[...] Diese Arbeit beschäftigt sich daher mit der Frage nach den Triebkräften scheinbar ethnisch motivierter
Gewalt. Da verschiedene Autoren, darunter Wirz, „den aktuellen Krieg als Teil eines kolonial induzierten
Staatsbildungsprozesses“4 begreifen, soll zunächst den Fragen nach dem Status quo ante und der
Funktionsweise dieser Induktion nachgegangen, also das Staatsbild und die Ausprägungen von Ethnizität
in präkolonialer und kolonialer Zeit skizziert werden. Im Anschluss werden die Auswirkungen des
Mobutu-Patrimonialismus sowohl auf soziale Organisationsstrukturen der Bevölkerung als auch auf die
Funktionalität des Staatswesens erörtert und damit der Hintergrund für das Verständnis der von Ruanda
und Uganda unterstützten Machtübernahme Kabilas entfaltet. Eine nations- und ethnizitätsorientierte
Betrachtung der Beziehung zwischen ökonomisierter Gewalt und völliger Fragmentierung staatlicher
Strukturen unter Kabila & Sohn wird zunächst allgemein angerissen, sodann für den Ostkongo als
Schauplatz der „ethnischen“ Machetenmassaker konkretisiert. Gleichzeitig schließt sie den faktenreportierenden
Teil der Arbeit ab und leitet über zu einer historisch begründeten Herausarbeitung der beiden
Hauptproblembereiche, die zur Erklärung der „ethnischen“ Konfliktkomponente beitragen können.
Zu beachten ist, dass diese Arbeit strukturelle Gewaltursachen untersucht, nicht die Motivation der Konfliktparteien
en detail. Sie erhebt keinen Anspruch auf eine historisch vollständige Darstellung, sie wird
weder sämtliche Rebellensplittergruppen noch sämtliche Regierungen aufzählen, und sie wird nicht auf
Methoden der Kriegführung und schlagzeilenträchtige Kannibalismusrituale eingehen.
4 Wirz 2001: 120
Gliederung
1. Einleitung
2. Vorkoloniale Formen sozialer Organisation im Kongogebiet
3. Landnahme und Kolonialzeit
3.1. Der Kongo-Freistaat als Privatbesitz
3.2. Belgische Kolonialzeit
3.3. Konstruktion und Politisierung von Ethnizitat im kolonialen Kongo
4. Postkoloniale Staatsaneignung und Staatszerfall
4.1. Unabhangigkeit und Kongo - Wirren
4.2. Authenticity undMobutismus
4.3. Kleptokratie und Deengagement
4.4. Herrschaftssicherung und klientelistische Netzwerke
4.5. Zusammenfassung: Ethnizitat und Staatlichkeit unter Mobutu
5. Kabilas Kongokriege
5.1. Regional- und geostrategischer Bezugsrahmen
5.2. Der Leopard als Papiertiger: Implosion Zaires und Aufstieg Kabilas
5.3. Die Okonomisierung der Gewalt im Anti-Kabila-Krieg
5.4. Ethnisch motivierte Gewalt im Ostkongo
6. Zusammenfassung
6.1. Staatsversagen und alternative Referenzsysteme
6.2. Politisierung der Ethnizitat
6.3. Fazit
Literatur
Anhang 1: Karte der DRC und angrenzender Gebiete
Anhang 2: Abkurzungsverzeichnis
1. Einleitung
