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Essay, 2011
20 Seiten, Note: 1,3
Neue Fragen und schwierige Antworten
Ein kurzes Wort zum Gedanken der Menschenwürde
Lebensschutz bei Peter Singer
Konsequenzen und Interpretationen Singers Ethik
Argumente gegen einen Lebensschutz als alleiniges Personenrecht
Der Zeitpunkt des Existenzbeginns
Literatur
Besitzen Neugeborene eine geringere Wertigkeit als Erwachsene? Wiegt das Töten von Neugeborenen genauso schwer wie das Töten von Erwachsenen? Ist das Töten von behinderten Neugeborenen vielleicht überhaupt kein Unrecht? Diese Fragen zu stellen wirkt auf uns schockierend. Doch es sind unter anderem diese Fragen, die Peter Singer in seinem Buch „praktische Ethik“ und in weiteren späteren Publikationen behandelt. Sie ergeben sich als Konsequenz seiner pr ä ferenz-utilitaristischen 1 Ethik. Seit den Vorkommnissen in Deutschland 19892 erscheinen dabei seine Argumente offenbar immer wieder neuen Generationen vordergründig als „gruselig“ und man reagiert darauf womöglich mindestens mit Argwohn oder Unbehagen. Jedoch muss man nach dem Lesen vieler Sekundärartikel und Interviews zu dem Schluss kommen, dass Singer kein Menschenfeind ist3, und er mit seinen Überlegungen auf aktuelle Fragen reagiert, die sich aus dem Fortschritt der Medizin zu ergeben scheinen4. Eine neutrale Auseinandersetzung mit Singers Thesen ist daher notwendig, zumal sich diese durch schallende Empörung ja nicht einfach wegschweigen, wegschreien, wegdenunzieren oder anderweitig abtun lassen. Genauso wenig wie die unbequemen Fragen, die eigentlich nicht er, sondern der medizinische Fortschritt aufgeworfen hat. Zumindest erscheint uns Singer seit den Ereignissen 1989 einer der Lautesten zu sein, der uns eine konsequent formulierte Antwort auf Frage der praktischen Ethik vorlegen will. Auch auf solche Fragen, die uns als Tabubruch erscheinen.
Dieses Essay greift die Argumentationslinien Singers auf, beschränkt sich dabei auf die Frage nach dem Lebensschutz von Neugeborenen. Dabei werden erkannte Problembereiche kritisch beleuchtet und zur Diskussion gestellt, sowohl durch das Heranziehen dritter Autoren, als auch eigener Überlegungen.
„Die würde des Menschen ist unantastbar“ (Grundgesetz der BRD 1949, Artikel 1, Absatz 1)5. Das wir dies als Tatsache und Grundsatz unseres heutigen Rechtssystemes in Deutschland betrachten können, ist für die Allermeisten beruhigend. Und wie den Meisten bekannt sein sollte, war es bis hierhin ein beschwerlicher Weg. Viel Leid und Diskriminierung wurde durch diesen Grundsatz in unserer Gesellschaft vermieden. Die Menschenwürde gewährleistet uns unter anderem, dass man uns nicht als Objekt benutzen oder betrachten darf, sondern dass jeder Mensch als Subjekt existiert und unser Leben einen Selbstzweckcharakter besitzt. Die Existenz von keinem menschlichem Wesen darf somit aufgrund von Eigenschaften wie beispielsweise Geschlecht, Herkunft, Intelligenz oder materiellem Reichtum als lebenswerter oder lebensunwerter betrachtet werden. Jeder besitzt gleiche Rechte und soll gleiche Chancen bekommen, in letzter Konsequenz vom Beginn der Befruchtung bis zum biologischen Tod.6
Ich hab lange überlegt, ob ich in diesem Essay den Versuch unternehmen soll, bei der Auseinandersetzung von Singers Ethik mit dem Gedanken der Menschenwürde als Grundlage zu argumentieren. Autoren wie Günther Pöltner setzen die Menschenwürde schließlich als normative Begründungsebene einer Medizinethik ein.7 Sogar eine Synthese aus Singers Personenbegriff (dazu später mehr) und dem Gedanken der Menschenwürde, möglicherweise unter Schaffung etwas völlig Neuem, könnte meiner Meinung nach vorstellbar sein. Nur wäre dieser Versuch so komplex und mit so vielen Hindernissen behaftet, dass, will man ihn mit ausreichender Sorgfalt durchführen, dabei möglicherweise sogar ein Lebenswerk entstehen könnte. Dennoch kann man sich in einem solchen Essay sorgfältig mit einzelnen Aspekten der Ethik Singers auseinandersetzen. Sie lassen sich analysieren, beurteilen und dazu eigene Überlegungen entwickeln, ohne den Gedanken von einer dem Menschen anerkannten Menschenwürde als Ausgangsbasis heranzuziehen.
