Der Beitrag rekonstruiert die Ideengeschichte des garantierten Mindesteinkommens als longue durée sozialer Emanzipation – von den Armenordnungen der Frühen Neuzeit über Spence, Paine und Charlier bis zu den Debatten um Bürgergeld und neue Grundsicherung. Das Mindesteinkommen erscheint als Gegenfigur zum Tauschprinzip und als Versuch, Freiheit materiell zu institutionalisieren. Vier Traditionslinien prägen seine Entwicklung: die religiös-moralische Pflicht zur Arbeit, die humanistisch-utopische Idee der Teilhabe, der sozialliberale Anspruch auf bürgerrechtliche Sicherung und die postindustriell-feministische Perspektive der Entkommodifizierung. Aufbauend auf dieser Genealogie versteht der Artikel das garantierte Mindesteinkommen als Form „befähigender Sicherheit“: Es verbindet Amartya Sens Capability-Ansatz mit feministischer Care-Theorie, um soziale Rechte nicht länger an Erwerbsarbeit, sondern an Handlungsfähigkeit und Sorgeverantwortung zu binden. So zeigt sich das Mindesteinkommen als Prüfstein des modernen Sozialstaats – nicht als ökonomisches Experiment, sondern als normative Verschiebung von Disziplin zu Freiheit.
Klaus-Uwe Gerhardt
Vom Armenrecht zur Freiheitsgarantie. Die la nge Geschichte einer unbequemen Idee (2025)
Abstract (deutsch)
Der Beitrag rekonstruiert die Ideengeschichte des garantierten Mindesteinkommens als longue durée sozialer Emanzipation - von den Armenordnungen der Frühen Neuzeit über Spence, Paine und Charlier bis zu den Debatten um Bürgergeld und neue Grundsicherung. Das Mindesteinkommen erscheint als Gegenfigur zum Tauschprinzip und als Versuch, Freiheit materiell zu institutionalisieren. Vier Traditionslinien prägen seine Entwicklung: die religiös-moralische Pflicht zur Arbeit, die humanistisch-utopische Idee der Teilhabe, der sozialliberale Anspruch auf bürgerrechtliche Sicherung und die postindustriell-feministische Perspektive der Entkommodifizie- rung. Aufbauend auf dieser Genealogie versteht der Artikel das garantierte Mindesteinkommen als Form „befähigender Sicherheit“: Es verbindet Amartya Sens Capabi- lity-Ansatz mit feministischer Care-Theorie, um soziale Rechte nicht länger an Erwerbsarbeit, sondern an Handlungsfähigkeit und Sorgeverantwortung zu binden. So zeigt sich das Mindesteinkommen als Prüfstein des modernen Sozialstaats - nicht als ökonomisches Experiment, sondern als normative Verschiebung von Disziplin zu Freiheit.
Abstract (English)
This article reconstructs the history of ideas surrounding guaranteed minimum income as a longue durée of social emancipation - from early modern regulations on the poor, through Spence, Paine and Charlier, to debates on citizen's income and new basic social security. Minimum income appears as the antithesis of the principle of exchange and as an attempt to institutionalise freedom in material terms. Four traditions have shaped its development: the religious and moral duty to work, the humanistic and utopian idea of participation, the social-liberal claim to civil rights security, and the post-industrial and feminist perspective of decommodification. Building on this genealogy, the article understands the guaranteed minimum income as a form of ‘empowering security’: it combines Amartya Sen's capability approach with feminist care theory in order to link social rights no longer to gainful employment but to the ability to act and the responsibility to care. Thus, the minimum income emerges as a touchstone of the modern welfare state - not as an economic experiment, but as a normative shift from discipline to freedom.
