierenden Grenzüberschreitung; andererseits symbolisiert es auch eine Gefahr, nämlich durch die Bedrohung und Veränderung des Bekannten, des Anerkannten und Akzeptierten.
Gerade darin liegt wohl der abschreckende Zauber von Verwandlungen, dass sie den Beobachter und/oder den Verwandelten der Zeit entheben und einen fließenden Übergang mehrerer, konturenloser Zustände implizieren. Eine konkrete Fixierung der zahlreichen Einzelstadien und Verlaufsmomente ist während eines solchen Prozesses unmöglich, gleich ob man die Verwandlung nun selbst erleben sollte oder ob man als Außenstehender einen objektiveren Blick auf die Ereignisse behaupten kann.
Unter dem Punkt ‚Verwandlung als psychologisches Phänomen‘ soll ein kurzer Einblick in die psychologischen Grundlagen gegeben werden. Aufgrund der Fülle der unterschiedlichen Theorien im Bereich der psychischen Verwandlungen als Krankheitsbild werden zwar viele Abhandlungen in meine Betrachtung einfließen, jedoch werde ich den Fokus auf bestimmte Perspektiven legen, die für meine Untersuchungen als geeignetes Analyseinstrument dienlich sind. Dieses Kapitel soll die nachfolgenden Untersuchungen von Verwandlungsdarstellungen in der Literatur untermauern und gewissermaßen verständlicher machen.
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Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
2.1 VON NEUROSEN UND PSYCHOSEN: Die Verwandlung als psychologisches Phänomen
2.2 VON DICHTERN UND GEDICHTETEN: Die Verwandlung als literarisches Motiv
3. LITERARISCHE VERWANDLUNGEN
3.1 DAS TIER IN UNS: Verwandlungen in der Epik
3.1.1 Franz Kafkas Käfer .
3.1.2 Carlos Ruiz Zafóns Schmetterling
3.2 AUSBRUCH DER IDENTITÄTSLOSEN: Verwandlungen in der Dramatik
3.2.1 Die späte Einsicht der Nora von Henrik Ibsen
3.2.2 Die Ohnmacht des Graf Öderland von Max Frisch
3.3 REIFEN UND ALTERN: Verwandlungen in der Lyrik
3.3.1 Die Stufen des Hermann Hesse
3.3.2 Die Identität der Hilde Domin
4. FAZIT
5. LITERATURVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
Der Mensch ist ein sich verwandelndes Wesen.
Was wäre seine Geschichte anderes als eine Verwandlung?[1]
Verwandlungen sind seit jeher ein Sujet, das den Menschen immer stark interessierte. Dabei variieren die Herangehensweisen an das Thema sowie an das tatsächliche Phänomen ebenso wie die Erscheinungsformen dessen, was man zusammenfassend unter Metamorphosen versteht. Die Entwicklung einer Raupe hin zu einem Schmetterling empfindet man als faszinierend, wohingegen der Verwandlung eines konservativen, bürgerlich angepassten Menschen ins Anarchistische mit Abscheu und Skepsis begegnet wird. Das durch Eigeninitiative herbeigeführte Umformen des Phänotyps oder auch des Charakters, der Angewohnheiten und dergleichen, erleben wir als angenehm und beachtenswert. Die willenlose beziehungsweise gar ungewollte Transformation hingegen versetzt uns in Schaudern und schreckt ab.
Bei der Auseinandersetzung mit Verwandlungen jedweder Art befindet man sich automatisch in einem Zustand, der stetig zwischen Faszination und Abscheu pendelt. Einerseits lockt jenes vielseitige Phänomen mit seinem Facettenreichtum und der imponierenden Grenzüberschreitung; andererseits symbolisiert es auch eine Gefahr, nämlich durch die Bedrohung und Veränderung des Bekannten, des Anerkannten und Akzeptierten.
