Mit dem Roman Flughunde hat Marcel Beyer 1996 ein anspruchsvolles Stück deutsche Literaturgeschichte geschaffen, das ihm bereits 1991 beim Klagenfurter-Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willner-Preis einbrachte. Beyer hatte damals aus Auszügen des Manuskriptes vorgelesen.
Beyer wurde am 23. November 1965 in Tailfingen bei Stuttgart geboren. Nach dem Abitur studierte er Germanistik, Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Siegen. Seit 1989 ist er Herausgeber und Mitarbeiter bei verschiedenen literarischen Zeitschriften und Buchreihen. Im Januar/Februar 1996 wurde er Writer in Residence am University College in London, im Frühjahr 1998 an der University of Warwick in Coventry. Beyer lebte bis 1996 in Köln, seither in Dresden. Sein literarisches Werk umfasst 5 Gedichtbände, darunter „Erdkunde“ und „Falsches Futter“, sowie 3 Romane: „Das Menschenfleisch“ [1991], „Flughunde“ [1996] und Spione [2000]. Im Jahr 2001 erhielt er den Heinrich-Böll-Preis als „richtungsweisender Autor“.
Anspruchsvoll ist der Text in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird beim Lesen deutlich, daß hier in einer Art und Weise mit einem dunklen Stück deutscher Vergangenheit umgegangen wird, die keineswegs undiskutiert ist. So muß man feststellen, daß die Handlung zwar im Dritten Reich angesiedelt ist, doch das Fehlen jeglicher ethisch-moralischer Bezugspunkte erstaunt. Die nicht beinhaltete moralische Instanz jedoch geht nicht verlustig, sie wird lediglich in Richtung des Lesers ausquartiert. Zum anderen fordert der Roman die Aktivität des Lesers ein. Die beim Lesen verfolgten Fährten führen am Ende nicht zusammen. Man sieht sich gezwungen, das Buch einige Male zu lesen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Fakten und Fiktionen
3. Der theoretische Hintergrund
3.1 Vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus
4. Zu Roland Barthes
4.1 Texte von Roland Barthes
4.1.1 Mythen des Alltags
4.1.2 Der Tod des Autors
4.1.3 Das Reich der Zeichen
4.1.4 Die Lust am Text
5. Betrachtung des Romans unter dem Blickwinkel der Bartheschen Thesen
5.1 Die Uneindeutigkeit des Zeichens
5.1.1 Das Titelblatt des Romans
5.1.2 Die im Roman verwendete Sprache
5.1.3 Herrmann Karnau
5.1.4 Das Ende des Romans
5.2 Der Widerspruch
5.3 Der Mythos
6. Fazit
7. Bibliographie
1. Einleitung
Mit dem Roman Flughunde hat Marcel Beyer 1996 ein anspruchsvolles Stück deutsche Literaturgeschichte geschaffen, das ihm bereits 1991 beim Klagenfurter-Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willner-Preis einbrachte. Beyer hatte damals aus Auszügen des Manuskriptes vorgelesen.
Beyer wurde am 23. November 1965 in Tailfingen bei Stuttgart geboren. Nach dem Abitur studierte er Germanistik, Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Siegen. Seit 1989 ist er Herausgeber und Mitarbeiter bei verschiedenen literarischen Zeitschriften und Buchreihen. Im Januar/Februar 1996 wurde er Writer in Residence am University College in London, im Frühjahr 1998 an der University of Warwick in Coventry. Beyer lebte bis 1996 in Köln, seither in Dresden. Sein literarisches Werk umfasst 5 Gedichtbände, darunter „Erdkunde“ und „Falsches Futter“, sowie 3 Romane: „Das Menschenfleisch“ [1991], „Flughunde“ [1996] und Spione [2000]. Im Jahr 2001 erhielt er den Heinrich-Böll-Preis als „richtungsweisender Autor“.
