Zum Ende meines Studiums drängten sich mir zunehmend Fragen nach meiner beruflichen Zukunft als Sonderpädagoge auf. So zum Beispiel „Wie wird sich das bisher in der Theorie gelernte in der Praxis umsetzen lassen?“, „Wie werde ich den ‚Sprung ins kalte Wasser’ verkraften, plötzlich nicht mehr mit Büchern, sondern mit Kindern zu ‚agieren’?“, „In welcher Schule (Schulform) werde ich tätig sein?“, „Mit welchen Schülern und Kollegen werde ich zu tun haben, und wie werden sie mich als Neuling aufnehmen?“. Ich möchte mich daher in dieser Arbeit, die ich als Abschlussarbeit meines Studiums, also als Manifestation meiner hier erworbenen Fähigkeiten begreife, dazu nutzen, mich diesen Fragen (zumindest theoretisch) zu nähern.
Der Titel der Arbeit, ‚Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern im Gemeinsamen Unterricht - Erfahrungen und Überlegungen zur Gestaltung kooperativer Prozesse bei der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung in allgemeinen Schulen’ eröffnet einen Zugang zu vielen dieser Fragen, indem er wesentliche Größen nennt und zugleich in einen für meine berufliche Perspektive sinngebenden Zusammenhang stellt. Er beschreibt das Beschäftigungsfeld als Lehrer im Gemeinsamen Unterricht und verweist auf den Auftrag, Schüler mit ‚geistiger Behinderung’ in den Unterricht an allgemeinen Schulen einzubinden. Gleichzeitig gibt er den Hinweis, dass die besondere Aufgabe hierbei in der Gestaltung der kooperativen Prozesse liegt.
Als Lehrer im Gemeinsamen Unterricht in einer allgemeinen Schule zu unterrichten, zeigt mir eine Alternative zur Tätigkeit in der Schule für Geistigbehinderte auf. Die zunehmende Individualisierung und die sich damit ergebende Heterogenität der Schülerschaft, aber auch die aus der Beschäftigung mit integrativer Pädagogik gewonnene Erkenntnis, dass Sonderschule oft ‚Sonderbeschulung’ und damit Diskriminierung bedeutet, weisen ‚eine Schule für alle Kinder’ als Perspektive aus. Der Auftrag, den Schülern mit ‚geistiger Behinderung’ die Teilnahme am Gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen, verlangt nicht nur ein spezialisiertes sonderpädagogisches Wissen, sondern eröffnet auch neue Aufgaben und Anforderungen durch die gemeinsame Gestaltung kooperativer Prozesse. Letztendlich werden sich mir viele der oben genannten Fragen und die damit verbundenen Erwartungen erst allmählich und im Verlaufe meiner Arbeit als Lehrer erschließen, sie stellen aber in jedem Fall eine interessante Herausforderung dar.
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Grundlagen, Voraussetzungen und Überlegungen zum gemeinsamen Unterricht
2.1 Gemeinsamer Unterricht als logische Konsequenz des Wandels im Behinderungsbegriff
2.2 Die bildungspolitischen Rahmenbedingungen aus dem Blickfeld des gemeinsamen Unterrichts
2.3 Überlegungen zur schulischen Integration von ‚geistig behinderten’ Kindern
2.4 Eine Schule für alle: Schüler mit ‚schwerer Behinderung’ im Gemeinsamen Unterricht
3. Kooperation von Lehrern im Gemeinsamen Unterricht
3.1 Methode
3.2 Schule konkret: Gespräch mit einer Sonderpädagogin
3.3 Situation und Aufgaben der Sonderpädagogen
3.4 Situation und Aufgaben der Grundschullehrer aus sonderpädagogischer Sicht
3.5 Rollenerwartungen im Team
3.6 Konflikte in der Kooperation
3.7 Bedingungen für eine erfolgreiche Kooperation
4 Reflexion
5 Schlussbemerkung
6 Quellenverzeichnis
7 Abbildungsverzeichnis
Vorwort
Zum Ende meines Studiums drängten sich mir zunehmend Fragen nach meiner beruflichen Zukunft als Sonderpädagoge auf. So zum Beispiel „Wie wird sich das bisher in der Theorie gelernte in der Praxis umsetzen lassen?“, „Wie werde ich den ‚Sprung ins kalte Wasser’ verkraften, plötzlich nicht mehr mit Büchern, sondern mit Kindern zu ‚agieren’?“, „In welcher Schule (Schulform) werde ich tätig sein?“, „Mit welchen Schülern und Kollegen werde ich zu tun haben, und wie werden sie mich als Neuling aufnehmen?“. Ich möchte mich daher in dieser Arbeit, die ich als Abschlussarbeit meines Studiums, also als Manifestation meiner hier erworbenen Fähigkeiten begreife, dazu nutzen, mich diesen Fragen (zumindest theoretisch) zu nähern.