Die Darstellung von Metamorphosen ist die Darstellung von Übergängen: nicht von einem einzigen Gegenstand oder Zustand, sondern von mehreren, die einander folgen, nicht von Gleichartigem also, sondern von Verschiedenem, nicht von einzelnen Momenten, sondern von Verläufen.[2]
Gerade darin liegt wohl der abschreckende Zauber von Verwandlungen, dass sie den Beobachter und/oder den Verwandelten der Zeit entheben und einen fließenden Übergang mehrerer, konturenloser Zustände implizieren. Eine konkrete Fixierung der zahlreichen Einzelstadien und Verlaufsmomente ist während eines solchen Prozesses unmöglich, gleich ob man die Verwandlung nun selbst erleben sollte oder ob man als Außenstehender einen objektiveren Blick auf die Ereignisse behaupten kann.
Unter dem Punkt ‚Verwandlung als psychologisches Phänomen‘ soll ein kurzer Einblick in die psychologischen Grundlagen gegeben werden. Aufgrund der Fülle der unterschiedlichen Theorien im Bereich der psychischen Verwandlungen als Krankheitsbild werden zwar viele Abhandlungen in meine Betrachtung einfließen, jedoch werde ich den Fokus auf bestimmte Perspektiven legen, die für meine Untersuchungen als geeignetes Analyseinstrument dienlich sind. Dieses Kapitel soll die nachfolgenden Untersuchungen von Verwandlungsdarstellungen in der Literatur untermauern und gewissermaßen verständlicher machen.
In der Literatur findet man zahlreiche Entwürfe, Betrachtungen und Auseinandersetzungen mit diesem einen Thema, und dennoch ist die Diversität bezüglich der Behandlung und Reflexion so enorm, „dass es schwer fällt ein gemeinsames Grundprinzip der Darstellung zu bestimmen oder gar ein konkretes und verbindendes thematisches Interesse aus ihnen herauszulesen.“[3] Dennoch soll genau dies das Ziel meiner Arbeit sein. Obgleich klar ist, dass angesichts des begrenzten Umfangs, der diese Ausführungen unterliegen, kein Anspruch auf Vollständigkeit und Allumblick erhoben werden kann, soll doch versucht werden, zumindest in Ansätzen Parallelen in der Beschäftigung mit dem Phänomen, in der Darstellung des Vollzugs und der Art der Metamorphose herauszukristallisieren und zu analysieren. Dabei wird die klassische Dreiteilung literarischer Werke in Epik, Dramatik und Lyrik als Grundgerüst für meine Untersuchungen dienen. Pro Gattung sollen zwei exemplarische Texte vorgestellt werden, wobei der erste genauer studiert wird, der zweite als Stütze oder aber als Gegenbeispiel dazu auftritt. Dies ist zum einen notwendig, um den Rahmen der Arbeit einzuhalten und zum anderen von Vorteil, da der komparatistische Aspekt differente Erkenntnisse erwarten lässt.
Was die Textauswahl belangt, sollen weit verbreitete und durchaus bekannte Werke im Vordergrund stehen, um die Auseinandersetzung möglichst vieler Leser mit den dargestellten Ereignissen zu gewährleisten. Dadurch wird nicht nur ein (eingeschränkter) Blick in die Gedanken des Autors sowie ein (umfassender) Einblick in die Psyche der Protagonisten ermöglicht, sondern auch ein Überblick darüber geschaffen, wofür sich die Leser interessieren. Des Weiteren wird der Schwerpunkt bewusst auf die epischen Texte gelegt, da diese für die Untersuchung der Verwandlungsdarstellung am greifbarsten und ergiebigsten erscheinen. Dennoch wird versucht, das Gleichgewicht zu den anderen literarischen Textgattungen zu wahren.