In der offentlichen Diskussion uber den Krieg in der DR Kongo (DRC) stehen in der Regel zwei Aspek- te im Vordergrund: Der Raubbau der Kriegsparteien an den Bodenschatzen des Landes und die ethnisch codierte Komponente des Konfliktes. Doch wahrend im Fall der Bodenschatze Interessenstrukturen aufgedeckt und analysiert werden, wahrend Nichtregierungsorganisationen dem Raubbau mit Boykott- und Zertifizierungskampagnen entgegentreten wollen und der UN-Sicherheitsrat sich regelmabig durch ein eigens eingesetztes Expertenpanel informieren lasst, reicht der Blick auf die ethnischen Konfliktli- nien selten weit uber die Zurkenntnisnahme eines Ereignisses hinaus. Zwar ist von Milizen und Mache- tenmassakern zu lesen, doch wahrend beispielsweise bei der zimbabwischen Kriegsbeteiligung in der Regel ein deutlicher Zusammenhang zu geschaftlichen Interessen der zimbabwischen Staats- und Ar- meefuhrung aufgezeigt wurde, ist der Konfliktaustrag entlang ethnischer Linien offenbar selbsterkla- rend: Zwar werden die Nutznieber der chaotisierten Situation in der Regel benannt, die Motivation der „ethnisch“ organisierten Milizen zum gewaltsamen Konfliktaustrag verschwindet aber hinter wolkigen Formulierungen wie „die Lendu fuhlen sich eher den Hutu nahe.“[1] Allenfalls wird noch das Klischee vom unuberwindbaren Interessenkonflikt zwischen Pastoralisten und Agrarproduzenten bemuht,[2] meist muss zur Erklarung aber die lakonische Bemerkung ausreichen, die Massakrierenden seien eben „Ange- horige eines verfeindeten Stammes.“[3]
Diese Arbeit beschaftigt sich daher mit der Frage nach den Triebkraften scheinbar ethnisch motivierter Gewalt. Da verschiedene Autoren, darunter Wirz, „den aktuellen Krieg als Teil eines kolonial induzier- ten Staatsbildungsprozesses“[4] begreifen, soll zunachst den Fragen nach dem Status quo ante und der Funktionsweise dieser Induktion nachgegangen, also das Staatsbild und die Auspragungen von Ethnizi- tat in prakolonialer und kolonialer Zeit skizziert werden. Im Anschluss werden die Auswirkungen des Mobutu-Patrimonialismus sowohl auf soziale Organisationsstrukturen der Bevolkerung als auch auf die Funktionalitat des Staatswesens erortert und damit der Hintergrund fur das Verstandnis der von Ruanda und Uganda unterstutzten Machtubernahme Kabilas entfaltet. Eine nations- und ethnizitatsorientierte Betrachtung der Beziehung zwischen okonomisierter Gewalt und volliger Fragmentierung staatlicher Strukturen unter Kabila & Sohn wird zunachst allgemein angerissen, sodann fur den Ostkongo als Schauplatz der „ethnischen“ Machetenmassaker konkretisiert. Gleichzeitig schliebt sie den faktenrepor- tierenden Teil der Arbeit ab und leitet uber zu einer historisch begrundeten Herausarbeitung der beiden Hauptproblembereiche, die zur Erklarung der „ethnischen“ Konfliktkomponente beitragen konnen.
Zu beachten ist, dass diese Arbeit strukturelle Gewaltursachen untersucht, nicht die Motivation der Kon- fliktparteien en detail. Sie erhebt keinen Anspruch auf eine historisch vollstandige Darstellung, sie wird weder samtliche Rebellensplittergruppen noch samtliche Regierungen aufzahlen, und sie wird nicht auf Methoden der Kriegfuhrung und schlagzeilentrachtige Kannibalismusrituale eingehen.