Der Titel der Arbeit, ‚Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern im Gemeinsamen Unterricht - Erfahrungen und Überlegungen zur Gestaltung kooperativer Prozesse bei der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung in allgemeinen Schulen’ eröffnet einen Zugang zu vielen dieser Fragen, indem er wesentliche Größen nennt und zugleich in einen für meine berufliche Perspektive sinngebenden Zusammenhang stellt. Er beschreibt das Beschäftigungsfeld als Lehrer im Gemeinsamen Unterricht und verweist auf den Auftrag, Schüler mit ‚geistiger Behinderung’ in den Unterricht an allgemeinen Schulen einzubinden. Gleichzeitig gibt er den Hinweis, dass die besondere Aufgabe hierbei in der Gestaltung der kooperativen Prozesse liegt.
Als Lehrer im Gemeinsamen Unterricht in einer allgemeinen Schule zu unterrichten, zeigt mir eine Alternative zur Tätigkeit in der Schule für Geistigbehinderte auf. Die zunehmende Individualisierung und die sich damit ergebende Heterogenität der Schülerschaft, aber auch die aus der Beschäftigung mit integrativer Pädagogik gewonnene Erkenntnis, dass Sonderschule oft ‚Sonderbeschulung’ und damit Diskriminierung bedeutet, weisen ‚eine Schule für alle Kinder’ als Perspektive aus. Der Auftrag, den Schülern mit ‚geistiger Behinderung’ die Teilnahme am Gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen, verlangt nicht nur ein spezialisiertes sonderpädagogisches Wissen, sondern eröffnet auch neue Aufgaben und Anforderungen durch die gemeinsame Gestaltung kooperativer Prozesse. Letztendlich werden sich mir viele der oben genannten Fragen und die damit verbundenen Erwartungen erst allmählich und im Verlaufe meiner Arbeit als Lehrer erschließen, sie stellen aber in jedem Fall eine interessante Herausforderung dar.
1. Einleitung
Die pädagogisch sinnvolle Integration von ‚behinderten’ Kindern in allgemeinen Schulen erfordert eine Verlagerung sonderpädagogischer Unterstützung. Das bedingt die Notwendigkeit der Kooperation von Regelschullehrern und Sonderpädagogen. Die Veränderung der schulischen Gegebenheiten macht ein Umdenken in den bisherigen Arbeitsweisen im Unterricht für die Lehrer unumgänglich. Für beide Pädagogen ergibt sich ein veränderter z.T. unbekannter Aufgaben- und Verantwortungsbereich.
Der Regelschullehrer muss neben seinen gewohnten Obliegenheiten Wege finden, einen Schüler in seinen Unterricht einzubinden, dessen spezifische Bedürfnisse, individuellen Einschränkungen, aber auch Möglichkeiten er kaum einzuschätzen weiß. Er kann dabei nicht seine gewohnten Maßstäbe, Unterrichtskonzepte und Kommunikationsstrategien nutzen, die er bislang eigenverantwortlich festgesetzt hat. Der Sonderpädagoge ist zwar mit den Belangen des ‚behinderten’ Kindes vertraut, findet sich dafür aber in einer Klassensituation wieder, die sich in der Schülerschaft deutlich von der einer Sonderschulklasse unterscheidet. Zudem sind die Ansprüche, Methoden und Inhalte hier ganz andere und lassen sich kaum mit denen der Sonderschule vereinbaren. Wollen die Pädagogen diese unterschiedlichen Positionen angleichen und verknüpfen, müssen sie zusammenarbeiten. Sie müssen dem Partner Einblicke in ihren Unterricht und ihr Wissen gewähren, sich auf gemeinsame Methoden, Inhalte und Strategien einigen und bei den gewohnten Spezifika ihrer Fachrichtung Kompromisse eingehen. Die Zusammenarbeit kann nur als Prozess verstanden werden, da sich immer wieder Situationen ergeben, in denen sie einen gemeinsamen Weg finden müssen, einen Unterricht für alle Schüler zu gestalten. Die vorliegende Arbeit macht genau diesen Prozess zum Thema.