Im Vordergrund der Arbeit soll die Frage stehen, wie und warum sich die ausgewählten literarischen Werke mit dem Motiv der Verwandlung befassen. Gibt es gewisse wiederkehrende Muster, die eine Metamorphose auslösen, provozieren oder aufhalten können? Wie wird das Phänomen dargestellt - als natürlicher Veränderungsprozess oder als abartiges Horrorszenario? Wie gehen die unterschiedlichen Protagonisten mit der neuen Situation um und wie reagiert das gesellschaftliche Umfeld? Können daraus eventuell bestimmte Muster abgeleitet werden, die stellvertretend für alltäglichere Ereignisse stehen könnten?
2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
2.1 VON NEUROSEN UND PSYCHOSEN: Die Verwandlung als psychologisches Phänomen
Begriffe wie Neurose, Psychose und Schizophrenie sind zwar vielen Menschen bekannt, jedoch nicht ihre tatsächliche Bedeutung inklusive der Ursachen und Erscheinungsformen. Dies liegt nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass es eine Fülle an divergierenden Theorien im Bereich der Psychologie zu den einzelnen Phänomenen gibt.[4] Im Folgenden soll eine kurze Einführung in das aktuelle Verständnis über diese Krankheitsbilder gegeben werden, wodurch eine Grundlage für die anschließenden Ausführungen zum Motiv der Verwandlung in der modernen Literatur geschaffen werden soll. Dabei wird der Schwerpunkt in diesem Kapitel auf die Neurosen gelegt, da diese für die weiteren Untersuchungen am interessantesten und gehaltvollsten erscheinen.
Einige Symptome von Neurosen treffen ebenso auf Psychosen zu, wie beispielsweise der Realitätsverlust beziehungsweise extreme Störungen der Wahrnehmung in Form von Halluzinationen oder auch Verhaltensstörungen, die sich negativ auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der Patienten auswirken.[5] Dementsprechend werde ich mich im Folgenden auf die Ursachen der beiden unterschiedlichen Erkrankungen konzentrieren, um sie bestmöglich von einander zu unterscheiden.
Der Begriff Psychose wurde als „allgemeine Bezeichnung psychischer Krankheiten eingeführt“[6] und erhielt erst durch die Psychiater Emil Kraepelin und Eugen Bleuler eine systematische Spezifizierung und Unterteilung in „manisch-depressives Irresein, Schizophrenie und Epilepsie“[7]. Heute unterscheidet man organische von nicht-organischen Psychosen, wobei die Ursachen für die erste Gruppe „in strukturellen pathologisch-anatomisch [beziehungsweise] organisch ausgelösten reversiblen Veränderungen des ZNS [Zentral nerven s stem] z.B. als Folge von Hirntumoren, Intoxikationen, Infektionen, Epilepsie oder endokrinen Störungen“[8] zu sehen sind. Im Bereich der nicht-organischen Psychosen wird derzeit noch Ursachenforschung betrieben. Vermutet werden jedoch zum einen eine Schwächung der individuellen Belastungsgrenze aufgrund diffiziler Defekte im psychischen, physischen und sozialen Bereich, sowie zum anderen Störungen des Stoffwechsels und der Neurotransmitter.[9] Die Schizophrenie zählt zu den Psychosen und stellt „eine der schwersten psychischen Störungen [dar], die Verhalten, Denken und Emotionen betrifft“[10]. Auch hier liegt dem Krankheitsbild eine organische Störung zu Grunde, wobei diese noch nicht ausreichend erforscht ist. Die Theorien zur Ursache einer schizophrenen Erkrankung reichen von „Selbstvergiftung des Körpers, Insuffizienz der Geschlechtsdrüsen“[11] über biochemische Faktoren hin zu einer Ich-Schwäche, die bereits in früher Kindheit bestand und sich im Laufe des Erwachsenwerdens weiter ausgebildet hat.[12]
Zusammenfassend kann also an diesem Punkt festgehalten werden, dass sich psychotische Erkrankungen und insbesondere die Form der Schizophrenie nach aktuellem Forschungsstand auf organische Störungen zurückführen lassen. Dies ist einer der wichtigsten Abgrenzungspunkte zu dem Krankheitsbild der Neurosen und für die weiteren Untersuchungen insofern von Bedeutung, als dass die Verwandlungsdarstellungen in der Literatur meist ohne einen solchen organischen Befund auftreten. Dementsprechend kann, soweit man in einzelnen Fällen der literarischen Texte die dargestellten Metamorphosen unter anderem auch als Konsequenz einer psychischen Erkrankung sieht, davon ausgegangen werden, dass dem jeweiligen Protagonisten eher eine Neurose unterstellt werden könnte als eine psychotische Störung.
