Der vorliegende Essay versucht die Frage "Welche Eingriffe in Rechte und Freiheiten darf der Staat im Kontext einer Pandemie wie Corona vornehmen und welche Grenzen sind diesen Eingriffen gesetzt?" zu beantworten. Hierzu werden die Vertragstheorien von Thomas Hobbes und John Locke herangezogen. Anschließend wird auf den Schutz der Minderheiten eingegangen, der von keinem der beiden Philosophen bedacht wurde, aber eine heutige Forderung an den modernen Rechtsstaat ist.
1 Einleitung
Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretiker und Impfgegner - wer hätte gedacht, dass ein Virus die ganze Welt lahmlegen kann und Anhänger unterschiedlichster Weltanschauungen zusammenkommen, um auf den Straßen zu demonstrieren. Nur zwei Sachen haben sie gemeinsam, kaum trägt einen Mundschutz und sie alle protestieren gegen die Corona-Maßnahmen, die der Staat zur Eindämmung des Virus verabschiedet hat.
Im Dezember 2020 trat die Lungenkrankheit, die mittlerweile unter dem Namen COVID-19 bekannt ist, zum ersten Mal in der chinesischen Provinz Wuhan auf. Kurz darauf infizierte der Virus Menschen auf allen Kontinenten und kostete vielen das Leben. Um das Schlimmste zu verhindern, griffen die Regierungen weltweit mit rigiden Maßnahmen durch. Von Kontaktbeschränkungen bis hin zu Hygiene- und Abstandsregeln, die Rechte und Lreiheiten der Bürger waren schon lange nicht mehr so eingeschränkt wie in der Corona-Krise. Doch wer sich gegen die strengen Maßnahmen auflehnt wird als Verschwörungstheoretiker abgestempelt und hat bei einem Versuch sich vor Gericht zu wehren kaum Chancen (Hagelüken, 2020). Zu Recht?
Der vorliegende Essay versucht die Präge «Welche Eingriffe in Rechte und Freiheiten darf der Staat im Kontext einer Pandemie wie Corona vornehmen und welche Grenzen sind diesen Eingriffen gesetzt?» zu beantworten. Hierzu werden die Vertragstheorien von Thomas Hobbes und John Locke herangezogen. Anschließend wird auf den Schutz der Minderheiten eingegangen, der von keinem der beiden Philosophen bedacht wurde, aber eine heutige Forderung an den modernen Rechtsstaat ist.
2 Diskussion
Wie kann man staatliche Rechtsordnung moralisch und institutionell begründen und legitimieren? Und wie kann man Regeln, die für das Kollektiv verbindlich sind, rechtfertigen? Diese Fragen sind in Zeiten der Corona-Krise aktueller dennje. Zu ihrer Beantwortung wird häufig auf die Ansätze von Denkern zurückgegriffen, die sich bereits vor Jahrhunderten mit der Thematik beschäftigten. Besonders oft wird in diesem Kontext Thomas Hobbes zitiert, der die Idee eines Gesellschaftsvertrags als erster aufbrachte und eines der wichtigsten Argumente der politischen Philosophie für die Legitimität staatlicher Machtausübung entwickelte (Becker, Schmidt, & Zintl, 2012).
Homo homini lupus - Der Mensch ist dem Menschen Wolf
Hobbes geht in seiner Theorie von einem Naturzustand aus, in dem die Menschen rational handeln und nach Selbsterhalt, aber auch nach Macht und Ruhm streben. Folglich kann man sich auf nichts und niemanden verlassen und lebt in einem Krieg aller gegen alle. Die Aussage fasst Hobbes in seinem Werk «Leviathan» unter dem Sinnesspruch«Homo hominilupus»,also «Der Mensch ist dem Menschen Wolf», zusammen (Hobbes, 1657, S.10). Um die Anarchie zu überwinden und Frieden und Sicherheit herzustellen muss ein Staat geschaffen werden, der «alle Individuen dazu zwingt in ihrem Verhältnis zueinander bestimmte Regeln einzuhalten» (Becker et al., 2012, S.39). Diese Instanz kann seiner Auffassung nach nur von einem Leviathan mit absoluter Macht regiert werden. Weil Hobbes davon ausgeht, dass alle Menschen, trotz unterschiedlicher Stärken, Fähigkeiten und Talente, in wesentlicher Hinsicht gleich sind(equal ’vulnerability),hat niemand das Recht inne über andere zu herrschen. Darum muss der Souverän in einem Prozess geschaffen werden, indem sich die Menschen miteinander darüber verständigen, an wen sie sich dauerhaft binden(alienation socialcontract).Der Herrscher ist folglich nicht Vertragspartner und somit nicht an die Gesetze gebunden. Seine übergreifende Aufgabe ist es das Leben und Eigentum der Individuen zu schützen und Frieden zu garantieren (Hampton, 1997; Braun, Heine, & Opolka, 2008).