JEL-Codes: B54, I38, D63, P16, Z13
Schlagwörter (Deutsch): Garantiertes Mindesteinkommen; Grundeinkommen; Sozialstaat; Arbeitsethik; Dekommodifizierung; Capability Approach; Care-Theorie; Ideengeschichte
Keywords (English): Guaranteed Minimum Income; Basic Income; Welfare State; Work Ethics; Decommodification; Capability Approach; Care Theory; History of Ideas
1 Einleitung: Die Wiederkehr einer alten Idee
Mit der Abschaffung des Bürgergelds 2023 und der Einführung einer neuen Grundsicherung im Herbst 2025 hat die Bundesregierung erneut bewiesen, dass Sozialpolitik in Deutschland nicht von Erkenntnis, sondern von Stimmung gesteuert wird.
Wenn das Bürgergeld verschwindet und die Grundsicherung erscheint, bleibt das System dasselbe - nur sein Tonfall wird höflicher. Kontrolle, Bedürftigkeitsprüfung, Erwerbszwang: die Trias der Disziplinierung bleibt bestehen, als hätte man das Korsett neu gefärbt, nicht gelockert. Die Reform ist kein Fortschritt, sondern ein rhetorischer Rückschritt - ein Versuch, den Zwang als Fürsorge zu verkleiden. Doch jedes Mal, wenn das Minimum neu definiert wird, zeigt sich die anthropologische Frage: Was ist der Mensch, wenn er nichts hat? Die Antwort der Bürokratie lautet: ein Fall. Die Antwort des Mindesteinkommens: ein Anspruch.
Das garantierte Mindesteinkommen ist kein Instrument, sondern ein Einspruch - gegen die Idee, dass Leben sich durch Leistung legitimieren muss. Es ist die Rückkehr des Verdrängten: die Vorstellung, dass Existenz genügt. Die Moderne hat diesen Gedanken nie ganz verworfen, nur immer wieder verschoben - in die Utopie, ins Unpraktische, ins Unbezahlbare. Doch gerade dort, wo die Ordnung der Arbeit ins Wanken gerät, taucht er wieder auf, wie ein Gespenst, das nicht ruht, weil es nie anerkannt wurde. Die Armenordnungen der Frühen Neuzeit wussten bereits, dass Hilfe nie neutral ist: sie lindert und diszipliniert zugleich. Die Moderne hat daraus ein System gemacht - effizient, rational, entmenschlicht. Das Mindesteinkommen ist die Frage, die dieses System nicht beantworten kann: Warum muss man sich das Recht zu leben verdienen?
2 Arbeit und Almosen - Die moralische Geburt der Armut
Die Armenordnungen der frühen Neuzeit kannten das, was der moderne Staat bis heute vollzieht: Hilfe als Kontrolle. Wer um Unterstützung bat, verlor das Anrecht auf Würde. Barmherzigkeit war die Form, in der Herrschaft menschlich werden wollte - und blieb doch ihre Maske. Der Arme wurde nicht entlastet, sondern vorgeführt.1
Armut war kein Zustand, sondern ein Urteil. Sie trennte die Tüchtigen von den Überflüssigen und erhob Arbeit zum moralischen Prüfstein. Noch bevor der Kapitalismus die Menschen ökonomisch disziplinierte, hatte die Religion sie moralisch zur Arbeit verpflichtet. Der protestantische Geist bereitete vor, was die Fabrik vollendete: die Transformation der Pflicht in eine innere Stimme.2
Das garantierte Mindesteinkommen kehrt diesen Imperativ um. Nicht mehr der Mensch muss sich nützlich machen, um zu leben; vielmehr muss sich die Gesellschaft rechtfertigen, wenn sie Leben von Nutzen abhängig macht. Diese Umkehrung ist keine bloße Umverteilung, sondern ein Angriff auf den Ursprung der Moralökonomie. Denn in ihr wird die Schuld, die der Arme vor Gott trug, an die Gesellschaft zurückverwiesen.
3 Von der Utopie zum Bürgerrecht - Die humanistische Spur
Was Thomas Morus in Utopia (1516) als Vision einer gerechten Ordnung beschrieb, erhob Thomas Spence zum Prinzip: Eigentum an der Erde sollte Gemeinbesitz sein, der Ertrag als regelmäßige Dividende allen zukommen - nicht als Almosen, sondern als Anteil an der Welt selbst.3 Spence gilt damit als Erfinder des modernen Grundeinkommens, weil er die soziale Frage mit der Eigentumsfrage verknüpfte.