Der langwierige und vielschichtige Prozess der Kooperation von Lehrern im Gemeinsamen Unterricht bedarf einer gemeinsamen Basis, was auf Grund der Aufgabenstellung hier primär vor dem sonderpädagogischer Hintergrund geschieht. Dazu wird in Kapitel 2, ‚Grundlagen, Voraussetzungen und Überlegungen zum Gemeinsamen Unterricht’, ein theoretisches Fundament aus sonderpädagogischer Sicht gelegt. Es wird im ersten Unterpunkt der Behinderungsbegriff diskutiert. Er thematisiert das Bild vom ‚behinderten’ Menschen und beschreibt den Wandel des sonderpädagogischen Verständnisses von der Defizitorientierung zur Betonung des Entwicklungspotentials. Die Schaffung der ‚am wenigsten einschränkenden Lernumwelt’ begründet demnach den pädagogischen Anspruch auf einen Gemeinsamen Unterricht von ‚behinderten’ und ‚nicht behinderten’ Kindern. Im folgenden Punkt werden die bildungspolitischen Rahmenbedingungen integrativer Beschulung besprochen, hierbei wird die Entwicklung aus dem Anfang der 70er Jahren bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen bezüglich des schulischen Förderorts ‚behinderter’ Kinder aufgezeigt. Kapitel 2.3 und 2.4 widmen sich den speziellen Bedürfnissen und Möglichkeiten von Schülern mit ‚geistiger Behinderung’ und ‚schwerer Behinderung’ im integrativen Unterricht. Es wird hier zunächst die Veränderung der gesellschaftlichen und schulischen Bedingungen dieser Kinder anhand des Bildungsanspruchs skizziert. Im Weiteren setzen sich beide Kapitel mit Fragen und Überlegungen zur Gestaltung des Unterrichts und des Schulumfeldes auseinander.
Kapitel 3, ‚Kooperation von Lehrern im Gemeinsamen Unterricht’, beschäftigt sich mit Erfahrungen und Überlegungen bei der Gestaltung kooperativer Prozesse. Aus Ermangelung eigener Erfahrungen werden diese hauptsächlich aus den Schilderungen einer Sonderpädagogin, die im Gemeinsamen Unterricht tätig ist, bezogen. Diese Dokumentation erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und ist unter empirischen Gesichtspunkten weder typisch noch repräsentativ. Sie soll in erster Linie einen Eindruck vom Bedingungsfeld der Sonderpädagogen im Gemeinsamen Unterricht liefern und als Referenz für die anschließenden Überlegungen dienen. Die Kapitel 3.3 und 3.4 beschreiben die Situation und die Aufgaben von Sonderpädagogen und Grundschullehrern in ihrer kooperativen Arbeit. Sie sind eindeutig deskriptiv geprägt und stellen eine Bestandsaufnahme der aus dem Interview und der Literatur hierüber gewonnenen Informationen dar. In Kapitel 3.5, ,Rollenerwartungen im Team’, wird die Gestaltung kooperativer Prozesse schließlich anhand der Analyse der Lehrerrolle auf verschiedenen Stufen betrachtet. Es werden hierbei die unterschiedlichen Erwartungshaltungen, das Selbstverständnis der Lehrer, mögliche Interaktionen und Formen der integrativen Kooperation sowie die Selbst- und Fremdwahrnehmung evaluiert. Anschließend findet eine Zuordnung möglicher Konflikte auf der Persönlichkeits-, Sach-, Beziehungs- und Organisationsebene statt. Kapitel 3.7 fasst die Bedingungen für eine erfolgreiche Gestaltung kooperativer Prozesse abschließend zusammen.