2. Vorkoloniale Formen sozialer Organisation im Kongogebiet
Das offizielle Territorium der heutigen DR Kongo erstreckt sich uber eine Flache, die etwa der sech- seinhalbfachen Deutschlands entspricht und in vorkolonialer Zeit einer kaum uberschaubaren (und mangels schriftlicher Uberlieferung auch kaum rekonstruierbaren) Vielfalt sozialer Organisationsformen Raum geboten hat. Wesentliche Teile der Bevolkerung, besonders in den zentralen Waldgebieten, waren vermutlich in losen Netzwerken zwischen Familienverbanden ohne ubergreifende staatliche Strukturen organisiert. Wo der Organisationsgrad hoher war, vor allem in den Savannengebieten, an der Kuste und im Gebiet der groBen Seen, waren zur Zeit der Kolonisierung Afrikas nach Nzongola-Ntalaja „political institutions of kingdom [...] the dominant forms of state [...]“.[5] Wenngleich Young und Turner diese Konigreiche als zumeist „small-scale, dispersed, and diffuse“[6] beschreiben, bestanden auch vergleichs- weise machtige und hochkomplex organisierte Staatsgebilde wie das spater namensgebende Kongo- Reich und das Konigreich Rwanda. Auch bei diesen war jedoch die AuBengrenze nicht klar demarkiert, sondern durch zu den Randern hin sukzessive abnehmende staatliche Durchsetzungsfahigkeit gekenn- zeichnet. Diese Ausfransung der Rander macht Vansina dafur verantwortlich, dass „the existing system of territorial control often reduced itself to sheer exploitation: outer provinces paid protection money against possible raids from the center, and the center tried to obtain maximal tribute from these regions but felt no obligation to protect them against enemies from the exterior.“[7]
Das Kongoreich, von Hochschild als „das fuhrende Staatswesen an der Westkuste Zentralafrikas“[8] be- zeichnet, umfasste zwei bis drei Millionen Menschen und ein Territorium von gut 650 Quadratkilome- tern (heute z. T. auf angolanischem Staatsgebiet).[9] Das Reich verfugte uber einen zentralistisch struktu- rierten Staatsapparat, der nicht nur die Verwaltung der Provinzen organisierte, sondern durch Erhebung von Steuern und Kontrolle der Geldzufuhr auch eine okonomische Machtbasis sicherte.[10] Daruber hin- aus setzte er mittels einer institutionalisierten Gerichtsbarkeit die Einhaltung eines gemeinsamen Werte- rahmens durch. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kam jedoch der Sklavenhandel nach Amerika in Schwung und fuhrte im Kongo-Reich zu einer Haufung von Uberfallen und Verschleppungen durch weiBe Handler oder ihre Zulieferer, gegen die der Staat sein Gewaltmonopol und seine Schutzpflicht gegenuber den Untertanen kaum mehr durchsetzen konnte - auch nicht durch mehrere diplomatische Interventionen des Kongo-Konigs Affonso I.[11] In der Folge erodierte der Ruckhalt des Staates in der Bevolkerung, in den Provinzen breiteten sich separatistische Tendenzen aus und schlieBlich wurden weite Teile des Staatsgebietes von europaischen Machten annektiert.
Erheblich weiter ostlich entstand ab dem 16. Jahrhundert in der Region der groBen Seen das Konigreich Rwanda und entwickelte einen weitgehend homogenen kulturellen Rahmen. Des Forges beschreibt: „[Die Bewohner...] schufen eine einheitliche, hochentwickelte Sprache, Kinyarwanda, gemeinsame religiose und philosophische Uberzeugungen sowie eine Kultur, in der Gesang, Tanz, Poesie und rhetori- schen Fahigkeiten groBe Wertschatzung zukam. Sie verehrten dieselben Helden.“[12] Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschende Konig Rwabugiri optimierte das militarische System und leitete eine Phase der Expansion ein, an deren Ende sein Reich - nach heutigen Grenzen - Ruanda, Teile Ugandas und den Nordosten der DRC umfasste. Das Gebiet wurde von einem institutionalisierten Beamtenapparat zentralistisch verwaltet. Die betroffenen Staaten bzw. Clangruppen wurden teils assimi- liert, teils wurde ihnen aus okonomischen oder machtpolitischen Grunden Autonomie belassen.