In diesem Essay werde ich die Auflösung der ersten Antinomie rekonstruieren. Dafür soll zunächst herausgearbeitet werden, wieso der die Antinomie definierende Widerspruch falsch formuliert ist und inwiefern ihre Argumente dadurch auf einer falschen Grundannahme basieren. Danach werde ich Kants Begriffskonzeption der Welt als Regress einführen und den Begriff des Regresses genauer erklären. Dafür wird der Begriff des regulativen Prinzips der Vernunft und die Unterscheidung zwischen einem Regress „in infinitum“ und „in indefinitum“ von besonderer Bedeutung sein. Durch das so gewonnene Verständnis für den Begriff des Regresses wird schließlich die Auflösung der ersten Antinomie möglich sein.
Rekonstruktion der Auflösung der ersten Antinomie
In diesem Essay werde ich die Auflösung der ersten Antinomie rekonstruieren. Dafür soll zunächst herausgearbeitet werden, wieso der die Antinomie definierende Widerspruch falsch formuliert ist und inwiefern ihre Argumente dadurch auf einer falschen Grundannahme basieren. Danach werde ich Kants Begriffskonzeption der Welt als Regress einführen und den Begriff des Regresses genauer erklären. Dafür wird der Begriff des regulativen Prinzips der Vernunft und die Unterscheidung zwischen einem Regress „in infinitum“ und „in indefinitum“ von besonderer Bedeutung sein. Durch das so gewonnene Verständnis für den Begriff des Regresses wird schließlich die Auflösung der ersten Antinomie möglich sein.
Kant deutet auf den Ausgangspunkt der Auflösung der ersten Antinomie hin, wenn er schreibt, dass „Wenn zwei einander entgegengesetzte Urteile eine unstatthafte Bedingung voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Widerstreits (der gleichwohl kein Widerspruch ist), alle beide weg, weil die Bedingung wegfällt, unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte.“1 2 Es handelt sich also bei der ersten Antinomie genau dann um einen bloßen Widerstreit, wenn für sie nachgewiesen werden kann, dass sowohl Thesis als auch Antithesis eine falsche, gemeinsame Bedingung haben. Um diese falsche Bedingung ausfindig zu machen, muss der die Antinomie definierende Widerspruch von Thesis und Antithesis untersucht werden. Dafür muss erklärt werden, was genau es bedeutet, wenn zwei Urteile „[...] einander kontradiktorisch entgegengesetzt [,..]“2 sind.
Dies erklärt Kant zunächst am Beispiel der Eigenschaft „Geruch“. Es könnte angenommen werden, dass die Aussagen „Dieser Körper riecht gut“ und „Dieser Körper riecht schlecht“ einen Widerspruch bilden. Dabei wird jedoch übersehen, dass der Körper auch nicht riechen könnte. Wenn die Aussage „Dieser Körper riecht gut“ falsch ist, kann daraus nicht gefolgert werden, dass „Dieser Körper riecht gut“ richtig ist, da „Dieser Körper riecht nicht“ ebenfalls möglich ist. Ein korrekter Widerspruch kann nur erreicht werden, wenn eine Aussage negiert wird. Denn aus der Negation einer Aussage lässt sich folgern, dass das Gegenteil wahr ist oder weder die Aussage noch ihr Gegenteil gelten. Bezüglich des genannten Beispiels würden also die Sätze „Dieser Körper riecht gut“ und „Dieser Körper riecht nicht gut“ einen korrekten Widerspruch bilden (dabei muss „nicht gut“ nicht als eigene Eigenschaft, sondern als Negation von „gut“ verstanden werden).3
Dieses Verständnis eines Widerspruchs wird nun auch auf die erste Antinomie angewandt. Bezüglich der Welt besteht der Widerspruch darin, dass sie als „[...] entweder unendlich, oder endlich [. ]“4 bezeichnet wird. Dadurch wird die Möglichkeit, dass sie nicht ist, ausgeschlossen und somit „[.] eine Bestimmung zur Welt, als einem an sich wirklichen Dinge [.]“4 5 hinzugesetzt. Diese Form des Widerspruchs bezeichnet Kant als „dialektisch“, der korrekte „analytische“ Widerspruch würde darin bestehen, der Aussage „Die Welt ist unendlich“ bloß ihre Negation „Die Welt ist nicht unendlich“ gegenüberzustellen.