An dieser Stelle sollen auch einige formale Aspekte geklärt werden. Zunächst sei darauf verwiesen, dass mit der männlichen Form ‚Lehrer’, ‚Pädagogen’ usw. selbstverständlich auch die weibliche Form angesprochen wird, aus Gründen der gedanklichen Flüssigkeit jedoch überwiegend die männliche Form verwendet wird (wohl bewusst, dass eine Überpräsentation des Frauenanteils in pädagogischen Einrichtungen besteht). Ferner wird an einigen Stellen von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen, von ‚behinderten’ und ‚nicht behinderten Kindern’, von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, usw. die Rede sein. Auch hier wird aus Gründen des besseren Leseflusses eine Variation der Begriffe vorgenommen. An dieser Stelle wird ausdrücklich betont, dass defizitäre, separierende und stigmatisierende Konnotationen der Begriffe ausgeschlossen werden; ‚behindert’, ‚geistig behindert’ usw. wird daher in den folgenden Ausführungen in Anführungszeichen gesetzt, um die Fragwürdigkeit des Begriffes zu unterstreichen (vgl. Kap. 2.1 Gemeinsamer Unterricht als logische Konsequenz des Wandels im Behinderungsbegriff). Viele Autoren beziehen sich in ihren Texten bezüglich der Integration von Kindern auf ‚Regelschulen′. Diese Verallgemeinerung wurde in einigen Kapiteln übernommen, da sie die Primarstufe respektive die Grundschulen mit einbezieht.
Für die Erstellung der Arbeit wurden die benötigten Informationen aus der Literatur, dem Internet sowie aus Gesprächen mit Lehrern und Sonderpädagogen, die im Gemeinsamen Unterricht tätig sind, eingeholt.
2. Grundlagen, Voraussetzungen und Überlegungen zum gemeinsamen Unterricht
2.1 Gemeinsamer Unterricht als logische Konsequenz des Wandels im Behinderungsbegriff
Der Behinderungsbegriff und damit eng verbunden das Bild von ‚behinderten’ Menschen nimmt eine wichtige Rolle ein, spiegelt er doch nicht nur das Menschenbild oder die Vorstellung davon (vgl. Feuser 1996), derer, die ihn gebrauchen, sondern er liefert nach dem Bruch mit dem bisher gültigen sonderpädagogischen Paradigma auch zugleich die wichtigsten Argumente für das mainstreaming, unter dem man in den USA nach Eggert (1996) den gemeinsamen Unterricht ‚im Hauptstrom’ der allgemeinen Schule unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse einzelner Schüler versteht.
Das Bild von ‚Behinderung’ insbesondere von ‚geistiger Behinderung’ war noch bis vor einigen Jahren gerade an deutschen Sonderschulen von Typologisierungen und Klassifikationen geprägt. Es wurde versucht, durch eine Vielzahl von Tests, bestimmte Quotienten im Bereich Intelligenz, Motorik und soziale Kompetenz festzulegen, auf deren Grundlage wiederum diagnostische und therapeutische Verfahren entwickelt wurden. Schon Anfang der 70er Jahre erwuchs in den USA durch den anti-labelling-approach (Mercer 1973, nach Eggert 1996) die Erkenntnis, dass der Gebrauch von Klassifizierungen und typologisierenden Beschreibungen letztlich nur der Diskriminierung diene. In Deutschland mussten für diese Erkenntnis allerdings erst noch 20 Jahre vergehen, bevor der Einstufung nach Defekten und Differenzangaben zur „fiktiven Durchschnittsnorm“ (Eberwein 1999/c, S.469) im Zuge der Diskussion um den sonderpädagogischen Paradigmenwechsel und die bildungspolitische Etablierung der Integration 1994 entsagt wurde.