Thomas Paine übersetzte diesen Gedanken in die Sprache des Naturrechts: In Agrarian Justice (1797) forderte er eine Grunddividende für alle, finanziert aus gemeinschaftlichen Bodenerträgen.4
Joseph Charlier schließlich formulierte 1848 in Solution du problème social die erste ökonomische Berechnung eines „Revenu garanti“.5
In diesen drei Gestalten - Spence, Paine, Charlier - verdichtet sich der Übergang von Gnade zu Struktur. Das Soziale emanzipiert sich vom Zufall des Mitleids. Doch je stärker die Institutionen wurden, desto leiser die Utopie. Der Sozialstaat rationalisierte die Gerechtigkeit und bürokratisierte das Gewissen. Das Mindesteinkommen ist die Institution gewordene Kritik an der Institution - Utopie in verwalteter Form.
4 Die Ordnung der Arbeit - Vom Bürgerrecht zur Disziplin
Mit der Industrialisierung gewann Arbeit den Charakter einer Staatsräson. Der Bürger wurde produktionsfähig, der Mensch berechenbar. In Deutschland formulierte Heinrich Heimann bereits 1929, soziale Sicherheit sei Bedingung demokratischer Freiheit - doch das Instrument, das schützen sollte, begann bald zu reglementieren.6
Der Sozialstaat brachte Gerechtigkeit hervor, indem er sie vermaß. Das Recht auf Existenz wurde an die Kategorie der Erwerbsfähigkeit gebunden. In der Nachkriegszeit versuchten Claus Offe und Ralf Dahrendorf, diese Dialektik zu durchbrechen - Arbeit blieb aber der Prüfstein sozialer Zugehörigkeit, selbst wo sie als Freiheit proklamiert wurde.7
Das garantierte Mindesteinkommen trennt Recht und Erwerb. Was Heimann institutionalisierte, Offe kritisierte und Dahrendorf normativ stabilisierte, hebt das GMI als Negation auf: Es gibt das Recht zurück, ohne die Pflicht zu verlangen.
5 Arbeit ohne Herrschaft - Die postindustrielle Kritik
Mit der technologischen Produktivität zerfällt das alte Versprechen der Arbeit. André Gorz sah darin keine Befreiung, sondern die Perfektionierung der Abhängigkeit: Je weniger Arbeit notwendig ist, desto mehr wird sie ideologisch überhöht.8 Esping-Andersen übersetzte diesen Gedanken institutionell: Entkommodifizierung bedeutet, dass soziale Rechte nicht vom Markterfolg abhängen.9
Feministische Theorien ergänzen diesen Blick: Frigga Haug spricht von der Gleich- rangigkeit von Erwerbs-, Reproduktions-, Kultur- und politischer Arbeit;10 Gabriele Winker fordert eine Care Revolution, damit Lebenszeit nicht dem Profitprinzip geopfert wird.11 Das GMI wäre hier nicht nur Armutsabwehr, sondern Anerkennung der unsichtbaren Reproduktionsarbeit - Voraussetzung einer Zeitgerechtigkeit.
6 Das Maß der Freiheit - Normative Bilanz
Vier Linien - moralisch, humanistisch, sozialliberal, feministisch - bilden das Gerüst des Mindesteinkommens. Sie kreuzen sich in einem Gedanken: Freiheit ist keine Eigenschaft, sondern eine Relation.