Beim dialektischen Widerspruch wird die Welt also einfach als Ding an Sich vorgestellt, das bleibt, auch wenn man „[.] den unendlichen oder endlichen Regressus in der Reihe ihrer Erscheinungen [.]“6 aufhebt. Dabei handelt es sich jedoch um „[.] transzendentalen Schein [.]“7 der aus einer nicht transzendental-idealistisch formulierten Erkenntnistheorie entspringt. Die falsche gemeinsame Bedingung der Antithesis und Thesis ist somit erkannt und die Antinomie als bloß dialektischer Widerstreit enttarnt worden.
Für die vollständige Auflösung der Antinomie muss nun geklärt werden, wie der Begriff „Welt“ korrekt verstanden werden muss. Wenn man Kant folgend davon ausgeht, dass Dinge an Sich niemals erkannt werden können, kann die Welt nur noch „[.] im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen [.]“8 angetroffen werden. Sie ist durch die von unserem Verstand vorgenommene Synthesis von Erscheinungen bedingt und kann somit kein „[.] unbedingtes Ganzes [.]“9 sein. Die Welt ist also zwar kein unbedingtes Ganzes, existiert jedoch als „[.] Problem für den Verstand [.]“10, der „[.] den Regressus in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten [.]“11 vorstellt und so die Idee einer „Totalität“12 hervorbringt. Es ist also notwendig herauszustellen, nach welcher Regel der Verstand diesen Regress durchläuft, um zu verstehen, wie der Begriff „Welt“ erzeugt wird.
Der Ursprung des Regresses ist der „[.] Grundsatz der Vernunft [.] in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen [.] niemals [.] bei einem Schlechthinunbedingten stehen zu bleiben“.13 Durch diese Regel wird nur ausgesagt, was „[...] im Regressus geschehen soll [...]“.14 Sie erklärt also, wie unser Verstand mit einer bestimmten Art gegebener Erscheinungen umgeht, ohne dass irgendeine Aussage darüber getroffen wird, welche Erscheinungen dem Verstand gegeben sind. Kant bezeichnet diese Regel als „regulativ“ und grenzt sie von einer „konstitutiven“ Regel ab. Eine solche würde annehmen, dass es eine Reihe von Objekten gibt, die jeweils durch ein weiteres Objekt bedingt sind, und unabhängig von unserem Verstand existieren. Wir dürfen aber nicht einfach davon ausgehen, dass ein solcher Regress objektiv existiert, da wir nur bestimmen können, wie er durchlaufen wird, ihm aber dadurch keine Realität als Ding an sich zuschreiben dürfen.15
Nachdem herausgestellt wurde, dass es sich bei der Welt um einen Regress handelt, muss nun diskutiert werden, welche Arten des Regresses es gibt. Kant unterscheidet zwischen dem Regress „in infinitum“ und „in indefinitum“. Ein Regress „in infinitum“ geht „[.] ins unendliche [.]“16 und wird dadurch definiert, dass in ihm „[.] das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben [.]“17 ist. Die durch ihn vorgestellte Unendlichkeit wird als begrenzt gedacht, wie an dem von Kant gegebenen Beispiel der Teilung eines Körpers ersichtlich wird.18 Es ist vorstellbar, einen Körper immer weiter zu teilen, dieser Regress findet jedoch insofern innerhalb bestimmter Grenzen statt, als dass der Körper als Ganzes angeschaut werden kann und gegenüber anderen Anschauungen abgegrenzt ist. Es darf dabei nicht der Fehler gemacht werden, den Körper als ein unendlich teilbares Ding an sich anzusehen, da hier nur gesagt werden soll, dass der aus der Vorstellung der Teilung des Körpers entspringende Regress ins Unendliche geht. Beim Regress „in indefinitum“ hingegen ist nur „[.] ein Glied der Reihe [.]“19, die unendlich lang durchschritten werden soll, gegeben. Die Unendlichkeit liegt also nicht in der Anschauung, sondern wird als das Ergebnis des Regresses gedacht. Dieser endet aber nie, da in ihm nie ein unbedingtes Glied angetroffen wird. Der Regress in indefinitum wird von Kant durch das Beispiel der Vorfahren einer gegebenen Person exemplifiziert.20 Der Regress besteht darin, dass es stets notwendig ist, sich zu einem Vorfahren dessen Vorfahren vorzustellen usw., da man nie auf eine Person stoßen wird, deren Existenz unbedingt ist. Die Reihe der Vorfahren ist allerdings nie als Ganzes in der Anschauung gegeben, sondern wird nur als ein Regress, bei dem man immer weiter fortschreiten kann, gedacht.