Der reduzierte Blickwinkel auf die Defizite eines Menschen war in Deutschland durch die auf das medizinische Modell orientierte Sonderpädagogik geprägt. Diese sah es als ihre Aufgabe an, durch spezielle, sich an den Defiziten ausrichtende, pädagogische und therapeutische Maßnahmen, gezielt zu fördern. Durch die Fixierung auf die defizitären Eigenschaften eines Menschen werden jedoch seine Möglichkeiten abqualifiziert, rücken sogar als unbedeutend in den Hintergrund. „Diese doppelt negative Zuweisung – Betonung des Defekts und Ignoranz gegenüber den vorhandenen Ressourcen – bestimme so den gesamten Lebensbereich der ‚Behinderten’. Es bliebe diesen unter diesen Bedingungen deshalb gar nichts anderes übrig, als sich diese Zuweisung anzueignen, zum Kern ihrer Identität werden zu lassen und so ein ‚Behinderten – Selbst’ zu entwickeln“ (Rödler 1999). Hier bietet sich die Kompetenzorientierung als Alternative an, also die Vermeidung negativer Komponenten und gleichzeitige Fokussierung auf die vorhandenen Ressourcen. Aber auch hierdurch wird wieder ein status quo beschrieben, der den Menschen erst einmal auf das einschränkt was er kann. Durch die Negierung seines negativen, defizitären Habitus wird der ‚behinderte’ Mensch wieder nur auf einen Teil seiner Eigenschaften reduziert. „Bedenkt man, dass auch Pädagoginnen und Pädagogen, die sich mit kompensatorischer oder rehabilitierender Absicht den Problemen und Schwächen eines Menschen widmen (‚Defizitorientierung’) letztlich an den Möglichkeiten ihrer Klientinnen und Klienten ansetzen müssen, wird deutlich, dass sich beide Positionen überraschend wenig unterscheiden“(ebd.).
Eine mögliche Lösung dieses Dilemmas, also die Vermeidung einerseits von Stigmatisierung durch eine defizitorientierte und andererseits von Beschränkung durch eine kompetenzorientierte Beschreibung der individuellen Eigenschaften, findet sich bei Feuser. „Die Integration im aufgezeigten Sinne bedarf einer Pädagogik, in der „alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau und mittels ihrer momentanen Denk- und Handlungskompetenzen an und mit einem gemeinsamen Gegenstand spielen, lernen und arbeiten“(Feuser 1999, S.217). Die Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten eines Menschen sind nur insofern von Interesse und dann auch festzustellen, wie sie in einer bestimmten (und für diese) pädagogischen Situation hilfreich sind. Die Ausrichtung am ‚Gemeinsamen Gegenstand’ rückt ins Zentrum der pädagogisch integrativ geleiteten Bildung, individuelle Eigenschaften dienen nicht weiter der Einschränkung durch Etikettierung, sondern das handelnde Wesen steht im Vordergrund. D.h. nicht, dass dem Kind seine Eigenschaften als Individuum aberkannt werden sollen oder deren Bedeutung negiert wird. Es wird die Entwicklung betont und dadurch das Potential und die Chancen, die bei jedem Kind auf seinem jeweiligen Niveau ansetzt (vgl. Feuser 1989). Die personalen Eigenschaften sind nicht durch biologisch organische Schädigung konstituiert, sondern können sich durch die Adaption der Situation an das Kind für dieses positiv entwickeln.
Eberweins Kritik an der Begrifflichkeit des ‚Behinderten’ fällt noch deutlicher aus: „Das Sonderpädagogische Paradigma stützt sich vor allem auf den Behinderungsbegriff. Angesichts der zunehmenden Selbstbestimmung der ‚Behinderten’ und ihrer Ablehnung des Objektstatus sowie erfolgreicher integrativer Betreuung ist jedoch die defektspezifische Betrachtungsweise, d.h. die Behinderungszuschreibung als Voraussetzung für besondere Hilfen, nicht mehr zu rechtfertigen: sie ist in einem integrativen System, in dem die fiktive Durchschnittsnorm und die damit verknüpfte Intervention aufgehoben ist, in dem also die Vielfalt menschlichen Seins zur Normalität gehört, obsolet geworden“ (Eberwein 1995, S.469). In einer von Heterogenität geprägten Gesellschaft, in der die Vielfalt der Individuen normal ist, kann kein Mensch allein über seine Charakterisierung als hilfsbedürftig beschrieben werden, was aber durch den Begriff des ‚Behinderten’ geschieht. Aus diesem Grund muss die Bezeichnung ‚Behinderte’ aufgrund der beschränkten Betrachtungsweise abgelehnt werden. Aber auch die