Bei der Neurose handelt es sich um „eine seelische bzw. psychosozial bedingte Gesundheitsstörung ohne nachweisbare organische Grundlage.“[13] Eine einheitliche Definition und einen festen ‚Symptomkatalog‘ sucht man in Bezug auf diese Erkrankung vergebens. Jedoch gibt es einige Kriterien, die immer wieder aufgelistet werden, wenn es darum geht, eine Neurose zu diagnostizieren. Dabei handelt es sich unter anderem um Arbeitsunfähigkeit infolge überwältigender Gefühlszustände, Wahrnehmungsstörungen in Form von Halluzinationen, Depersonalisierung, selbstzerstörerische Handlungen sowie Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen und ein allgemeines Gefühl von mangelnder Freiheit.[14] Je mehr der Kriterien in einem Fall, bei einer Person zutreffen, umso schwerwiegender ist der Grad der Neurose. Diese Aspekte sind besonders interessant für die weiteren Untersuchungen, insbesondere für die Analyse von Franz Kafkas Die Verwandlung.
Aus psychologischer Sicht sind Neurosen ein unbewusster Widerstand und die neurotischen Symptome lediglich Äußerungen psychodynamischer Konflikte. Dagegen werden von verhaltenstherapeutisch orientierten Autoren die neurotischen Konflikte selbst in den Vordergrund gestellt und als gelernte Fehlsteuerungen interpretiert. Gemeinsam gilt ihnen Neurose als Nichtbewältigen fundamentaler Lebensaufgaben.[15]
Des Weiteren geht man davon aus, dass Neurosen als späte oder verzögerte Auseinandersetzung unverarbeiteter Traumata aus der Vergangenheit auftreten. Diese können bis in die Kindheit zurückreichen oder auch nur einen kurzen Zeitabstand zwischen Trauma und Ausbruch der Neurose beinhalten. Häufig kommt es bei Neurosepatienten vor, dass sie die Erlebnisverarbeitung dergestalt verweigern, dass sie sich „an das Magische klammern“[16] und „in eine Welt der Phantasien als Schutz vor der traumatischen Realität [ihrer] Kindheit [flüchten]“[17]. Wenn man von der verweigerten oder verzögerten Auseinandersetzung mit dem Trauma der Vergangenheit eines Neurosepatienten spricht, muss zugleich klar sein, dass es sich hierbei in den wenigsten aller Fälle um einen aktiven Prozess der Verdrängung handelt.
Es geht vielmehr um die vorherrschenden, durch Traumata verursachten Affekte und Wünsche und die damit erstehenden inneren Konflikte, die nur ganz allmählich in Worten ausgedrückt werden können und zuvor weitgehend unbewußt geblieben sind.[18]
In Fällen schwerer Neurosen kann der Krankheitsverlauf bis hin zur Selbstspaltung führen. Wenn es innere Konflikte gibt, die sich auf das eigene Wertesystem oder Gewissen beziehen, kann sich ein Teil der Persönlichkeit ‚ablösen‘ und sich gegen die innere Autorität auflehnen beziehungsweise versuchen, vor ihr zu fliehen. Häufig nehmen Patienten in diesem Stadium eine Doppelidentität an, wobei „die zeitweilige Verwirklichung der einen Identität […] die Verleugnung ihres Gegenspielers [erfordert]“[19].