[13] Die Autoritat des Herrschers (und somit des Staates) stutzte sich einerseits auf militarische und okonomi- sche Kontrolle, andererseits auf eine auf den gemeinsamen Kulturrahmen bezogene spirituelle Ebene. Fur die - spatestens im 20. Jahrhundert als ethnisch verstandene - Differenzierung der rwandophonen Bevolkerung im Gebiet der groBen Seen[14] in Hutu und Tutsi gibt es nahezu so viele Erklarungen wie zum Thema arbeitende Autoren. Vor dem Hintergrund des grundsatzlichen Hinweises von Young und Turner, dass „empirical cultural identities are multiple, shifting in response to context and situation.“[15] bietet Des Forges eine der plausibelsten:[16] Danach korrelierte im Konigreich Ruanda okonomische Po- tenz mit politischer Macht und wurde (wie in weiten Teilen Afrikas ublich) in Viehreichtum ausge- druckt. Bei zunachst flieBenden Grenzen bildeten sich Klassen heraus - die viehhaltende Staatselite (Tutsi) und die bauerliche Bevolkerung (Hutu). Die Klassengrenze wurde als soziale, nicht als kulturelle wahrgenommen. Wenngleich es die Moglichkeit eines Klassenauf- oder -abstiegs gab und sich beide Gruppen „an der Entwicklung des Staatswesens und seiner Institutionen“[17] beteiligten, wurden Ehen in der Regel schichtintern geschlossen, was uber Generationen hinweg „innerhalb jeder Gruppe einen gemeinsamen Genbestand“[18] schuf. Das folglich mit Gruppenzugehorigkeit korrelierende (wenn auch nicht zwangslaufig daran geknupfte) Auftreten bestimmter korperlicher Merkmale[19] trug - zusammen mit (auch im Zuge kolonialer Bevorzugung, vgl. 3.3) zunehmendem Elitenbewusstsein der Tutsi - dazu bei, die wahrgenommenen Unterschiede zu Stereotypen (Tutsi: groB, schlank, schmalgesichtig; Hutu: klein, kraftig, breitgesichtig) zu verscharfen und somit sukzessive die Gruppengrenzen zu verharten.
3. Landnahme und Kolonialzeit
3.1. Der Kongo-Freistaat als Privatbesitz
Im Auftrag der Association Internationale du Congo (AIC), einer Tarnorganisation des belgischen Ko- nigs Leopold II, bereiste der Journalist Henry Morton Stanley, durch eine erfolgreiche Suchexpedition zum Afrika-Forscher avanciert, 1879 das Einzugsgebiet des Kongoflusses. Dort begann er, eine Mini- malinfrastruktur aufzubauen und lokalen Autoritaten Vertrage abzuhandeln oder aufzuzwingen, in de- nen sie Territorium und Souveranitat auf die AIC ubertrugen. Parallel dazu steckte Leopold uber die AIC in einer Reihe von bilateralen Vertragen mit den USA und europaischen Staaten die Grenzen seiner kunftigen Privatkolonie ab. Auf der Berliner Westafrika-Konferenz (1884/1885) gab er Freihandelsga- rantien, lieB bei der Abschlusszeremonie einen souveranen Kongo-Freistaat ausrufen und nahm den Applaus der Delegierten als Bestatigung seines Anspruchs.[20]
Der wesentliche Zweck des Kongo-Freistaates bestand fur Leopold in der Mehrung seines Vermogens. Im Einklang mit den meisten anderen sogenannten Mutterlandern betrachtete er Kolonialpolitik als „the art of maximal domination and minimal cost“,[21] fuhrte diesen Gedanken jedoch wesentlich konsequen- ter aus, indem zur Bewaltigung staatlicher Aufgaben eine „koloniale Trinitat“[22] aus Verwaltung, Wirt- schaftsunternehmen und Kirche etablierte. Die unmittelbar wichtigste (weil finanziell eintragliche) Rolle nahmen dabei private Wirtschaftsunternehmen ein, an denen Leopold in der Regel beteiligt war. Ihnen fiel die Aufgabe der Ressourcenvermarktung (und damit der im Sinne Leopolds existenzbegrundende Aspekt der Kolonie) zufiel. Uber ein auf Zwangsarbeit, drakonischen Strafen und einer ausgefeilt- ausbeuterischen Provisionsregelung aufgebautes System von Zwischenhandlern fuhrten sie fortan mit horrenden Gewinnen dem Weltmarkt kongolesische „Exportprodukte“ zu: Zunachst Elfenbein, nach der Etablierung des Gummireifens enorme Mengen an Kautschuk, noch spater Palmol und Edelmetalle.