Diktion des ‚behinderten Menschen’ bzw. des ‚Menschen mit Behinderung’, von der Kultusministerkonferenz 1998 noch so gewählt, legt uns nahe, dass es Menschen mit und ohne Behinderung gibt, Betroffene und nicht Betroffene, wir und ihr, also wieder eine durch die Wahl des Begriffes, ob unterbewusst oder wissentlich, geschaffene Ab- und Ausgrenzung. „Die eingeengten Möglichkeiten der psychisch-geistigen Entwicklung, die veränderten Ausdrucks-, Kommunikations- und Handlungsformen haben Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und das soziale Umfeld. Im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten können die Schülerinnen und Schüler Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung des Lebens mit einer Behinderung erlernen (KMK Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung 1998, S.1)[1]. Löblicherweise wird hier zwar nicht mehr die Annahme geäußert, medizinische Aspekte, wie Schädigung des zentralen Nervensystems oder genetische Anomalien, oder andere nebulöse Gründe seien ursächlich für die Behinderung verantwortlich, sondern eine ökosystemische[2] Kausalität hergestellt, der aber im folgenden Satz sogleich wieder widersprochen wird. Nur im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten können (dürfen?) sie ihr Leben mit einer Behinderung bewältigen. Der durch Behinderung eingeschränkte Mensch scheint hier auf sich alleine gestellt. Sicher aber ist, dass die Geisteshaltung, die den KMK Empfehlungen zu Grunde liegt, den sonderpädagogischen Paradigmenwechsel und das damit verbundene Menschenbild noch nicht vollzogen hat (vgl. Dreher, Heinen, Münch 2000).
Hier scheint nun der Blick über die nationalstaatlichen Grenzen angebracht zu sein. Durch die Definition der WHO 1980 und 2000 ergibt sich eine neue Sichtweise, die die Behinderung nicht mehr primär in der Person, sondern in seinem Umfeld sucht (vgl. WHO 1980 und 2000).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: WHO Begriffe und ihre deutsche Übersetzung
In der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation von 1980 wird zunächst einmal berücksichtigt, dass die Schädigung eines Menschen nicht gleichbedeutend mit seiner Behinderung ist, sondern erst durch die Schädigung oder Leistungsminderung „ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist“ (Sander 1999, S.105) und dadurch behindert wird. „Ideal ist eine Umwelt denkbar, die so vielfältige Rollenerwartungen hegt, daß auch ein Mensch mit Schädigung und Leistungsminderung gesellschaftlich akzeptierte Rollen ausfüllen kann. Dieser Mensch wäre trotz Schädigung und Leistungsminderung im Sinne der WHO-Begriffe frei von Behinderung“ (ebd., S.104). Die aktuelle Definition von Behinderung der WHO aus dem Jahr 2000 geht hier noch einen Schritt weiter und tauscht die Begriffe disability (Beeinträchtigung) gegen activity (Beschreibung von Fähigkeiten) und handicap (Behinderung) gegen participation (Bemühen um soziale Teilhabe, Einbezogensein in Lebenssituationen) aus. Diese neuere Definition erlaubt sogar den Umkehrschluss: Erst das ‚nicht – Einbezogensein’ in den gesellschaftlichen Kontext begrenzt den Menschen in seinen Fähigkeiten, bei der Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung und er wird behindert. Das bedeutet, die Behinderungssituation (genau hier liegt eine wesentliche Neuerung der ICF (2000) zur ICIDH der WHO, da sie nicht mehr vom Habitus der betroffenen Person sondern von der handicap -Situation ausgeht) entsteht aus einer Wechselwirkung der „Gegebenheiten bei einer Person auf der einen Seite“ und den „Gegebenheiten des Kontextes einer solchen Person auf der anderen Seite“, durch die sie behindert wird (Lindmeier 2002, S.416).
Diese Sichtweise deckt sich mit der des ökosystemischen Behinderungsbegriffs, der die Ursachen auch nicht in den „Eigenschaften einer Person sondern als sozial bedingte Folge von Schädigung oder Leistungsminderung“ auffasst (Sander 1999, S.105). Die Behinderung entsteht, wenn ein Mensch unzureichend in sein Umfeld-System integriert ist, d.h. den Ursachen der Behinderung kann am wirkungsvollsten begegnet werden, wenn der Prozess der Integration in das Umfeld zur zentralen Herausforderung wird.