Die Wahl des kleineren Übels
Das Corona-Virus mit all seinen Folgen bedroht sowohl das Leben und Eigentum als auch den weltweiten Frieden. Nach Hobbes ist es die Aufgabe des Souveräns diese Bedrohung zu erkennen und mit den erforderlichen Maßnahmen zu bekämpfen, um seine Bürger1zu beschützen (Hampton, 1997). Hierbei kann es jedoch sein, dass dieser das Leben und Eigentum der Individuen, die es zu schützen gilt, gegeneinander abwägen muss. Im Folgenden werden die Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland als Beispiel für mögliche Eingriffe eines Leviathans genommen, auch wenn in dem Land kein Souverän mit einer absoluten Macht herrscht. (Dies sieht Hobbes eigentlich als Prämisse, um einen Rückfall in den Naturzustand zu verhindern (Hampton, 1997)). Das Ziel hierbei ist es, die Argumentation an einem Exempel zu konkretisieren: Vor dem Hintergrund der Pandemie hat sich der deutsche Staat am 16. März 2020 dazu entschieden Schulen, Kitas, Einzelhandelsgeschäfte und viele weitere Einrichtungen für einen unbestimmten Zeitraum zu schließen. Das Ziel der Bundes-Länder-Vereinbarung war es, die Anzahl der Neuinfektionen zu verringern, um den Virus schnellstmöglich einzudämmen. Wichtig war auch sich Zeit zu verschaffen, um die ärztliche Intensivversorgung, die bei schwer verlaufenden Infektionen lebensnotwendig ist, auszubauen und so in einem Ernstfall das Leben von möglichst vielen Bürgern sichern zu können.
Obschon entsprechende Maßnahmen des souveränen Leviathans auf die Selbsterhaltung der Bürger abzielen, bleibt zu Bedenken, dass diese die Selbsterhaltung auch gefährden können. Denn während Hamsterkäufe in Supermärkten für zusätzlichen Gewinn sorgten, stehen nun viele andere Geschäfte durch die Zwangsschließung vor der Pleite. Obwohl die Umsätze ausbleiben, laufen die Kosten für die Miete, Gehälter und Versicherungen weiter. Einen ausreichenden finanziellen Puffer haben die wenigsten. Folglich stehen die Betroffenen nun vor einer Existenzkrise und ihre Selbsterhaltung ist bedroht.
Nach Hobbes kann der Leviathan in alle Rechte und Freiheiten der Bürger eingreifen, weil er als unangefochtene Instanz nicht an die Gesetzte gebunden ist. Rechte, wie die Meinungs- oder Demonstrationsfreiheit, die nicht die Selbsterhaltung der Menschen bedrohen, aber für uns heute selbstverständlich sind, könnten somit problemlos eingeschränkt werden. Anhand dieses Beispiels wirdjedoch deutlich, dass Eingriffe eines staatlichen Souveräns in Krisenzeiten zur Selbsterhaltung seiner Bürger der spezifischen Folgen-Abwägung zwischen deren Bedrohung der Leben und deren Bedrohung der finanziellen Existenz bedarf.
Die Grenzen der letzten Instanz
Neben diesem Dilemma, dass das Handeln der Prärogative beschränkt, gibt es noch eine weitere Grenze der letzten Instanz. Denn der Herrscher kann nur Gehorsam von seinen Bürgern erwarten, wenn er ihnen Schutz und Sicherheit garantiert. Hobbes fasst diese Prämisse mit dem Ausspruch«.Pro protectione oboedienüa».also «Für Gehorsam Schutz», zusammen. Die Bürger dürfen den Gehorsam folglich lediglich verweigern, wenn der Souverän ihre Selbsterhaltung gefährdet (Hampton, 1997). Im Falle, dass die Selbsterhaltung von nur wenigen Personen gefährdet ist, ist die Macht des Leviathans nicht bedroht. Wenn aber viele Bürger durch Maßnahmen des Souveräns in eine existenzielle Krise kommen und entscheiden seinen Befehlen nicht mehr zu gehorchen, ist dessen Herrschaft in Gefahr. Im schlimmsten Fall können die Betroffenen beschließen den Leviathan abzusetzen, indem sie einer anderen Person gehorchen (Hampton, 1997; Becker et al., 2012).