Die staatlichen Aufgaben beschrankten sich im wesentlichen auf die ErschlieBung und Absicherung der Extraktionsmoglichkeiten: Indem die Kolonialverwaltung den schiffbaren Teil des Kongo durch eine Eisenbahnlinie mit der Kuste verband und ein minimales StraBennetz schuf, sorgte sie fur eine Basisinf- rastruktur, die den effizienten Abtransport der kongolesischen Ressourcen gewahrleistete. Weiterhin hielt sie sich mit der „Force Publique“ eine starke Kolonialtruppe, mit der sie vor allem die obligatori- sche Zwangsarbeit (v.a. beim Kautschuksammeln) brutal durchsetzte und also nicht nur den Abfluss, sondern auch die Gewinnung der Handelsguter sicherte. Auch dabei war jedoch ein gewisses Kostenbe- grenzungsstreben spurbar: So wurden Infrastrukturausgaben haufig zwischen Verwaltung und Wirtschaftsunternehmen aufgeteilt,[23] die etwa 19000 Mann starke Force Publique dagegen war gehalten, sich selbst zu tragen, weshalb sie „regelmaBig Dorfer auf der Suche nach Nahrung [uberfiel]“[24] und so die Schutzpflicht des Staates gegenuber seinen Untertanen konterkarierte.
Der Fursorgepflicht entzog sich Leopolds Privatstaat hingegen durch die Auslagerung des kompletten Sozialsektors an die Kirchen (v. a. die romisch-katholische[25] ), die somit die dritte Saule der kolonialen Trinitat bildeten. Von der Kolonialverwaltung im Rahmen ihrer infrastrukturellen Aufgaben mit kosten- losen Grundstucken zum Schulbau unterstutzt, widmeten sie sich erstens der Missionierung, zweitens der Vermittlung einer (zur Effektivitatssteigerung kolonialer Verwaltung ausreichenden, zur Forderung der Elitenbildung allerdings weitgehend untauglichen) Grundbildung und drittens der Bereitstellung minimaler medizinischer Versorgung. Durch die fur den Druck von Schul- wie Gebetsbuchern glei- chermaBen notwendige linguistische Erfassung und territoriale Zuschreibung lokaler Sprachen und Dia- lekte sowie die damit verbundene Zuschreibung einer „Stammeszugehorigkeit“ schufen oder zementier- ten die Missionen die zuvor eher verschwommenen ethnische Grenzen.[26]
Britischen und amerikanischen Kongo-Reisenden und Menschenrechtsorganisationen gelang es zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts, die Offentlichkeit fur die naheren Umstande der Herrschaftsausubung im Kongo (die nach von Wrong zitierten Schatzungen fur den Tod von bis zu dreizehn Millionen Kongole- sen, also gut der Halfte der vorkolonialen Bevolkerung, verantwortlich waren)[27] zu interessieren. In der Folge baute sich starker international Druck auf Leopold auf und fuhrte 1908 schlieBlich zur Uber- nahme der Privatkolonie durch den belgischen Staat.