Anspruchsvoll ist der Text in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird beim Lesen deutlich, daß hier in einer Art und Weise mit einem dunklen Stück deutscher Vergangenheit umgegangen wird, die keineswegs undiskutiert ist. So muß man feststellen, daß die Handlung zwar im Dritten Reich angesiedelt ist, doch das Fehlen jeglicher ethisch-moralischer Bezugspunkte erstaunt. Die nicht beinhaltete moralische Instanz jedoch geht nicht verlustig, sie wird lediglich in Richtung des Lesers ausquartiert. Zum anderen fordert der Roman die Aktivität des Lesers ein. Die beim Lesen verfolgten Fährten führen am Ende nicht zusammen. Man sieht sich gezwungen, das Buch einige Male zu lesen.
Der Inhalt des Romans lässt sich in einigen Sätzen zusammenfassen. Der Akustiker Herrmann Karnau ist besessen von der Vorstellung, eine Karte mit allen Färbungen der menschlichen Stimme anzulegen. Seine Arbeit im Büro ergänzt er zunächst mit Studien an Tierschädeln. Auf diese Art möchte er sich dem Phänomen der Stimme nähern. Zu seiner eigenen Stimme findet er jedoch keinen richtigen Zugang. Bei der Ausrichtung einer Beschallungsanlage für eine große Propagandaveranstaltung, wird Joseph Goebbels auf Karnau aufmerksam. Als seine Frau Magda erneut ein Kind erwartet, bittet Goebbels Karnau darum, für ein paar Tage dessen fünf Kinder zu sich zu nehmen. Karnau und die Kinder schließen schnell Freundschaft. Besonders zur Ältesten, Helga, hat Karnau eine gute Beziehung.
Im Zuge neuer Technikerprobung wird Karnau beauftragt, an der Front den Feind im Elsaß abzuhören. Doch seine privaten Studien kommen dabei keineswegs zu kurz. Die Schlachtfelder präsentieren ihm ein weit ausgedehntes Klangpanorama, welches er mit Vergnügen nutzt. Um seiner Einberufung zu entgehen, wendet er sich an Goebbels, der dies abwenden kann. Stattdessen gibt man Karnau die Chance, seine wissenschaftlichen Untersuchungen am Hygienemuseum in Dresden vorzustellen. Die dort anwesenden SS-Funktionäre eröffnen ihm die Möglichkeit, seine Studien an lebenden Objekten vertiefen zu können. Karnau nutzt diese Chance. Es wird schnell klar, daß es sich bei den Versuchsobjekten um Menschen handeln wird. Als die Versuchsreihe fehlschlägt, werden die Probanden kurzerhand mit Benzin übergossen und verbrannt.
Kurz vor Kriegsende, wird Karnau dann von einem SS-Arzt beauftragt, im Führerbunker Aufnahmen von Hitler zu machen. Dort befindet sich auch Familie Goebbels. Karnau wird zum einzigen Verbündeten der Kinder, die in täglicher Angst vor der Dunkelheit der Umgebung und den Erwachsenen zu überleben versuchen. Um deren Stimmen endlich konservieren zu können, was Goebbels ihm persönlich untersagt hatte, installiert er heimlich ein Mikrophon in deren Zimmer, und kann so deren letzte Lebensgeräusche, das Schlürfen der mit Gift gefüllten Flüssigkeit und den immer langsamer werdenden Atemrhythmus aufnehmen.
Nach Kriegsende schafft es Karnau unterzutauchen. Er kann dabei die wichtigsten Aufnahmen mitnehmen. 1992 entdeckt man die Räume, in welchem die Versuchsreihen während des Krieges durchgeführt wurden und macht ihn aufgrund von Namenslisten ausfindig. Er trägt allerdings nicht viel zur Erhellung des Zwecks des Archivs bei. Ergebnisse einer Untersuchung von Blutspuren auf dem dort befindlichen Operationstisch ergeben, daß die Räumlichkeiten noch bis vor kurzem benutzt worden waren.