Im Folgenden soll diese Unterscheidung für die Auflösung der ersten Antinomie nutzbar gemacht werden. Wie oben bereits diskutiert, kann die Auflösung der Antinomie nur darin bestehen, ein richtiges Verständnis des Begriffs „Welt“ zu erlangen. Denn der Fehler, auf dem die Antinomie beruht, ist das Verständnis der Welt als ein verstandsunabhängig existierendes, erkennbares Ding and sich. Diesem müssen wir nun den korrekten Begriff der Welt gegenüberstellen. Wir finden ihn in dem Regress vor, der sich aus der Synthesis aller bereits vergangenen Zeitpunkte beziehungsweise aller existierenden Dinge ergibt.21 22 Dabei gilt aufgrund des regulativen Prinzips des Verstandes, dass die vergangenen Zeitpunkte und die existierenden Dinge als in unserem Verstand liegende Erscheinungen gedacht werden müssen. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser Regress „in infinitum“ oder „in indefinitum“ geht.
Da der Begriff der Welt keine objektive Realität hat und die Welt auch nicht „[...] (als Ganzes) in der Anschauung [. ]“22 vorliegen kann, ist es nur möglich, seine absolute Größe zu ermitteln, indem die absolute Größe des Regresses festgestellt wird. Über die absolute Größe des Regresses kann allerdings vor seiner Vollendung keine Aussage getroffen werden. Da er nicht vollendet werden kann, kann diese Aussage niemals getroffen werden. Er kann nicht vollendet werden, weil wir weder bei der Synthesis der vergangenen Zeitpunkte noch der Synthesis der Dinge in der Welt jemals auf eine Erscheinung stoßen, die nicht durch eine weitere Erscheinung bedingt ist. Es ist also „[.] die Größe des Ganzen der Erscheinungen gar nicht schlechthin bestimmt [.]“23, also geht der Regress nicht ins Unendliche. Denn beim Regress „in infinitum“ muss die Größe des Regresses schon bestimmt sein, hier hingegen ist es stets notwendig, in der Reihe der Erscheinungen fortzuschreiten, es handelt sich somit um einen Regress „in indefinitum“. Bezüglich der Welt gilt somit, dass sie räumlich und zeitlich nicht unendlich ist. Ihr wahrer Begriff ist der eines Regresses, der keine absolute Größe hat und der Regel folgt, in einer Reihe von Bedingungen stets das vorherige Glied zu suchen, ohne jemals ein Unbedingtes zu finden.
Zu Beginn habe ich gezeigt, dass es sich bei der ersten Antinomie um einen bloßen Widerstreit handelt, da die Begriffe „endlich“ und „unendlich“ kein kontradiktorisches Gegensatzpaar bilden. Dadurch ist es möglich, die der Antinomie zugrundeliegende falsche Annahme zu entdecken. Der Begriff „Welt“ darf nicht als ein objektiv existierende Ding an sich verstanden werden. Er kann nur im Regress gefunden werden, der sich aus der Synthesis aller vergangener Zeitpunkte beziehungsweise aller Dinge in der Welt ergibt, die beide als Erscheinungen gedacht werden müssen. Da Synthesis ein mentaler Prozess ist, unterliegt der Regress dem regulativen Prinzip der Vernunft. Dieses verlangt bei einer Reihe von bedingten Erscheinungen in der Synthesis derselben, stets zur nächst Höheren fortzuschreiten. Dieser Prozess kann entweder „in infinitum“ oder „in indefinitum“ geführt werden. Bei dem Begriff der Welt handelt es sich um einen Regress „in indefinitum“, da wir bei der Synthesis der vergangenen Zeitpunkte beziehungsweise der Dinge in der Welt niemals auf eine unbedingte Erscheinung stoßen, aber auch keinen Begriff der Welt als absolutes Ganzes voraussetzen dürfen.
Literaturverzeichnis
Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, Hrsg.: Preussische Akademie der Wissenschaften,
Band III
[...]
1 B531
2 B531
3 Vgl. B531
4 Kant, KrV., AA III B532
5 Kant, KrV., AA III B532
6 Kant, KrV., AA III B532
7 Kant, KrV., AA III B532
8 Kant, KrV., AA III B533
9 Kant, KrV., AA III B533
10 Kant, KrV., AA III B536
11 Kant, KrV., AA III B536
12 Kant, KrV., AA III B536
13 Kant, KrV., AA III B536
14 Kant, KrV., AA III B537
15 Vgl. Kant, KrV., AA III B538
16 Kant, KrV., AA III B540
17 Kant, KrV., AA III B540
18 Kant, KrV., AA III B541
19 Kant, KrV., AA III B540
20 Kant, KrV., AA III B541
21 Vgl. Kant, KrV., AA III B546
22 Kant, KrV., AA III B547
Häufig gestellte Fragen zu "Rekonstruktion der Auflösung der ersten Antinomie"
Was ist das Hauptziel des Essays "Rekonstruktion der Auflösung der ersten Antinomie"?