3.2. Belgische Kolonialzeit
Im Gegensatz zu Leopolds Privat-„Freistaat“ verfugte der Kongo unter belgischer Herrschaft mit der 1908 erlassenen Kolonialverfassung („charte coloniale“) zumindest uber formale Attribute der Rechts- staatlichkeit. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung sind hingegen kaum Unterschiede erkennbar, was Nzongola-Ntalaja mit der normativen Kraft der unter Leopold geschaffenen Strukturen erklart: „the Belgian government had to operate on the basis of what had already been established economically and administratively since 1885.“[28] So blieb trotz des Versuchs, koloniale Herrschaft mit den Argument einer zivilisatorischen Mission zu legitimieren,[29] das System der kolonialen Trinitat einschlieBlich der profitmaximierenden Zwangsarbeit, zunehmend auch im Bergbausektor, in seinen Grundzugen beste- hen. Die staatlichen Aufgabenfelder waren weiterhin „largely limited to security and extraction44,[30] die Wirtschaft wurde weiter belgisiert[31] und der soziokulturelle Bereich blieb weiterhin den Kirchen uber- lassen. Deren Politik einer Minimalbildung nach dem Prinzip „pas d’ elites, pas d’ ennemis“[32] sorgte dafur, dass ein eventuelles Streben der lokalen Bevolkerung nach ohnehin nicht eingeraumten politi- schen Partizipationsmoglichkeiten erst gar nicht auf breiter Basis artikuliert werden konnte. Scharfer als Nzongola-Ntalaja, der das neue System immerhin „just as oppressive, albeit in a less brutal manner“[33] findet, urteilt der belgische Historiker und ehemalige Kolonialdistriktskommissar Jules Marchal: „Das neue System war fast genauso brutal, nur heuchlerischer.“[34]
Diese „triple mission of economic exploitation, political repression and cultural oppression44[35] wurde nach dem Ersten Weltkrieg auf die nun von Belgien treuhanderisch verwalteten ehemaligen deutschen Kolonien Ruanda und Burundi ausgeweitet. Die Treuhandgebiete wurden dabei nicht als administrativ eigenstandige Einheiten weitergefuhrt, sondern in die Kongo-Verwaltung inkorporiert: „[...] Belgium governed the three territorial units as a single colonial entity known as Le Congo Belge et le Ruanda- Urundi, with a single Army, the Force Publique, and a single governor-general in Kinshasa.44[36] Diese zentrale und einheitliche Verwaltung begunstigte Migrationsbewegungen (kolonial induzierte wie Wander- und Zwangsarbeit, Dienst in oder Flucht vor der Force Publique und gezielte Umsiedlungen ebenso wie gewohnliche und turnusgemaBe Ortswechsel im Rahmen des Wanderhackbaus) uber Territorial- grenzen hinweg. Im Zuge dieser Migrationsbewegungen siedelten sich einzelne ruandophone Gruppen im ostlichen Kongo (der heutigen Kivu-Region) an.[37]
Ab den zwanziger Jahren trat die koloniale Gesellschaft in einen Wandlungsprozess ein: Mit steigender Technisierung ersetzte der Fach- den Wanderarbeiter, zunehmende Urbanisierung fuhrte zur Herausbil- dung einer stadtisch-kleinburgerlichen Schicht aus Hilfsbeamten, Hausangestellten usw. In dieser ent- standen (in der Regel berufsgruppenintern) zunachst weitgehend apolitische Spar- und Unterstutzungs- vereine. Daruber hinaus boten vor allem religiose Bewegungen auch ersten aufkeimenden nationalis- tisch-antikolonialistischen Tendenzen einen gewissen Entfaltungsraum.[38] Das jetzt vernehmlicher arti- kulierte Partizipationsinteresse der Untertanen traf auf steigende Anforderungen der Kolonialverwaltung an ihr Hilfspersonal und fuhrte 1936 zur Schaffung der sozialen Kategorie der „evoulees“, einer zah- lenmaBig allerdings marginal bleibenden Mittelschicht-Keimzelle, deren Angehorige zunachst zwar noch keine Moglichkeit politischer Partizipation, aber immerhin erweiterte Bildungschancen zugestan- den bekamen.[39]
Das Ende des Zweiten Weltkrieges und das Aufkommen nationalistischer oder panafrikanischer, jeden- falls aber antikolonialer Bewegungen in weiten Teilen des Kontinentes beschleunigte den Wandel der kolonialen Herrschaftsstrukturen: Belgien, das auch auf lange Sicht nicht plante, seine Kolonie in die Unabhangigkeit zu entlassen,[40] erlag dem Irrtum, mit politischen Teilzugestandnissen und verbessertem Sozialsystem die Selbstbestimmungsforderungen kanalisieren und in den Aufbau einer belgisch- kongolesischen Mittelschicht umleiten zu konnen. Das kirchliche Minimal-Sozialsystem wurde durch staatliche Beteiligung massiv ausgeweitet, bald wurden in der Kolonie drei Universitaten gegrundet, beachtliche Einschulungszahlen erreicht und „mehr Krankenhausbetten als in allen anderen schwarzaf- rikanischen Landern zusammen“[41] gezahlt. Es kam zu Parteigrundungen und 1957 wurden mit der Ab- haltung von Kommunalwahlen erstmals relevante politische Partizipationsmoglichkeiten eingeraumt.