Neben Karnau fungiert Goebbels älteste Tochter Helga noch als Erzählerin. Sie gibt zum einen Einblicke in das Leben ihrer Familie, zum anderen schildert sie den Alltag des Nationalsozialismus aus ihrer Sicht. Freilich geschieht dies unbewußt, schließlich kann sie dessen Dimension und Absicht nicht durchschauen. Ihr kommt zudem die Aufgabe zu, den Roman mit Emotionalität anzureichern.
Die Grundmotivik des Romans besteht aus zwei Elementen: Die Uneindeutigkeit und der Kontrapunkt. Dem Leser begegnen diese Aspekte unentwegt auf dem Weg durch die erzählte Geschichte. In Kombination mit dem historischen Hintergrund, dem Nationalsozialismus, ergibt dies eine spezielle Geschichtsbetrachtung. Beyer selbst deutet in seiner am 22.10.2001 am Goethe-Institut in Tokio gehaltenen Rede, die sich mit dem Roman „Flughunde“ befasst, darauf hin: „Der genaue Blick für Helligkeit und Dunkel in Werken japanischer Autoren ist für mich darum reizvoll, weil Licht nicht als das Gegenteil von Dunkel erscheint. [Sie bilden] nicht zwei einander ausschließende Gegensätze, sondern Schattierungen, Übergänge, ein Verhältnis.“[1]
Der Roman plädiert gegen einen einseitigen Blickwinkel auf die Vergangenheit. Karnau selbst verkörpert all dasjenige, was man sich unter dem Stickwort „Nationalsozialismus“ vorstellt. Helga hingegen wirft ein völlig anderes Licht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. Sie ist schließlich ein Kind und lebt in einer gänzlich anderen Welt als ein Erwachsener. Auch wenn man sagen muß, daß sie maßgeblich von den Ereignissen im Dritten Reich abgeschnitten ist, nur hier und da hat sie einen Einblick [s. 2.], kann man trotzdem behaupten, daß ihr Leben in der damaligen Realität Platz findet. Alles um sie herum ist ihre Realität, sie nimmt diese wahr und betrachtet sie.[2]
Möchte man sich nun ein Bild von der Vergangenheit machen, so muß man sich der Flut von Dokumenten stellen, denn Geschichte ist das, was sie ist: ein Nichts, d.h. sie spricht nicht für sich selbst. Nur indem man sie interpretiert, wird sie zu etwas, wird das Verhältnis begründet. Und dieses Etwas ist immer ein Anderes, je nachdem, welche Absicht der Interpretation zugrunde liegt, oder welchen Betrachtungsstandpunkt man einnimmt.
Die Romanhandlung basiert wie bereits deutlich gemacht, auf historisch belegten Tatsachen. Diese Fakten werden in Verlauf der Handlung mit reinen Fiktionen vermischt. Beyer versteht es dabei vortrefflich, sich der Tätigkeit der Verschleierung zu bedienen. Am Ende sieht man sich als Leser nicht mehr in der Lage, Wahrheit und Fiktion voneinander zu trennen. Dies werde ich beginnend in Abschnitt 2 erörtern.
In den Abschnitten 3 und 4 werde ich Thesen und Texte des französischen Intellektuellen Roland Barthes vorstellen. Barthes gilt als Vorläufer des sogenannten Poststrukturalismus. Durch seine Texttheorie versuchte er den „faschistischen Charakter“ der Sprache zu hintergehen. Den Anforderungen, die Barthes an moderne Literatur hatte, und die jener auch in seinen eigenen Schriften zu verwirklichen versuchte, hat sich Marcel Beyer in „Flughunden“ meisterlich gestellt. Man findet durchgängig Verbindungen zwischen „Flughunde“ und Texten wie „Der Tod des Autors“ oder „Die Lust am Text“. Abschnitt 5 wird dies zeigen.