Das Hauptziel des Essays ist die Rekonstruktion der Auflösung der ersten Antinomie bei Kant. Dies beinhaltet die Herausarbeitung, warum der Widerspruch der Antinomie falsch formuliert ist, die Einführung von Kants Begriffskonzeption der Welt als Regress und die Erklärung des Begriffs des regulativen Prinzips der Vernunft.
Warum ist der die Antinomie definierende Widerspruch laut Kant falsch formuliert?
Laut Kant ist der Widerspruch falsch formuliert, weil Thesis und Antithesis eine falsche, gemeinsame Bedingung voraussetzen. Diese falsche Bedingung besteht darin, die Welt als ein Ding an sich zu behandeln, was im Rahmen des transzendentalen Idealismus problematisch ist.
Was versteht Kant unter dem Begriff "Regress" im Kontext der Welt?
Kant versteht die Welt als einen empirischen Regress der Reihe der Erscheinungen. Die Welt ist durch die Synthesis von Erscheinungen bedingt, die von unserem Verstand vorgenommen wird, und kann somit kein unbedingtes Ganzes sein.
Was ist der Unterschied zwischen einem regulativen und einem konstitutiven Prinzip der Vernunft?
Ein regulatives Prinzip der Vernunft gibt nur an, was im Regressus geschehen soll, ohne eine Aussage darüber zu treffen, welche Erscheinungen dem Verstand gegeben sind. Ein konstitutives Prinzip würde hingegen annehmen, dass eine Reihe von Objekten existiert, die jeweils durch ein weiteres Objekt bedingt sind und unabhängig von unserem Verstand existieren.
Was ist der Unterschied zwischen dem Regress "in infinitum" und "in indefinitum"?
Ein Regress "in infinitum" geht ins Unendliche, wobei das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben ist. Ein Regress "in indefinitum" hingegen hat nur ein Glied der Reihe gegeben, die unendlich lang durchschritten werden soll, und die Unendlichkeit wird als das Ergebnis des Regresses gedacht.
Wie löst Kant die erste Antinomie mithilfe des Regresses "in indefinitum" auf?
Kant löst die Antinomie auf, indem er zeigt, dass die Welt als ein Regress "in indefinitum" verstanden werden muss. Das bedeutet, dass die Welt räumlich und zeitlich nicht unendlich ist, sondern ein Regress, der keine absolute Größe hat und der Regel folgt, in einer Reihe von Bedingungen stets das vorherige Glied zu suchen, ohne jemals ein Unbedingtes zu finden.
Was ist die falsche, gemeinsame Bedingung von Thesis und Antithesis der ersten Antinomie?
Die falsche, gemeinsame Bedingung der Antithesis und Thesis ist das Verständnis der Welt als ein unabhängig vom Verstand existierendes, erkennbares Ding an sich. Dies führt zu einem dialektischen Widerspruch anstelle eines analytischen.
Was ist das regulative Prinzip der Vernunft und wie beeinflusst es den Regress?
Das regulative Prinzip der Vernunft besagt, dass in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen niemals bei einem Schlechthinunbedingten stehen geblieben werden darf. Es beeinflusst den Regress, indem es vorgibt, dass bei der Synthesis von bedingten Erscheinungen stets zur nächsthöheren Bedingung fortgeschritten werden muss.
Wie ist die Welt im Rahmen der Auflösung der Antinomie korrekt zu verstehen?
Die Welt ist als ein Regress zu verstehen, der sich aus der Synthesis aller vergangenen Zeitpunkte bzw. aller Dinge in der Welt ergibt, die beide als Erscheinungen gedacht werden müssen. Dieser Regress ist ein Regress "in indefinitum", da wir niemals auf eine unbedingte Erscheinung stoßen, aber auch keinen Begriff der Welt als absolutes Ganzes voraussetzen dürfen.
- Arbeit zitieren
- Lennard Fredrich (Autor:in), 2023, Rekonstruktion der Auflösung der ersten Antinomie in Kants "Kritik der reinen Vernunft", München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1478786