Jedoch wurden weder der Kolonialismus an sich noch die rassistisch-hierarchische Gesellschaftsstruktur auch nur in Frage gestellt.
Die belgische Illusion, die antikolonialistischen Krafte im Kongo kontrollieren zu konnen, zerschlug sich spatestens 1959, als eine kurzfristig verbotene Parteiversammlung nicht aufgelost werden konnte und zu massiven Krawallen eskalierte, die erst die blutige Intervention der Force Publique beenden konnte. Schockiert vom Gefahrenpotential ihrer Kolonie beschloss die belgische Regierung einen Kurswechsel, strickte nach kurzen Verhandlungen mit kongolesischen Politikern hastig eine Verfas- sung, lieB Wahlen abhalten und schubste das Land am 30. Juni 1960, kaum eineinhalb Jahre nach den Krawallen, in die Unabhangigkeit. Eine Meuterei der Force Publique nahm sie zum Anlass, wenig spa- ter auch die ubergangsweise weiterbeschaftigten etwa 10000 belgischen Verwaltungsbeamten aus dem Kongo abzuziehen.[42] Da die lokale Elitenbildung gerade erst begonnen hatte, wurde die Handlungsfa- higkeit des Staates durch diesen Schritt massiv geschwacht. Hochschild beschreibt: „[Zum Zeitpunkt der Unabhangigkeit...] gab es auf dem gesamten Territorium weniger als 30 Afrikaner mit Hochschulab- schluss. Weder kongolesische Offiziere noch Ingenieure, Agronomen oder Arzte standen bereit. [...Von...] etwa 5000 leitenden Angestellten im offentlichen Dienst [waren] nur ganze drei Afrikaner.“[43]
3.3. Konstruktion und Politisierung von Ethnizitat im kolonialen Kongo
Das massive Hereinbrechen des Kolonialstaates, verkorpert durch Militar, Mission und Verwaltung, hatte in den lokalen Gesellschaften tiefgreifende Veranderungen aller Lebensbereiche zur Folge, ein- schlieBlich der sozialen Bezugsrahmen und Identifikationsgruppen. Bei dieser Aus- und Umbildung von Ethnizitat ist ein mehrstufiger Prozess zu beobachten. Einerseits wurden durch Fremdzuweisungen Ethnien[44] definiert, zum Teil wohl auch erst durch die Definition konstruiert. Wesentliche Anteile hatten hier die Kirchen, vor allem durch die Kodifizierung der Sprache,[45] und die Kolonialverwaltung durch Ausubung indirekter Herrschaft mittels vorgeblich ethnisch-traditionell legitimierter Intermediare.[46] Der Versuch, diese zum Teil weitgehend willkurlich konstruierten, zumindest aber in ihren Grenzen zementierten Ethnien wissenschaftlich zu beschreiben, verscharfte die Situation dramatisch. Die Zu- schreibung ethno-spezifischer Fahigkeiten und Charaktereigenschaften war in der kolonialen Ethnogra- phie gangige und unwidersprochene Praxis. Angehorige verschiedener Ethnien sahen sich also plotzlich kollektiv als intelligent, rechtschaffen, verschlagen, bodenstandig oder zivilisationsempfanglich charak- terisiert, mitunter auch nach Verwendbarkeit: als gute Soldaten, Schmiede, Koche, Verwaltungsbeamte etc.[47]
[...]