Hier eröffnen sich, gerade vor dem schulischen Hintergrund, neue pädagogische Handlungsspielräume. So kann die Wahl der wohnortnahen Grundschule die Umfeldbedingungen derart beeinflussen, dass das Kind weniger ‚behindert’ ist als zuvor. Auf die Schädigungen oder Leistungsminderungen wird hier wahrscheinlich nicht mit den spezialisierten Möglichkeiten der Sonderschule seiner Schädigung eingegangen (die aber eher die Tatsache zementiert hat, dass es sich um einen ‚Behinderten’ handelt, als der Stigmatisierung entgegenzuwirken), jedoch soll sie im besten Sinne den Prozess der Normalisierung der Situation (nicht des Kindes) ermöglichen und optimale Rahmenbedingungen vor Ort schaffen. Ziel muss es sein, das least retrictive environment, also die ‚am wenigsten einschränkende Lernumwelt’ zu schaffen und nicht den ‚am besten geeigneten Lernort’, wie die oft fälschliche deutsche Übersetzung vermuten lässt (vgl. Eggert 1996). Hier kann der Gemeinsame Unterricht, getragen durch das Engagement der beteiligten Pädagogen, neue Perspektiven für das noch ‚behinderte’ Kind schaffen.
- Letztendlich vermag es kein Begriff, der die Behinderung eines Menschen zum Thema macht, diesen Menschen nicht über seine Andersartigkeit zu beschreiben, egal, ob er positive oder negative, entwicklungsbeschreibende oder konstituierende Eigenschaften transportiert. Von ihm lassen sich allenfalls ein Menschenbild oder ein Bemühen ableiten, den Menschen in seiner Gesamtheit zu begreifen und ihn darin zu unterstützen, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden.
2.2 Die bildungspolitischen Rahmenbedingungen aus dem Blickfeld des gemeinsamen Unterrichts
Die ersten bildungspolitischen Bestrebungen einer gemeinsamen Beschulung finden sich in Deutschland in der Weimarer Verfassung im Grundschulgesetz von 1920, hier wurde die Grundschule bereits als eine für alle Kinder gemeinsame Schule proklamiert (vgl. Eberwein 1999, S.58). Leider konnte sich dieser Anspruch nie durchsetzen und nahm in den folgenden Jahrzehnten eine völlig andere Entwicklung, die zunächst im dritten Reich ihre diametral entgegengesetzte Entsprechung durch die menschenverachtende ‚Rassenhygiene’ fand. Aber auch nach 1949 wurde an dem System getrennter Schulen festgehalten und die Grundschule sah ihre Aufgaben mehr und mehr in der Vorbereitung und schließlich der Selektion für die weiterbildenden Schulen.
Erst im Jahre 1973 wurde von der Bildungskommission des deutschen Bildungsrates in seinem Gutachten „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ dieser Gedanke wieder aufgegriffen und so eine vielschichtige Diskussion über den optimalen schulischen Förderort[4] ausgelöst. In ihrer Konzeption sprach sie sich für eine „weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten“ aus (Deutscher Bildungsrat 1973, S.15), was aber bildungspolitisch weitest gehend unbeachtet blieb, wohl auch, weil die Belange des Schulwesens der Kulturhoheit der Länder unterliegt und somit keine Weisungsbefugnis von der Bundesebene besteht. Die ‚Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder’ war da mit ihrer ‚Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens’ 1972 für die Beschulung von ‚behinderten’ Kindern für die Länder schon verbindlicher. Dies mag zum einen an der Aufgabe und Struktur der KMK gelegen haben, also der Koordination von „Angelegenheiten der Kulturpolitik von überregionaler Bedeutung“ (vgl. Drave, Rumpler, Wachtel 2000, S.10), zum anderen aber auch am Inhalt, der den meisten Ländern doch wohl deutlich mehr entgegen kam. „Für die Beibehaltung eigenständiger Sonderschulen spricht die Notwendigkeit, eine umfassende angepasste Hilfe für behinderte Schüler zu geben und gleichzeitig die Allgemeine Schule von Schülern zu entlasten, denen sie nicht gerecht werden kann“ (KMK Empfehlung 1972, S.21). Die KMK Empfehlungen von 1972 verweisen ausdrücklich auf die fehlende praktische Erfahrung bei der Integration der Sonderschulen und ihrer Schüler in die Gesamtschulen und wollten von daher keine Empfehlung in dieser Richtung aussprechen. Tatsächlich gab es in der Bundesrepublik Deutschland bis dahin (außer einer privaten Montessori–Schule in München 1972) kaum nennenswerte Erfahrungen in der gemeinsamen Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder (Wocken 1988).