Lockes Fundamental Law of Nature
Genau wie Hobbes geht Locke von der natürlichen Gleichheit aller Menschen aus(equal vulnerability),weshalb keiner eine natürliche Beherrschung für sich beanspruchen kann. Jedoch ist der Mensch nach Locke moralisch und kooperativ. Er handelt folglich nicht nur aus Eigeninteresse, sondern versucht auch das Leben, die Gesundheit und den Besitz der anderen zu erhalten, solange die eigene Existenz dadurch nicht zunichte gemacht wird(Fundamental Law of Nature).Trotzdem kann nicht angenommen werden, dass die Menschen in Frieden leben. Weil Individuen sich durch die Schaffung von Zivilisation und Besitz unmoralisch verhalten können, besteht auch bei Locke das Risiko eines Konfliktes oder Krieges. Um diesem Naturzustand zu entfliehen, schlägt Locke die Schaffung eines Staates vor, in dem ein Herrscher mit klaren Grenzen seiner Autorität und Macht regiert. Die Ernennung des Souveräns erfolgt in einem zweistufigen Prozess: Zuerst gehen die Individuen untereinander ein Abkommen ein und konturieren so eine Zivilgesellschaft. Diese wiederum bestimmt nach dem Mehrheitsprinzip eine Regierungsform. In diesem Zuge wird ein Souverän ernannt, an den die politische Autorität weitergegeben wird. Dieser erhält die Rechte eines jeden Menschen und ist dazu verpflichtet für ihre Einhaltung zu sorgen. Seine Aufgabe ist es das Leben, die Freiheit und das Vermögen der Bürger sicherzustellen. Diese Aspekte fasst Locke unter dem BegriffEigentum zusammen (Locke, 1977).
Maßstab der Verhältnismäßigkeit
Lässt man die Tatsache, dass Lockes Vertragsargument lediglich hypothetisch ist2, außer Acht, kann die deutsche Verfassung stellvertretend für einen solchen Vertrag herangezogen werden. Diese regelt das Verhältnis zwischen der deutschen Regierung als Souverän und dem Volk als Zivilgesellschaft und bestimmt die «grundlegenden Rechtsregeln für das Zusammenleben in einem Staat» (Thurich, 2011).
Wenn man die Fragestellung unter diesem Blickwinkel beantwortet, hat der Staat die Möglichkeit die Grundrechte der Bürger zu beschränken, um das Eigentum dieser, konkret das Recht bisher nicht infizierter Dritter auf Leben und körperlicher Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz), zu schützen. Diese Eingriffe sind jedoch nur unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen. Das bedeutet, dass die getroffenen Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen. Weil es sich bei Corona um ein wenig erforschtes Virus handelt, sind Abwägungsentscheidungen jedoch schwer zu treffen. Darum ist es gerade in dieser Situation wichtig die Maßnahmen nach ihrer Einführung an die sich ständig ändernde Umstände anzupassen (Gesellschaft für Freiheitsrechte, 2020).
Corona als eine Krise der Minderheiten?