[1] Der Spiegel, 33/03
[2] z.B. in taz, 27. 05. 03
[3] Der Spiegel, 18/03
[4] Wirz 2001: 120
[5] Nzongola-Ntalaja 2002: 33
[6] Young/Turner 1985: 22
[7] Vansina 1970: 247
[8] Hochschild 2000: 18
[9] vgl. Hochschild 2000: 16 f
[10] vgl. Hochschild 2000: 18
[11] vgl. Hochschild 2000: 21 ff
[12] Des Forges 2003: 55
[13] vgl. Des Forges 2003: 57
[14] Da es sich um einen kulturellen Aspekt handelt, ist eine kulturelle Kategorie wie „Sprache“ offensichtlich sinnvoller als eine politische wie „Staatsangehorigkeit“
[15] Young/Turner 1985: 138
[16] vgl. Des Forges 2003: 56 ff
[17] Des Forges 2003: 56
[18] Des Forges 2003: 57
[19] Allerdings lasst sich die ohnehin nicht sonderlich ausgepragte Korrelation auch nichtgenetisch erklaren - etwa durch Ernah- rung (so kann bei Viehzuchtern eine tendenziell eiweiBreichere Nahrung angenommen werden) oder sozioprofessionelle Deformation (der klassische Hackbau geht einher mit schwerer korperlicher Arbeit in gebuckter Haltung, Viehbesitz und Wei- dewirtschaft dagegen eher mit weiten Wegen und moglichst gestreckt- uberblickender Haltung)
[20] vgl. Nzongola-Ntalaja 2002: 16 f
[21] Young/Turner 1985: 24
[22] Harding et al., http://www.rrz.uni-hamburg.de/Konflikt-Afrika/KK-DA-KongoC-FS.Anfa.html
[23] Schicho 1999b: 214
[24] Wrong 2002: 51
[25] ab 1906 infolge eines Exklusivvertrages mit Konig Leopold als einzige staatlich unterstutzt, vgl. Harding et al.: http://www.rrz.uni-hamburg.de/Konflikt-Afrika/KK-DA-KongoC-FS.Anfa.html
[26] vgl. Schicho 1999b: 214 f; Young/Turner 1985: 138 ff
[27] vgl. Wrong 2002: 55 f
[28] Nzongola-Ntalaja 2002: 26
[29] vgl. dazu Young/Turner 1985: 36 f
[30] Young/Turner 1985: 397
[31] vgl. Schicho 1999b: 216
[32] Wrong 2002: 59
[33] Nzongola-Ntalaja 2002: 26
[34] zit. nach Wrong 2002: 57
[35] Nzongola-Ntalaja 2002: 27
[36] Nzongola-Ntalaja 2002: 216
[37] vgl. Harding et al., http://www.rrz.uni-hamburg.de/Konflikt-Afrika/KK-DA-KongoL-Ethn.-Anf.html
[38] vgl. zum DekolonisationsprozeB Schicho 1999, S. 216 ff
[39] vgl. Schicho 1999: 216f
[40] Schicho (1999, S. 217) berichtet, noch 1955 sei ein DreiBigjahesplan zur Dekolonisierung als zu kurzfristig miBbilligt worden. Vgl. auch Wrong 2002: 69
[41] Wrong 2002: 58
[42] Schicho 1999b: 220
[43] Hochschild 2000: 423
[44] zur Differenzierung zwischen „Ethnie“ und „ethnische Gruppe“ vgl. KoBler/Schiel 1997: 8
[45] Young und Turner (1985, S. 142) zeigen an der Kikongo-Sprachfamilie exemplarisch, wie identitatsstiftende Regionalidio- me mit den Missionsgebieten verschiedener Kirchen zusammenfallen.
[46] Praktischerweise war auch bei so tiefgreifenden Verwaltungsreformen wie einer Verdoppelung der Cheftumer (zwischen 1914 und 1919) immer eine passende Ethnie mit genehmen Kandidaten zur Hand, vgl. Schicho 1999, S. 215
[47] Die Tatsache, dass in manchen vorkolonialen Gesellschaften weniger Verwandtschaft als vielmehr Beruf das identifikati- onsbestimmende Prinzip sozialer Organisation war (fur Schmiede gilt das z.B. in weiten Teilen Afrikas), mag diesen Irrglau-