Der Streit um die Rechtfertigungslehre ist neu entbrannt! Was dem
Protestantismus seit reformatorischen Zeiten als „articulus stantis et cadentis
ecclesiae“ gilt, ist seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu
einem heiß umstrittenen Gegenstand exegetischer Debatten geworden.
Dabei ist insbesondere die im deutschsprachigen Bereich dominierende
lutherisch geprägte Paulusinterpretation, wie sie für das 20. Jahrhundert
nahezu klassisch R. Bultmann formuliert hat, ins Kreuzfeuer der Kritik
geraten: Nämlich, dass der Mensch nicht durch die Werke des Gesetzes zum
Heil gelangen kann und soll, damit er nicht dem Irrtum erliegt, er könne sein
Heil aus eigener Kraft besorgen, das doch seinen Grund ganz allein in Gott
selbst hat. Anstatt sich seiner Leistungen vor Gott zu rühmen, kommt
demnach für den Menschen alles darauf an, sein Verlorensein zu erkennen –
denn wo das eigene Bemühen um das Heil aufhört, ist der Weg frei für
Gottes zugesprochene und geschenkte Gerechtigkeit.1
Diese Sichtweise paulinischer Theologie soll nach dem Willen einiger
internationaler Exegeten durch die so genannte „Neue Paulusperspektive“
abgelöst werden: Ein „Paradigmenwechsel“ 2 steht ihrer Meinung nach an, ein
„erfrischend neue[r] Zugang zur paulinischen Theologie“3 mit „erhebliche[m]
Innovationspotential“ 4. Seine Grundlagen sind die Infragestellung oben
skizzierter lutherischer Paulusinterpretation und eine Rehabilitierung des
antiken Judentums als Religion der Gnade, nicht der Gesetzlichkeit.
Wesentlich für die Vertreter der „new perspective“ ist dabei der Anspruch,
„das paulinische Original“ 5 wieder zur Geltung zu bringen, „to see Paul
properly within his own context, to hear Paul in terms of his own time, to let
Paul be himself.“6 [...]
1 Vgl. Bultmann, R.: Theologie des Neuen Testaments, 9. Auflage, durchges. u. erg. v. O.
Merk, Tübingen 1984, S. 260-287.
2 So Strecker, C.: Paulus aus einer „neuen Perspektive“. Der Paradigmenwechsel in der
jüngeren Paulusforschung, in: KuI 11 (1996), S. 3.
3 Ebd., S. 14.
4 Ebd., S. 15.
5 Stendahl, K.: Paulus und das „introspektive“ Gewissen des Westens. Übersetzt von W.
Stegemann, in: KuI 11 (1996), S. 31.
6 Dunn, J. D. G.: The New Perspective on Paul, in: ders.: Jesus, Paul and the Law.
Studies in Mark and Galatians, Louisville 1990, S. 186.
Inhaltsverzeichnis
- Hinführung
- Darstellung der Diskussion um die „Neue Paulusperspektive”
- K. Stendahl – E. Käsemann
- E. P. Sanders – H. Hübner, M. D. Hooker, E. Lohse
- J. D. G. Dunn – H. Hübner, E. Lohse
- Kritische Würdigung der Diskussion um die „Neue Paulusperspektive”
- Integration der Heiden als Leitmotiv paulinischer Theologie?
- Bundesnomismus als Religionsstruktur des antiken Judentums?
- Partizipationistische Eschatologie bei Paulus?
- Auf die Heiden ausgeweiteter jüdischer Bund?
- Abschließendes Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit widmet sich der Diskussion um die „Neue Paulusperspektive", einem Paradigmenwechsel in der Interpretation der Paulusbriefe. Ziel ist es, die zentralen Argumente der „Neuen Paulusperspektive" anhand ihrer wichtigsten Vertreter darzustellen und kritisch zu würdigen.
- Infragestellung der lutherischen Paulusinterpretation
- Rehabilitierung des antiken Judentums als Religion der Gnade
- Neuinterpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre
- Beziehung zwischen Juden und Heiden im Kontext der paulinischen Theologie
- Verständnis von „Gerechtigkeit" und „Heilung" bei Paulus
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Hinführung zur Diskussion um die „Neue Paulusperspektive" und ihrer Relevanz für die reformatorische Theologie. Im zweiten Kapitel werden die wichtigsten Vertreter dieser Sichtweise, wie K. Stendahl, E. P. Sanders und J. D. G. Dunn, vorgestellt und ihre Argumente dargelegt. Das dritte Kapitel widmet sich der kritischen Würdigung der „Neuen Paulusperspektive", wobei die zentralen Themen der Integration der Heiden, des Bundesnomismus, der Eschatologie und der Ausweitung des jüdischen Bundes auf die Heiden analysiert werden.
Schlüsselwörter
Die „Neue Paulusperspektive", Rechtfertigungslehre, Paulusinterpretation, lutherische Theologie, antikes Judentum, Heidenmission, Bundesnomismus, Eschatologie, Integration der Heiden, Verhältnis von Juden und Heiden.
- Arbeit zitieren
- Mario Ertel (Autor:in), 2003, Die sog. Neue Paulus-Perspektive - Darstellung und kritische Würdigung der Diskussion, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/17501