Im Oktober 1940 errichteten die Nationalsozialisten im eroberten Warschau ein Ghetto. Zum Zeitpunkt der dichtesten Belegung (im April 1941) lebten hier fast eine halbe Million Menschen auf engstem Raum – was das Warschauer Ghetto zur „größten jüdischen Stadt in Europa“ machte. Eine „Stadt mit einem pulsierenden gesellschaftlichen und intellektuellen Leben“, über das wir heute sehr viel wissen.
Zu verdanken haben wir das Männern und Frauen, die im Warschauer Ghetto tagtäglich ihr Leben riskierten – nicht um Essen zu besorgen oder Waffen zu schmuggeln, sondern um eine Geschichte des Ghettos zu schreiben. Angeleitet vom Historiker Emanuel Ringelblum sammelte diese Gruppe Intellektueller, die sich selber den Tarnnamen „Oneg Shabbat“ gab, Dokumente, um das Leben im Ghetto zu dokumentieren. Entstanden ist ein „erschütterndes Zeugnis einer sterbenden Welt“, von dem bis heute 35.000 Seiten im Archiv erhalten sind.
1999 nahm die Unesco Oneg Shabbat, das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, in ihr „Memory of the World“-Register auf. In ihrer Begründung bezeichnen sie es als „the most important collection of primary source material on the history of the Holocaust as seen by its victims“ und schreiben weiter, dass heute keine Forschung über die Shoa ohne die im Archiv versammelten Dokumente betrieben werden kann.
In der vorliegenden Arbeit soll es nun aber weniger um den Inhalt des Archivs oder um eine genaue Beschreibung der Arbeitsabläufe und Methoden von Oneg Shabbat gehen – der Fokus liegt stattdessen auf dem Warum: Warum gründete Emanuel Ringelblum Oneg Shabbat? Was waren die Hintergründe, die ihn und seine Mitstreiter dazu bewogen, Dokumente über das Ghetto-Leben zu sammeln? Welche Menschen und welche Organisationen, welches Umfeld prägten Ringelbum und als Folge davon das Geschichtsbild von Oneg Shabbat?
Die vorliegende Arbeit ist in zwei Überbereiche gegliedert: Selbstbild und Identität. In „Identität“ werden verschiedenste Aspekte – von der Bedeutung des Erinnerns in der jüdischen Kultur bis hin zu Optimismus – aufgezeigt, die das Weltbild und die Überzeugungen von Emanuel Ringelblum und seinen Mitstreitern entscheidend prägten. Vor allem geht es auch darum, wo sich diese Überzeugungen im Ghetto zeigten und wie sie sich auf die Arbeit von Oneg Shabbat auswirkten. In „Selbstbild“ wird erläutert, wie die Mitglieder von Oneg Shabbat sich selber und ihre Arbeit sahen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Oneg Shabbat
3. Emanuel Ringelblum
4. Identität
a. Weltbild – Überzeugungen
b. Die Rolle des Erinnerns in der jüdischen Kultur
c. Kampf für Jiddisch
d. Die Bedeutung jüdischer Geschichte für Oneg Shabbat
e. Hoffnung – Optimismus
5. Selbstbild
6. Resümee
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Oktober 1940 errichteten die Nationalsozialisten im eroberten Warschau ein Ghetto. Zum Zeitpunkt der dichtesten Belegung (im April 1941) lebten hier fast eine halbe Million Menschen auf engstem Raum – was das Warschauer Ghetto zur „größten jüdischen Stadt in Europa“ machte.[1] Eine „Stadt mit einem pulsierenden gesellschaftlichen und intellektuellen Leben“,[2] über das wir heute sehr viel wissen.
Zu verdanken haben wir das Männern und Frauen, die im Warschauer Ghetto tagtäglich ihr Leben riskierten – nicht um Essen zu besorgen oder Waffen zu schmuggeln, sondern um eine Geschichte des Ghettos zu schreiben. Angeleitet vom Historiker Emanuel Ringelblum sammelte diese Gruppe Intellektueller, die sich selber den Tarnnamen „Oneg Shabbat“[3] gab, Dokumente, um das Leben im Ghetto zu dokumentieren. Entstanden ist ein „erschütterndes Zeugnis einer sterbenden Welt“,[4] von dem bis heute 35.000 Seiten im Archiv erhalten sind.
1999 nahm die Unesco Oneg Shabbat, das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, in ihr „Memory of the World“-Register auf. In ihrer Begründung bezeichnen sie es als „the most important collection of primary source material on the history of the Holocaust as seen by its victims“ und schreiben weiter, dass heute keine Forschung über die Shoa ohne die im Archiv versammelten Dokumente betrieben werden kann.[5]
In der vorliegenden Arbeit soll es nun aber weniger um den Inhalt des Archivs oder um eine genaue Beschreibung der Arbeitsabläufe und Methoden von Oneg Shabbat gehen – der Fokus liegt stattdessen auf dem Warum: Warum gründete Emanuel Ringelblum Oneg Shabbat? Was waren die Hintergründe, die ihn und seine Mitstreiter dazu bewogen, Dokumente über das Ghetto-Leben zu sammeln? Welche Menschen und welche Organisationen, welches Umfeld prägten Ringelbum und als Folge davon das Geschichtsbild von Oneg Shabbat?