2.2 VON DICHTERN UND GEDICHTETEN: Die Verwandlung als literarisches Motiv
Jede Gestalt der Literatur ist immer
auch eine Maske ihres Schöpfers […][20]
Verwandlungen findet man in der Literatur auf vielen Ebenen. Angefangen bei dem schöpferischen Prozess der Gedankenverwandlung des Schriftstellers zu einem literarischen Text eröffnen sich bereits hier mehrere Aspekte, denen die Eigentümlichkeit einer Transformation zugesprochen werden kann. Zunächst einmal erfolgt eine Verwandlung der innersten Gedanken und Empfindungen des Dichters zu einer für ihn akzeptablen schriftlichen Form, die er der Öffentlichkeit präsentieren möchte. Die Arbeit im Kopf zur Arbeit auf dem Papier ist ein überaus komplexer Vorgang, der viele Stufen der Umgestaltung durchläuft. Beachtung fanden derartige Überlegungen bereits bei Jean Paul und Elias Canetti. Jean Paul sprach dem Dichter die Fähigkeit zur Artikulation der Menschheit zu[21] und Elias Canetti begreift die schriftstellerische Tätigkeit gar als „Freisetzung aus der Sprachlosigkeit oder als Erlösung aus dem Käfig einer einengenden, formelhaften, ausdrucksarmen und entstellenden normierten Sprache“[22]. Es findet also nicht nur eine Verwandlung der persönlichen Gedanken des Autors hin zu einem öffentlich zugänglichen (Gesprächs-)Stoff statt, sondern im gleichen Zuge auch eine Metamorphose von sprachlosen Ideenkonstrukten zu literarisch wertvollen Texten, wobei letztere nur von wenigen Exemplaren der Menschheit geschaffen werden können.[23] Canetti spricht vom Dichter als der „Hüter der Verwandlung“[24], wobei er diese Bezeichnung nicht einzig auf den bereits angesprochenen Aspekt der Versprachlichung des menschlichen Daseins bezieht, sondern auch auf die Ebene der Aufbewahrung und Überarbeitung alter, längst verloren geglaubter Verwandlungsgeschichten. Dies geschieht (aktiv oder passiv), indem „er sich das literarische Erbe der Menschheit zu eigen machen [wird], das an Verwandlungen reich ist.“[25] Canetti erklärt, dass sich Dichter, die über Verwandlungen geschrieben haben und schreiben - „diesen eigentlichsten und rätselhaftesten Aspekt des Menschen“[26] - immer an zwei Werken der Antike orientierten und dies weiterhin tun: Ovids Metamorphosen und Die Odyssee. Das Rückerinnern an alte Stoffe und die Neubearbeitung jahrtausendealter Geschichten machen den Dichter damit einmal mehr zu einem „Hüter der Verwandlungen“[27].
Auf einer anderen Ebene findet man den Verwandlungsaspekt des Dichters in seiner Reaktion auf die leistungsorientierte Welt, nämlich in seiner Fähigkeit, in jede erdenkliche Rolle zu schlüpfen.
In einer Welt, die auf Leistung und Spezialisierung angelegt ist […] in einer Welt, die die Verwandlung mehr und mehr verbietet, weil sie dem Allzweck der Produktion entgegenwirkt […] scheint es von geradezu kardinaler Bedeutung, daß es welche gibt, die diese Gabe der Verwandlung ihr zum Trotz weiter üben. Dies, meine ich, wäre die eigentliche Aufgabe der Dichter. Sie sollten […] die Zugänge zwischen den Menschen offenhalten. Sie sollten imstande sein, zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten.[28]
Canettis Auffassung ist es, dass nur durch das Einfühlen oder vielmehr durch das tatsächliche Verwandeln in einen anderen Menschen „ein wahrer Zugang“[29] zu diesem hergestellt werden kann. Dementsprechend ist es von enormer Bedeutung für den Schriftsteller, sein Werk und den Leser, dass ihm - also dem Dichter - eine tiefgreifende Leidenschaft der Verwandlung innewohnt. Diese Theorie wird in Bezug auf Carlos Ruiz Zafóns Marina noch eine Rolle spielen und folglich an anderer Stelle nochmals aufgegriffen werden.