2. Fakten und Fiktionen
Den konzeptuellen Rahmen des Romans bildet der Nationalsozialismus. Man erfährt dies sogleich im zweiten Absatzes des Buchs. Eine für den Leser bis dahin noch unbekannte Person [Hermann Karnau] beschreibt sehr genau die Vorbereitungen für eine große Massenveranstaltung in einem Sportstadion. Dabei fallen Ausdrücke wie „Scharführer“, „Krieg“, „Parteiabzeichen“, „HJ-Jungen“, „SS“ und „Sieg Heil“. Mittels dieser Wörter wird ein eindeutiger Bereich abgesteckt, in welchem die Handlung ihren Verlauf nehmen soll.
Das erste Kapitel des Buches birgt fast alles in sich, was für die NS-Zeit bezeichnend ist. Der erste Satz des Buches verdeutlicht das Prinzip von Befehl und Gehorsam: „Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein: Zuerst Aufstellen der Wegweiser.“[s.9] Ein Scharführer hetzt seine HJ-Jungen und treibt sie unerbitterlich zum Arbeiten an. Wer seine Aufgabe nicht wie gefordert erfüllen kann, wird unter Androhung von Strafe zurecht gewiesen. Ein Junge, der beim Probeführen eines Rollstuhls in eine Absperrung fährt, wird regelrecht angeschrieen: „Wenn das heute Nachmittag passiert, dann bist du dran. Ein einziger Patzer und es gibt Strafappell.“[S.11] Die Aussage: „Dann bist du dran.“ lässt unmittelbar an die Anwendung physischer Gewalt denken. Und die Ausübung von physischer Gewalt war eine gängige Praxis im 3. Reich
Die beschriebenen Ereignisse verdeutlichen anschaulich, wie sehr das Militärische die Erziehung der Jungen dominiert. Karnau beschreibt ihr Äußeres. Alle Jungen hätten den gleichen Bürstenhaarschnitt: „Alle sind frisch getrimmt, bis auf die Ohren runter, mit ausrasiertem Nacken.“[S.9], und stecken in der selben Uniform der HJ. Ihre Aktivitäten werden zackig, gleichförmig und im Laufschritt ausgeführt [S.10] - eine Vorbereitung auf ihr späteres Soldatenleben.
Doch der Leser wird nicht nur über Äußerlichkeiten und Aktivitäten auf dem Sportplatz selbst informiert. In Karnaus Darstellung selbst schwingt auch die NS-Ideologie mit. Kriegsinvaliden, die ebenfalls an der Generalprobe für die Veranstaltung teilnehmen, werden als Krüppel klassifiziert [S.11], Taubstumme als wehrunfähig bezeichnet. Beides Wörter, die zur damaligen Zeit negativ besetzt waren. Wer wehrunfähig war, war in den Augen der NS-Führung genauso wertlos für die Gesellschaft, wie jemand, der als lebensunwert bezeichnet wurde.
Ferner wird dem Leser die Angst geschildert, welche das Regime verbreitete. Erinnern wir uns an den oben geschilderten HJ-Jungen. Karnaus weiteren Beschreibungen kann man entnehmen, wie dieser nach der Schimpfkanonade regelrecht verstört am Boden kauert und sich unauffällig Knie und Ellenbogen reibt. Schwäche zeigen galt als unmännlich und ebenfalls nicht lebenswert. Als später am Vormittag dann Männer in schwarzen SS-Uniformen auftauchen, um die Vorbereitungen zu begutachten, berichtet Karnau über Verhaltensveränderungen unter den Jungen.