Van Parijs und Vanderborght sprechen von realfreedom for all;12 Nancy Fraser fordert eine Neuausrichtung von Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation; 13 Ronald Blaschke betont die demokratische Tradition des Grundeinkommens;14 Richard David Precht macht es populär?15
In Ein Bürgergeldfür alle? habe ich gezeigt, dass das Mindesteinkommen eine institutionalisierte Form menschlicher Handlungsfähigkeit ist?16 Befreite Arbeit erweitert diesen Ansatz um den Capability- und den Care-Ansatz: Freiheit als Verwirklichungschance und Fürsorge als soziale Praxis?17
7 Schluss: Befreite Arbeit - oder das Ende des Tauschzwangs
Die Ökonomie, die sich selbst als Wissenschaft der Knappheit versteht, wird durch das garantierte Mindesteinkommen an ihren Überfluss erinnert: nicht an Güter, sondern an Möglichkeiten. Was als Transfer verbucht wird, ist ein Bruch mit der Grammatik des Tauschs - ein Satzzeichen der Anerkennung, das nicht auf Erwerb folgt. Die Schuld, die jede Lohnarbeit in sich trägt, ist nicht ökonomisch, sondern ontologisch: das Leben als Hypothek auf die Arbeitskraft. Ihre Suspendierung ist kein Erlass, sondern ein Einspruch gegen die Erpressung des Notwendigen. Freiheit beginnt dort, wo das Müssen nicht mehr als Tugend gilt. In Hegels Worten: das Sein-bei-sich im Anderen - nicht als Ideal, sondern als Institution. Das Mindesteinkommen wäre dann nicht die Lösung, sondern die Frage, die sich selbst stellt.
Fußnoten:
1 Vgl. Geremek, B. (1988): Armen, Bettler, Räuber. Zur Sozialgeschichte Europas am Ende des Mittelalters, München: Beck, S. 73-95.
2 Vgl. Weber, M. (1905): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr, S. 43 ff.
3 Spence, T. (1793): The Rights of Infants; ders. (1798): The Constitution of Spenso- nia. London (Neuaufl. 1996, ed. by Alison Walsh).
4 Paine, T. (1797): Agrarian Justice, London (Neuaufl. Penguin Classics 2023), S. 17 ff.
5 Charlier, J. (1848): Solution du problème social ou constitution humaine fondée sur la loi naturelle de la solidarité, Brüssel.
6 Heimann, H. (1929): Soziale Politik und Soziologie, Berlin: Walter de Gruyter, S. 45 ff.
7 Offe, C. (1984): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 73-91; Dahrendorf, R. (1980): Arbeit und Bürgerrecht, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 24 ff.
8 Gorz, A. (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 57-63.
9 Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton: Princeton University Press, S. 21 ff.
10 Haug, F. (2009): Die Vier-in-einem-Perspektive, Hamburg: Argument-Verlag, S. 12-19.
11 Winker, G. (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld: transcript, S. 41-59.
12 Van Parijs, P. / Vanderborght, Y. (2017): Basic Income - A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy, Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 42-71.
13 Fraser, N. (2023): Cannibal Capitalism. How Capitalism Devours Democracy, Care, and the Planet - and What We Can Do about It, London: Verso, S. 84-102.
14 Blaschke, R. u. a. (2021): Grundeinkommen - Geschichte, Modelle, Debatten, Hamburg: VSA, S. 9-35.
15 Precht, R. D. (2022): Freiheit für alle. Das Ende der Arbeit, wie wir sie kannten, München: Goldmann, S. 111-137.
16 Gerhardt, K.-U. (2025): Ein Bürgergeld für alle? Geschichte und Zukunft eines liberalen Vorschlags, Baden-Baden: Nomos, S. 214-227.
17 Sen, A. (2009): The Idea of Justice, Cambridge, MA: Belknap Press, S. 231 ff.
18 Tronto, J. (1993): Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, New York: Routledge, S. 102-118.
19 Huster, E.-U. / Boeckh, J. (2024): Sozialpolitik und Gerechtigkeit, Wiesbaden: Springer VS, S. 132-140.
20 Vobruba, G. (2019): Die Logik des Grundeinkommens, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 44-53.
21 Gerhardt, K.-U. (2025): Befreite Arbeit - Zur Kritik der Erwerbszentrierung im Sozialstaat, im Druck.
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- Klaus-Uwe Gerhardt (Author), 2025, Vom Armenrecht zur Freiheitsgarantie, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1661905