Die Geschichte der literarischen Auseinandersetzung mit der Verwandlungsthematik ist umfassend und traditionsreich. Angefangen bei antiken Werken wie Ovids Metamorphosen kann man eine Linie über unzählige Texte ziehen, die sich bis heute mehr oder weniger offensichtlich mit Verwandlungen beschäftigen und diese in irgendeiner Art thematisieren. Es soll an dieser Stelle keineswegs versucht werden, einen allumfassenden Überblick über literarische Verwandlungen im engeren oder weiteren Sinn zu geben. Lediglich sollen einige Werke hervorgehoben werden, die sich als wegweisend im Umgang mit Verwandlungen in der Literatur erwiesen. Dazu zählt unter allen Umständen der bereits mehrfach erwähnte Ovid, der in seinen Metamorphosen rund zweihundertfünfzig Geschichten sammelte, die sich alle individuell mit dem Motiv der Verwandlung beschäftigen und in ihrer Gesamtheit ein Almanach über die Verwandlung von Chaos in Ordnung sowie über die Vielgestaltigkeit des Lebens ergeben.[30] Hervorzuheben bei Ovids Verwandlungsdarstellungen ist die Tatsache, dass ein Großteil der aufgezeigten Metamorphosen durch heftige Emotionen verursacht werden beziehungsweise die menschlichen Leidenschaften „maßgeblich für deren Tun - und prägend für ihre Verwandlungen“[31] sind.
Eine wichtige Urkraft, die bei Ovid die Wege der Menschen und Götter bestimmt, ist die Liebe (amor). Sie führt zu den mannigfachsten Verwandlungen, teils, indem dabei Liebende zusammengeführt werden, teils, indem sie gerade durch ihre Verwandlung getrennt werden.[32]
Anders verhält es sich später in volkstümlichen Erzählungen und Märchen, in denen Verwandlungen häufig in Form von Degradationen auftreten[33], wie beispielsweise die Verwandlung eines Königs in einen Frosch[34], wobei - ähnlich Ovids Metamorphosen - starke Emotionen als Ursache für Verwandlungsprozesse identifiziert werden können. Jedoch ist die häufigste Leidenschaft in diesem Fall nicht etwa die Liebe sondern vielmehr Neid und Hass, die die böse Hexe oder ähnlich dämonisierte Wesen dazu treiben, das Objekt ihrer Emotion zu verwandeln.
Eine Verwandlung auf psychischer Ebene findet man dagegen in William Shakespeares Hamlet, das mit dem Erscheinungsjahr von 1601 wohl eines der ersten literarischen Werke darstellen dürfte, welches sich mit dem inneren Aspekt des Motivs beschäftigt.
Das erste dieser modernen Dramen ist der Hamlet. Es behandelt das Thema, wie ein bisher normaler Mensch durch die besondere Natur der ihm gestellten Aufgabe zum Neurotiker wird, in dem eine bisher glücklich verdrängte Regung sich zur Geltung zu bringen sucht.[35]
Der moderne[36] Literaturmarkt ‚gebiert‘ beziehungsweise produziert immer mehr Texte, die sich aktiv oder passiv, direkt oder indirekt mit dem Motiv der Verwandlung beschäftigen. Dabei hat sich das Interesse an der Thematik nicht nur im quantitativen, sondern ebenso im qualitativen Sinne verändert. In der modernen Literatur wird Verwandlung nicht länger beziehungsweise nicht mehr vordergründig als etwas Zufälliges oder Schicksalhaftes betrachtet und dargestellt, „sondern als Produkt von Entwicklung und Fortschritt“[37].