Für die Auseinandersetzung mit Peter Singer zum Thema „Lebensrecht und -schutz Neugeborener“ muss natürlich vorab geklärt werden, welche Position Singer vertritt und wie er diese begründet. Die Position Singers lässt sich zum Beispiel durch folgendes Zitat aus seinem Hauptwerk erkennen:
„Würde man Neugeborene - so wie nunmehr Föten - als ersetzbar betrachten, so böte dies große Vorteile gegenüber der pränatalen Diagnostik mit anschließendem Schwangerschaftsabbruch. Denn es gibt Behinderungen, die tatsächlich vor der Geburt nicht vorhanden sind; sie können aus einer extremen Frühgeburt resultieren oder daraus, daß die Geburt nicht normal verläuft. Gegenwärtig haben die Eltern nur dann die Wahl, behinderte Nachkommen zu behalten oder ihr Leben zu beenden, wenn die Behinderung während der Schwangerschaft entdeckt wird. Es gibt keine logische Grundlage dafür, daß die Wahlmöglichkeit der Eltern auf diese besonderen Behinderungen beschränkt bleibt. Würden behinderte Neugeborene bis etwa eine Woche einen Monat nach der Geburt nicht als Wesen betrachtet, die ein Recht auf Leben haben, dann wären die Eltern in der Lage, in gemeinsamer Beratung mit dem Arzt und auf viel breiterer Wissensgrundlage in bezug [sic!] auf den Gesundheitszustand des Kindes, ihre Entscheidung zu treffen.“8
Singer ist also der Ansicht, dass es unter bestimmten Voraussetzung ethisch vertretbar ist, Neugeborene zu töten. Sollte man einen klareren Beleg für die Interpretation des Zitates benötigen, möchte ich auf ein weiteres Werk von Singer verweisen, in dem sein Standpunkt deutlicher wird:
„Wir [Peter Singer und Helga Kuhse] sind der Meinung, daß es unter bestimmten Umständen ethisch gerechtfertigt ist, das Leben mancher schwerstbehinderter Neugeborener zu beenden.“9
Im Folgenden werde ich versuchen zu beleuchten, warum Singer unter anderem eine solche Position vertritt.
Wie in der Einleitung bereits beschrieben, bringen neue technische Möglichkeiten auch neue soziale Möglichkeiten hervor. Das zuerst genannte Zitat Singers deutet das Motiv seines Standpunktes bereits an. Für ihn steht offenbar die Wahlmöglichkeit der Mutter über dem Lebensrecht des Neugeborenen. Nach Singer gibt es keinen Unterschied im Lebensschutz zwischen einem Kind im Mutterleib und einem Neugeborenen. Da uns die heutige Medizin erlaubt, einige Behinderungen schon im Mutterleib zu erkennen, können in vielen Ländern der Erde Eltern im einvernehmen mit dem Arzt wählen, ob sie dieses behinderte Kind wollen oder nicht. Selbst in Deutschland ist dies möglich, da zumindest im moralischen Alltag der Medizin das Selbstbestimmungsrecht der Mutter höher eingeschätzt wird als das Recht des ungeborenen Kindes. Zwar ist es nicht ausdrücklich erlaubt, jedoch wird die Behinderung beim Abtreibungswunsch rechtlich als Risiko für die Mutter gewertet und eine Abtreibung bis zur Geburt damit legal10. Man kann die Abtreibungspraxis bei erkannter Behinderung zustimmen oder ablehnen. Klar ist jedoch, dass dies im Widerspruch dazu steht, menschliches Leben ohne Abstufung als lebenswert zu deklarieren. Dass heißt, jedem menschlichen Wesen von der Befruchtung an bis zum biologischen Tod Menschenwürde, Lebensschutz und das gleiche Recht auf Leben anzuerkennen. Singer nennt dies die „alte Ethik von der Heiligkeit des menschlichen Lebens“.11 Mit dem technischen Fortschritt scheinen diese Überzeugungen jedoch an einigen Stellen zu bröckeln. Selbst Gesellschaften, die sich zur Gleichheit des Lebensschutzes alles menschlichen Lebens bekannt haben, scheinen gezwungen zu sein, Güterabwägungen an verschiedenen Stellen zwischen menschlichem Leben vorzunehmen. Als kleiner Exkurs sind hierzu beispielsweise auch die Bereiche Organspende, Prä-implantationsdiagnostik, aktive und passive Sterbehilfe am Ende des Lebens und verbrauchende Embryonenforschung zu nennen. Wenn wir nämlich mit letzter Konsequenz den Ansatz von der Gleichwertigkeit alles menschlichen Lebens verfolgen würden, könnten wir selbst Organspende nicht erlauben. Organe dürften dann erst entnommen werden, wenn der Mensch biologisch komplett Tod wäre, und nicht nur „Hirntod“. Diesen Zustand kann man nämlich auch zur Phase des Sterbens und somit zum Leben zählen. Eine Verwendung eines Hirntoten als Objekt zur Gewinnung von Organen wäre somit ethisch nicht zu rechtfertigen. Aber Organe von gänzlich toten Menschen lassen sich nicht mehr verwenden und Organspende wäre damit unmöglich. Dennoch ist sie erlaubt, offenbar wird hier eine Abstufung von lebenswert und „weniger lebenswert“
vorgenommen. Auch diese Auseinandersetzung verdanken wir moderner Medizin und wir mussten, um Organspende überhaupt zu ermöglichen und zu legalisieren, „hirntotes Leben“ als weniger Lebenswert wie „hirnaktives Lebens“ werten. Also räumen wir die Möglichkeit ein, dass man den Hirntod als Tod des Menschen werten kann, obwohl der Hirntote rein biologisch gesehen noch lebt.12
[...]
1 Begriffserklärung folgt unter „Lebensschutz bei Peter Singer“
2 Singer 1994, S.425-451
3 Vgl. Singer 2003, Interview; weitere Argumentation im Text
4 Vgl. Singer 1998, S. 15-25; weitere Argumentation im Text
5 direkte Zitate werden im Text gekennzeichnet, indirekte Autorenbezüge in den Fußnoten
6 Reiter (für Bundeszentrale für politische Aufklärung) 2004
7 Vgl. Pöltner 2006, S. 48-53
8 Singer 1994, S. 243. Einfügung: M.T.
9 Singer; Kuhse 1993, S. 25. Anmerkung, Einfügung: M.T.
10 Vgl. Ortrun 2008, S. 186f.
11 Vgl. Singer 1993 S. 47, 164, 174; Vgl. Singer 1994, S. 225
12 Vgl. Pöltner 2006, S. 228-235