[S.14] Doch nicht nur die Angst, welche die Gehilfen des Systems in der Bevölkerung auslösen, wird beschrieben. Auch die Angst der Nazis vor dem Fremden und Andersartigem kommt in den Gedanken zum Ausdruck, die Hermann Karnau bzgl. der Taubstummen hat. Diese tragen für ihn etwas Bedrohliches in sich: „Undurchschaubar sind sie. [...] Die Taubstummen erkennt man nicht. Selbst wenn ein Taubstummer nicht reagieren sollte, falls man ihn anspricht, so könnte er auch einfach ein schweigsamer Mensch sein, oder den Zuruf überhört haben.“[S.16]
Das Motiv der Akustik selbst reiht sich nahtlos in die Verhältnisse des 3. Reiches ein. Tatsächlich war Propaganda ein wichtiger Pfeiler des Systems. Durch Rundfunk und diverse Massenveranstaltungen war sie Vehikel der Machtausübung. Als der Akustiker die Beschallungsanlage und deren Testung auf dem Gelände beschreibt, erfährt man als Leser, daß das Stadion unter der Kraft der Lautstärke regelrecht erbebt, und daß die darin befindlichen Menschen nahezu wie gebannt und verschüchtert zusammenstehen.[S.15]
Der Leser erfährt weiter, daß sich die Rahmenhandlung bereits nach Kriegsausbruch abspielt. Karnau kommentiert dies kurz und knapp: „Es ist Krieg.“[S.9] Er teilt nicht den Grund des Krieges mit, und auch nicht gegen wen Krieg geführt wird. Wegen der eingangs genannten Schlüsselbegriffe erübrigt sich dies. Doch die Worte, welche Beyer seiner Hauptfigur in den Mund legt, erwecken den Eindruck, daß sich auch auf dem Sportfeld eine Art Krieg abspielt. Das Hin- und Herlaufen und die Befehle sind ebenfalls an der Front zu beobachten. Der Unterton des Scharführers wird an manchen Stellen von Karnau als panisch beschrieben, so als würden sich alle unter Beschuß befinden [im übertragen Sinne befinden sie sich ja auch unter Beschuß der Beschallung]. Der Begriff „Front“ fällt ebenfalls: „Die HJ-Jungen knien am Boden und justieren Blindenarme, bis sich eine einheitliche Front ergibt.“[S.13] Ebenso werden Termini verwendet, die normalerweise auf Munitionsgeschosse angewendet werden. Karnau sinniert über die ausgesandten Schallwellen nach [S.10], und fragt sich, an welchen Widerständen die Irrläufer wohl abprallen würde, um schließlich wieder den Redner zu treffen [s. auch 5.1.2 ]. Im weiteren Kontext wird über Stärke und Kampfbereitschaft gesprochen.
Einen weiteren Weg in die Zeit zwischen 1933 und 1945 bahnen die Romanfiguren selbst. Herrmann Karnau, die fünf Kinder von Magda und Joseph Goebbels: Helga, Hilde, Hedda, Helmuth und Holde, Adolf Hitler, um die prominentesten zu nennen. Zwar verhalten sich die literarischen Figuren keineswegs kongruent zu ihren historischen Vorbildern, doch allein die Tatsache, daß existent gewesene Menschen hier als Vorbilder fungierten, führt den Leser direkt in die bereits Geschichte gewordene Vergangenheit, und stützt so den authentischen Charakter des Romans.