Seit dem 19. Jahrhundert hat die literarische Phantasie eine Vielzahl von Figuren hervorgebracht, deren wichtigste Eigenart ihre Wandelbarkeit ist. Als Erscheinungen im Übergang, als Wesen ohne feststellbare Identität und ohne Eigenschaften haben einige von diesen eine Popularität gewonnen, die an die mythischer Helden erinnert.[38]
Zu solch populären Verwandlungsgeschichten gehören zweifelsohne Lewis Carrolls Alice’s adventures in wonderland sowie Robert Louis Stevensons Strange case of Dr Jekyll and Mr Hyde. Beide Werke wurden vielfach in unterschiedlichsten Bereichen inszeniert: von der Theaterbühne über die Musicalaufführung hin zu zahlreichen Verfilmungen. Dies allein zeigt bereits das starke Interesse des Publikums wie auch der beteiligten Künstler an dem Motiv der Verwandlung, das in beiden Werken äußerst vordergründig und offensichtlich behandelt wird. Während man in der Figur der Alice eine Bestätigung der Theorien Canettis findet, erweist sich die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde als Erprobung der psychologischen Theorien im literarischen Gebiet. Der Text über Alices Erlebnisse im Wunderland überflutet den Leser geradezu mit den unterschiedlichsten Verwandlungsmotiven, wenn beispielsweise die stetig als labil reflektierte Protagonistin auf dem Gipfel ihrer Selbst- und Bewusstseinszweifel ein Gespräch mit einer Raupe führt.[39] „Diese [die Raupe] ist in ihrer transitorischen Erscheinung ein Sinnbild des Übergänglichen und ein denkbar schlechter Partner für Dialoge über Identität […]“[40] Der Bezug von Canettis Theorien auf Alices Verwandlungen und ‚ihr‘ metamorphotisches Wunderland besteht nun darin, dass bei beiden eine enge Verquickung von der Idee der Verwandlung mit der Sprache vorherrscht. Dieser Aspekt tritt in der Tatsache zum Vorschein, dass die Verwandlungsepisoden zu großen Teilen einer (wenn auch im fiktiven Rahmen verbleibenden) Realisierung „volkstümlicher Verse, Kinderlieder, Redensarten und konventionellen Metaphern entstammen“[41]. Alice ist also in einer Welt der Wirklichwerdung sprachlicher Gebilde und Manipulationen gefangen. In letzter Konsequenz und einer durchaus extremen Lesart Elias Canettis müsste sich jeder leidenschaftlicher Dichter in einer ähnlichen Situation wie Alice befinden, wenn es seine Aufgabe ist, mittels der Sprache Verwandlungen in alle erdenklichen Rollen zu übernehmen und damit, zumindest für begrenzte Zeit, die eigene Identität in Frage zu stellen.
In gänzlich anderer Situation befindet sich der Wissenschaftler Dr. Jekyll, der bewusst eine Art zweite Seele in sich bemerkt und dieser nach langem Zweifeln und Bedenken Platz und Raum zur Entfaltung verschafft. Anfangs noch verkümmert durch die jahrelange Unterdrückung durch die gute und vernünftige Seite,[42] gewinnt die neue Persönlichkeit in Form von Mr. Hyde zunehmend an Kraft und Macht. Wie Dr. Jekyll ebenfalls selbst bemerkt, handelt es sich bei seinem Fall um eine sehr ungewöhnliche Angelegenheit, „[…] eine von jenen Affären, die sich durch Sprechen nicht bessern lassen“[43]. Sprache erscheint hier also weder als Auslöser noch als Gegenmittel für die dargestellte Verwandlung. Dies erinnert an die Überlegungen Léon Wurmsers, der erklärt, dass Neurosepatienten ein grundsätzliches Problem mit der sprachlichen Artikulation ihrer Wünsche oder Probleme haben. Weiterhin deckt sich Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hydes mit den vorangegangenen Ausführungen zu Neurosefällen dahingehend, dass im Kasus einer Doppelidentität nur eine der beiden Persönlichkeiten aktiv ist und bewusst wahrnimmt, sowie des Weiteren gegen die andere Identität ankämpfen kann.[44] Gleich einer Droge, in Form der Freisetzung jeglicher unterdrückter Triebe gemäß eines an die Gesellschaft angepassten Lebens, gelingt es dem Protagonisten nicht auf Dauer von der anderen Identität abzulassen, obgleich ihm die durchaus schwerwiegenden Konsequenzen seiner Verwandlungen bewusst sind.