Die vorliegende Arbeit ist in zwei Überbereiche gegliedert: Selbstbild und Identität. In „Identität“ werden verschiedenste Aspekte – von der Bedeutung des Erinnerns in der jüdischen Kultur bis hin zu Optimismus – aufgezeigt, die das Weltbild und die Überzeugungen von Emanuel Ringelblum und seinen Mitstreitern entscheidend prägten. Vor allem geht es auch darum, wo sich diese Überzeugungen im Ghetto zeigten und wie sie sich auf die Arbeit von Oneg Shabbat auswirkten. In „Selbstbild“ wird erläutert, wie die Mitglieder von Oneg Shabbat sich selber und ihre Arbeit sahen.
Zum besseren Verständnis ist der eigentlichen Analyse ein kurzer Überblick über die Arbeit von Oneg Shabbat und eine Kurz-Biographie von Emanuel Ringelblum vorangestellt. So wie Emanuel Ringelblum klar das Zentum von Oneg Shabbat war, steht er auch im Mittelpunkt dieser Arbeit. Anhand seiner Person werde ich die unterschiedlichen Enwicklungen aufzeigen, die Oneg Shabbat ausmachten, um im Schlussteil der Frage nachzugehen, wo Oneg Shabbat innerhalb der jüdischen Identität zu verorten ist.
Die grundlegenden weltanschaulichen Überzeugungen der Oneg Shabbat-Mitglieder entstanden nicht erst im Ghetto. Die Erfahrungen, die sie in der Vorkriegszeit sammelten, die Arbeit und das Engagement, das sie in den 1920ern und 30ern leisteten, schufen die Basis für das Untergrundarchiv. Im Folgenden geht es darum, diese Verbindungen zu ziehen, wobei der Fokus aber immer auf der Zeit von 1939 bis 1943
– also der Zeit von der Eroberung Polens durch die Nationalsozialisten bis zur Vernichtung der Warschauer Juden – liegt.
Um die oben gestellten Fragen zu beantworten, lasse ich in dieser Arbeit oft Emanuel Ringelblum und seine Mitstreiter selbst zu Wort kommen. Die über 35.000 Seiten des Oneg Shabbat-Archivs befinden sich heute im „Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute“ in Warschau.[6] Da die auf Jiddisch, Polnisch, Deutsch und Hebräisch verfassten Beiträge bis heute immer noch nicht ausreichend ediert sind, musste ich Tagebucheinträge, Briefe und Essay aus der (meist englischen) Sekundärliteratur zitieren. Für Ringelblums Tagebuch habe ich großteils mit der Edition von Jacob Sloan gearbeitet.[7] In der Forschung über Emanuel Ringelblum und Oneg Shabbat sind vor allem die Werke von Ruta Sakowska[8] und Samuel Kassow bedeutend. An Kassow führt sowieso kein Weg vorbei: Angefangen von seinem kürzlich erschienenen Standardwerk „Who Will Write Our History?“[9] bis hin zu einem Lexikoneintrag über die Partei, in der Ringelblum Mitglied war,[10] begegnet er einem in der Beschäftigung mit Oneg Shabbat immer wieder. Zu empfehlen ist auch der von Yad Vashem herausgegebene Sammelband, der verschiedenste Aspekte der Arbeit von Emanuel Ringelblum beleuchtet und erstmals seine letzten Briefe ediert veröffentlicht.[11]
Abschließend noch eine kurze Anmerkung zur Begrifflichkeit. Quer durch die gesamte Forschungsliteratur gibt es eine Vielzahl von möglichen Schreibweisen für Oneg Shabbat (u. a. Oyneg Shabes, Oneg Szabat, Oneg Schabbat). Samuel Kassow verwendet – wie auch die Gruppe selber – den jiddischen Namen Oyneg Shabes. In der restlichen Forschung hat sich aber großteils der hebräische Name Oneg Shabbat eingebürgert, den ich im Folgenden verwende. Auch für jüdische Personennamen gibt es oft eine Vielzahl von Schreibweisen; um Einheitlichkeit herzustellen, orientiere ich mich hier ausschließlich an Samuel Kassow.