Der historische Hermann Karnau, daß kann man dem Vortext des Romans entnehmen, war Wachmann im Führerbunker in Berlin und bezeugte als erster den Tod Adolf Hitlers. Doch ist er nur Basis der Romanfigur. Im Verlauf wird deutlich, daß Karnau eine Art Montage aus verschiedenen Menschen abgibt, die alle zur damaligen Zeit gelebt haben. Durch die Darstellung von Helga erlangt der Leser durchaus realistisch wirkende Einblicke in das Alltagsleben der Familie Goebbels. Sie berichtet über die Streitereien zwischen ihren Eltern, z.B. als ihr Vater die beiden ältesten Töchter gegen den Willen ihrer Mutter spät Abends noch auf eine kleine Spritztour in seinem neuen Sportwagen mit nimmt.[S.107] Oder stellt Konflikte mit ihren kleineren Geschwister dar, z.B. als ihr Bruder ihre rote Uhr im Spiel zerstört.[S.77] Interessant ist, daß dem Leser ausschließlich durch sie die Taten und Reden ihres Vater nähergebracht werden. Helga kommentiert permanent die Ereignisse um sie herum und fungiert somit als Vermittlerin. Durch sie nehmen die Personen Magda und Joseph Goebbels ihre charakteristischen Züge an. Goebbels wird beim Arbeiten beobachtet, wie er beim Diktat auf und ab läuft, wie er Kampagnen ins Rollen bringt, z.B. kurz vor Kriegsende die Werwolfaktion.[S.191] Im kindlichen Vater-Mutter-Kind-Spiel wird deutlich, daß die Mutter der Kinder ständig krank ist, was sich darin niederschlägt, daß deren Rolle keine der Kinder übernehmen möchte.[S.60 ff] Auch greift Helga die Wortwahl der Eltern immer wieder auf, insbesondere die des Vaters. Im Spiel selbst verwenden die Kinder Termini wie „Volkes Stimme“, „eiskalte Wahrheit“ oder ganze Phrase wie: „Dann malen wir so dunkel wie es geht!“. Das sie deren Bedeutung und Tragweite nicht ganz erfassen kann, steht außer Frage. Wie sehr der weltanschauliche Überbau der Naziideologie schon auf sie abgefärbt hat, wird an anderer Stelle deutlich. In zwei Gesprächen zwischen Helga und Karnau wird dies sehr deutlich. Auf Seite 57 geht es um die Frage, was wäre, wenn die Jüngste der Geschwister, Heide, taubstumm geboren wäre. Helga meint, daß sie dann einen Krüppel als Schwester hätte, was ganz furchtbar wäre. Auf Seite 67 geht es um die Reinrassigkeit des Hundes Coco. Helga hat Karnau diesbezüglich eine Frage gestellt. Karnau antwortet ihr, daß Coco keineswegs reinrassig ist, was das Mädchen mit der Feststellung, daß Coco ja dann ein Bastard sei, kommentiert.
Aber nicht nur das, was die Kinder hören, wird im Spiel verarbeitet, auch daß, was sie sehen. Woher sonst kämen sie auf die Idee Kriegselemente in ihr Spielen mit einzubauen: Richtiges Hinfallen nach dem Erschossenwerden,[S.69] Kinderwagen wird zum Panzer[S.60], usw..
Neben diesen Aspekten, wird der Nationalsozialismus noch auf der Ebene der Symbolik dargestellt. Zwar ist diese nicht sofort sichtbar, doch sticht ins Auge, daß alle Namen der Kinder, mit „H“ anfangen. Beyer macht sich dies für seinen Text zunutze. An diversen Textstellen reiht er immer zwei der Geschwisternamen hintereinander: „Sitzen Helga und Hilde gar nicht bei der Arbeit ?“, „Hedda und Holde machen einen Mittagsschlaf.“, „Hedda ist verdutzt, Helga hat sie schon vom Stuhl gehoben.“, um nur ein paar zu nennen. Doch Beyer kombiniert die Kindernamen auch mit anderen Worten, die ebenfalls mit „H“ anfangen, z.B.: „Die Hedda hat die Hose voll !“, „Ob Helga sich zu Hause pflichtbewusst um ihre kleinen Geschwister kümmert ?“[S.52 ff] Um welche Symbolik es sich dabei handelt, wird sichtbar, wenn man die beiden Anfangsbuchstaben aus den jeweiligen Sätzen abstrahiert und nebeneinander stellt: HH. HH steht seit jener Zeit für Heil Hitler.
[...]
[1] Diese Rede ist durch Eingabe der Stichwörter „Marcel Beyer“ + „Göthe-Institut“ + „Flughunde“ in eine Suchmaschine im Internet zu finden.
[2] Darin unterscheidet sie sich eigentlich nicht von einem normalen Erwachsenen. Man lebt nur in der Realität, zu der man Zugang hat.
- Arbeit zitieren
- Matthias Amos Reinecke (Autor:in), 2003, Vergleichende Analyse der Texttheorie Roland Barthes mit Marcel Beyers Roman Flughunde, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/14331