Hyde - schon durch seinen Namen als das verborgene alter ego charakterisiert - repräsentiert gegenüber Jekyll eine atavistischere, wildere Daseinsform, etwas Urtümliches, das in dem spätzeitlichen, zivilisierten, kultivierten, moralisch gebändigten Doktor Jekyll offenbar durchaus noch steckt, wenn auch normalerweise unsichtbar.[45]
Die theoretischen Grundlagen konnten bereits in diesen Beispielen ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen, wobei es sich bei den hier ausgewählten Texten um recht gegensätzliche Darstellungsvarianten des Verwandlungsmotives handelt. Diese Untersuchungen sollen nun im Folgenden noch genauer ausdifferenziert werden.
[...]
[1] Franz Schuh: Der Dichter als Vorbild und Konkurrent. S.72.
[2] Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.12.
[3] Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.11.
[4] Vgl. Dorsch Psychologisches Wörterbuch. S.684 (Sp.1), S.812 (Sp.1), S.878 (Sp.1).
Vgl. Léon Wurmser: Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. S.27.
[5] Vgl. Irmgard Authaler: Schizophrenie aus psychologischer Sicht. S.24.
Vgl. Léon Wurmser: Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. S.27f.
[6] Dorsch Psychologisches Wörterbuch. S.811 (Sp.2).
[7] Ebd. S.812 (Sp.1).
[8] Ebd.
[9] Dorsch Psychologisches Wörterbuch. S.812 (Sp.1).
[10] Ebd. S.878(Sp.1).
[11] Irmgard Authaler: Schizophrenie aus psychologischer Sicht. S.23.
[12] Vgl. Ebd.
[13] Volker Faust: Die Neurosen. S.1.
[14] Vgl. Léon Wurmser: Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. S.27f.
[15] Dorsch Psychologisches Wörterbuch. S.684 (Sp.1).
[16] Léon Wurmser: Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. S.24.
[17] Ebd.
[18] Ebd. S.78.
[19] Ebd. S.79.
[20] Gerd-Klaus Katenbrunner: Welt der Masken. S.19.
[21] Vgl. Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.20.
[22] Ebd.
[23] Ebd.
[24] Elias Canetti: Der Beruf des Dichters. S.283.
[25] Ebd.
[26] Ebd. S.284.
[27] Ebd. S.283.
[28] Elias Canetti: Der Beruf des Dichters. S.286.
[29] Ebd.
[30] Vgl. Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.34.
[31] Ebd. S.35.
[32] Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.34.
[33] Vgl. Bianca Theisen: Metamorphosen der Literatur. S.1.
[34] Vgl. Brüder Grimm: Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich.
[35] Sigmund Freud: Psychopathische Personen auf der Bühne. S.166.
[36] Der Begriff ‚Moderne‘ bezeichnet (In: Metzler Literatur Lexikon. Hrsg. von Dieter Burdorf u.a.
S.508. Sp.1.) „die mit der Überwindung der Regelpoetiken […] um 1795 beginnende Periode“.
[37] Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.42.
[38] Ebd. S.17.
[39] Vgl. Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.17f.
[40] Ebd. S.18.
[41] Ebd.
[42] Vgl. Robert Louis Stevenson: Dr. Jekyll und Mr. Hyde. S.86.
[43] Ebd. S.26.
[44] Vgl. Léon Wurmser: Magische Verwandlung und tragische Verwandlung. S.79.
[45] Monika Schmitz-Emans: Poetiken der Verwandlung. S.55.