Auf Grund der vorangegangen Argumentation wird deutlich, dass unsere heutigen Ansprüche an legitime Herrschaft und den Staat höher sind als die von Hobbes. Denn wir fordern nicht nur, dass dieser den Naturzustand verhindern, sondern auch, dass er gerecht handelt. Eine solche politische Ordnung zieht der Philosoph jedoch überhaupt nicht in Betracht. Der Idee eines modernen Rechtsstaates kommt Locke schon um einiges näher, denn er sieht nicht nur den Zustand völliger Rechtslosigkeit und den der absolutistischen Herrschaft als denkbare Option. Darüber hinaus nimmt er mit dem Mehrheitsprinzip die prozedurale Legitimität in den Blick. Folglich können Bürger, die sich oder ihr Eigentum durch Maßnahmen des Staates bedroht fühlen, dem Souverän die politische Autorität entziehen, wenn sie hierfür eine Mehrheit finden(agency social contract)(Hampton, 1997). Jedoch gestaltet Locke dieses Prinzip nicht weiter aus und wird somit nicht unseren heutigen Anforderungen gerecht: Auch wenn er in seiner Theorie das Volk löblicherweise als letzte Instanz sieht, lässt er Minoritäten völlig außer Acht. Seine Ausgestaltung des Mehrheitsprinzip hindert Minderheiten «darauf zu bestehen, ihr Recht sich selbst zu regieren zurückzufordem, wenn die Mehrheit der Zivilgesellschaft die Regierung billigt [...]» (Hampton, 1997, S.59). Welche Gefahr hieraus resultieren kann, ist an der Entwicklung der Corona-Krise in Amerika zu veranschaulichen: So ist die Sterberate für Latinos und Schwarze in New York City mehr als doppelt so hoch wie für Weiße (NYC Health, 2020). Das liegt zum einen daran, dass «schwarze Viertel» meistens medizinisch unterversorgt sind und Schwarze und Latinos häufig nicht die Möglichkeit haben im Home-Office zu arbeiten. Die Segregation des amerikanische Gesundheitssystems trägt ihr übriges dazu bei (NAACP, 2020). Die Gründe für die genannten Zahlen sind also komplex und vielschichtig. Zusammengefasst lässt sich jedoch sagen, dass der Staat zu wenig dafür tut das Leben, die Lreiheit und das Vermögen der Minderheiten, die in der Corona-Krise Risikogruppen darstellen und besonders schutzbedürftig sind, sicherzustellen.
3 Fazit
Versucht man die Fragen, welche Eingriffe in Rechte und Freiheiten der Staat im Kontext einer Pandemie wie Corona vornehmen darf und welche Grenzen diesen Eingriffen gesetzt sind, nach Hobbes und Locke zu beantworten, scheint es vor allem entscheidend zu sein, welche Funktion und Handlungsmöglichkeiten dem Souverän zugrunde gelegt werden. Doch auch wenn der Leviathan bei Hobbes absolut in seiner Macht zu sein scheint, bedarf es in Krisen wie Corona eine gewisse Abwägung, da die Legitimität des Leviathans im Schutze seiner Untertanen seinen Ursprung hat. Zieht man die deutsche Verfassung stellvertretend für einen Vertrag nach Locke heran, wird deutlich, dass diese nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit umgesetzt werden kann. Die Verfassung ist sogar so weit ausgestaltet, dass sie der Schutzpflicht des Staates gegenüber besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen nachkommt - eine Forderung, die wir heute an den modernen Rechtsstaat haben, die damalsjedoch weder von Hobbes noch von Locke bedacht wurde.
Doch auch wenn unsere heutigen Ansprüche an eine politische Ordnung über die der beiden Philosophen hinausgehen, sind ihre Ideen gleichzeitig aktueller denn je. Gerade in Zeiten der Unsicherheit und der Krise wie der aktuellen Corona-Pandemie wünschen sich die Bürger eine starke und selbstbewusste Exekutive, die Sicherheit und Schutz gewährleistet. Handelt ein Souverän in diesem Sinne, kann diesjedoch manch einem Untertanen nach Hobbes bzw. Zivilbürger nach Locke missfallen. Trotzdem oder gerade deshalb scheint die Pandemie die Stunde der Amtsträger zu sein, die einen kühlen Kopf bewahren, Individuen Vertrauen und Zuversicht vermitteln und vor allem handeln.
[...]
1Die männliche Form ist der weiblichen in der gesamten Forschungsarbeit gleichgestellt. Lediglich aus Gründen der Vereinfachung wurde durchgängig die männliche Form verwendet.
2Auch wenn Locke eigentlich darauf abzielt, Staaten sowohl zu erklären als auch zu rechtfertigen, plausibilisiert sein Argument nicht diejenige Staatenbildung, die auch ohne Einwilligung von Bürgern evolviert(historical implausibility).Er entwickelt insofern einen hypothetischen Vertrag, der die mögliche Übereinkunft der Betroffenen als Kriterium für die Legitimität einer Ordnung als Maßstab impliziert (Hampton, 1997).
- Quote paper
- Anonymous,, 2020, Welche Eingriffe in Rechte und Freiheiten darf der Staat im Kontext einer Pandemie vornehmen und welche Grenzen sind diesen Eingriffen gesetzt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1362677