2. Oneg Shabbat
Am 22. November 1940 – nur eine Woche nach Vollendung der Mauer, die das Warschauer Ghetto vom Rest der Stadt abtrennen sollte – gründete der Historiker Emanuel Ringelblum „Oneg Shabbat“. Ziel dieser „sacred society“[12] war es, das Leben der jüdischen Bevölkerung in Polen unter der Naziherrschaft und im Ghetto zu dokumentieren und so eine brauchbare Vergangengeit „for a future, better time“ zu schaffen.[13] Später ging es auch vermehrt darum, Beweise über die Gräueltaten der Nationalsozialisten zu sammeln, um sie nach dem Krieg vor Gericht bringen zu können. Von amtlichen Bekanntmachungen des Judenrats über Theaterkarten und Ghetto-Tagebücher bis hin zu Bonbonpapieren sammelte die Gruppe jedes noch so kleine Dokument. Unter zunehmender Gefährdung ihres Lebens arbeiteten die rund 60 Mitglieder[14] von Oneg Shabbat ungeheuer systematisch: Sie wandten modernste soziologische Forschungsmethoden wie Umfragen an, machten zahlreiche Kopien aller Dokumente, um sie an verschiedenen Orten verstecken zu können und werteten das gesammelte Material in aufwendigen Berichten und Analysen aus. Neben den Dutzenden Mitgliedern, die Vollzeit für das Untergrund-Archiv arbeiteten, gab es außerdem eine Menge Menschen, die nur ab und zu Material lieferten.[15] Als Basis dafür fungierte die Ghetto-Hilfsorganisation „Aleynhilf“, deren Sektion für Sozialarbeit von Emanuel Ringelblum geleitet wurde und die ihm und Oneg Shabbat Zugang zu sehr vielen Menschen unterschiedlichster Schichten ermöglichte.
Ab dem Frühjahr 1942 übernahm Oneg Shabbat neben der Dokumentation für die Nachwelt noch eine zweite wichtige Aufgabe: die Alarmierung der Öffentlichkeit.[16] Über Flüchtlinge aus ganz Polen wusste die Gruppe schon sehr früh und sehr gut über Vernichtungslager wie Treblinka Bescheid und begann damit, ausführliche Berichte zu schreiben und aus dem Ghetto zu schmuggeln. Diese Berichte – die über den polnischen Untergrund nach London kamen – dienten den Alliierten als erste Beweise für die Massenvernichtung der Juden[17] und zählen zu den „wichtigsten Formen des nichtmilitärischen Widerstands von Juden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs.“[18]
Bis zur Auflösung des Ghettos 1943 arbeiteten die verbliebenen Mitglieder von Oneg Shabbat weiterhin daran, so viele Dokumente wie möglich zu retten. Trotz aller Risiken und Gefahren gelang es den Mitgliedern von Oneg Shabbat zu allen Zeiten, das Archiv vor den Nationalsozialisten geheim zu halten.
[...]
[1] Ruta Sakowska Ruta: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historisches Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941-1943. Berlin 1993, S. 7.
[2] Ebda.
[3] Oneg Shabbat heißt wörtlich übersetzt „Freude am Shabbat“. Der Name wurde gewählt, um die samstäglichen Treffen als Shabbat-Nachmittagsfeiern zu tarnen. Siehe hierzu Andrea Löw: Vortrag in: Arbeit und Leben DGB/VHS (Hrsg.): Die Ausstellung „Oneg Schabbat - Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos“. Zur Erinnerungskultur in Polen und Deutschland. Essen 2006, S. 34.
[4] Paul Spiegel: Begrüßungsrede. In:Die Ausstellung „Oneg Schabbat“, S. 23.
[5] Unesco Nomination Form: Poland- WARSAW Ghetto Archives (Emanuel Ringelblum Archives). Witness to the Holocaust. o.O.1999, S. 5.
[6] Eine Übersicht aller Dokumente bietet Robert Moses Shapiro, Tadeusz Epsztein (Hrsg.): The Warsaw Ghetto Oyneg Shabes-Ringelblum Archive. Catalogue and Guide. Bloomington 2009.
[7] Emnauel Ringelblum: Notes from the Warsaw Ghetto. The Journal of Emmanuel Ringelblum. Editiert und herausgegeben von Jacob Sloan. New York, Toronto, London 1958.
[8] Ruta Sakowska: Emanuel Ringelblum and the Underground Archive of the Warsaw Ghetto.In: Louis D. Levine (Hrsg.): Scream the Truth at the World. Emanuel Ringeblum and the Hidden Archive of the Warsaw Ghetto. New York 2001, S. 1-10.Und: Sakowska: Die zweite Etappe ist der Tod.
[9] Samuel D. Kassow: Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive. Bloomington 2007.
[10] Samuel Kassow: Po’ale Tsiyon. In Gershon David Hundert.(Hrsg.): The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. Volume 2. Hrsg: New Haven und London 2008. S. 1365-1366.
[11] Israel Gutman (Hrsg.): Emanuel Ringelblum. The Man and The Historian. Jerusalem 2010.
[12] Kassow: Who Will Write Our History?, S. 1.
[13] Kassow, Samuel David: Vilna and Warsaw, Two Ghetto Diaries: Herman Kruk and Emanuel Ringelblum. In: Robert Moses Shaprio (Hrsg.): Holocaust Chronicles, Hoboken NJ 1999, S. 171-215, hier: S. 178.
[14] Kassow: A Historiker un a Kemfer. Deutsches Trankskript, 30.5.2012, S. 6f
[15] Der Bekannteste war Marcel Reich-Ranicki. Für einen Überblick der wichtigsten Mitarbeiter siehe Kassow: Who Will Write Our History?, S. 145-208.
[16] Sakowska: Die zweite Etappe ist der Tod, S. 44.
[17] Ebda.
[18] Löw:Vortrag: In: Die Ausstellung „Oneg Schabbat“, S. 34.