Mit den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland von 1994 sollte „einem gewandeltem pädagogischen Selbstverständnis“ Rechnung getragen werden (Drave, Rumpler, Wachtel 2000, S.19). In ihren ‚Empfehlungen zur Sonderpädagogischen Förderung’ halten Drave, Rumpler und Wachtel sodann auch als wesentlichen Aspekt der Empfehlungen von 1994 fest: „[…] sonderpädagogische Hilfen können im Prinzip an jeder Schulform angeboten werden, die Priorität liegt bei der Allgemeinen Schule. Ein sonderpädagogischer Förderbedarf führt nicht automatisch zu einer Einweisung in die Sonderschule“ (ebd.). Die Konsequenzen für den Gemeinsamen Unterricht und die Integration behinderter Schüler sind in den einzelnen Bundesländern jedoch sehr unterschiedlich (vgl. Hinz 1999/a). Aus den Empfehlungen lässt sich auch keine verbindliche rechtliche Zusage für die Regelschule als denjenigen „Lernort […], der auf bestmögliche Weise den Förderbedürfnissen des Kindes bzw. Jugendlichen“ gerecht wird, ableiten. Denn bei der „Entscheidung über den Bildungsgang und den Förderort“ sind verschiedene Entscheidungen bezüglich „Fördermöglichkeiten der allgemeinen Schule“, „Verfügbarkeit des erforderlichen Sonderpädagogischen Personals“ und „Verfügbarkeit technischer, apparativer Hilfsmittel sowie spezieller Lehr- und Lernmittel, ggf. baulich-räumlicher Voraussetzung“ mit einzubeziehen (ebd., S.31). Es findet sich leider an dieser Stelle kein Verweis darauf, dass im Bedarfsfall die entsprechenden Ressourcen bereitgestellt werden sollen. Der entsprechende Tenor findet sich in einer Drucksache vom Deutschen Bundestag aus dem Jahr 1994, in dem „soviel Integration wie möglich, so viele Sondereinrichtungen wie nötig […] im Interesse der betreuten Kinder und Jugendlichen als gangbarer Weg“ gesehen wird (Deutscher Bundestag, 1994, S33.).
In Nordrhein-Westfalen markiert das Jahr 1995 den Übergang von der Phase der Schulversuche in den gesetzlich geregelten Rahmen integrativer Beschulung Behinderter. Mit in Kraft treten der ‚Verordnung über die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Entscheidung über den schulischen Förderort (VO-SF)’ vom 22. Mai 1995 finden sich für die Integration von behinderten Kindern in allgemeine Schulen zwei wichtige Neuerungen. Das bis dahin praktizierte Sonderschulaufnahmeverfahren wird durch die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs abgelöst (vgl. VO-SF §1, S.675). Es wird also nicht mehr darüber befunden, ob ein Schüler eine Sonderschule besucht, sondern wie er am besten zu fördern sei. In § 12 Absatz 2 dieser Verordnung wird auch zugleich festgelegt, dass dies nicht unbedingt an der der Behinderung entsprechenden Sonderschule erfolgen muss. „Förderort kann eine dem ermittelten Förderbedarf entsprechende Sonderschule sein oder eine allgemeine Schule, soweit an dieser die erforderlichen personellen und sächlichen Voraussetzung für eine Förderung im Sinne von §9 gegeben sind, der Schulträger gemäß §7 ABS. 4 SchpflG zugestimmt hat und die Erziehungsberechtigten einen Antrag auf Teilnahme ihres Kindes am Gemeinsamen Unterricht für Behinderte und Nichtbehinderte in einer allgemeinen Schule stellen“ (ebd. S. 676). Erstmalig ist nun der Unterricht von ‚behinderten’ Kindern nicht nur unter der Vorgabe eines Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen möglich sondern ist auch durch das ‚Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen’ abgesichert (Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen v. 24.4.1995 (GV.NW) S.376).
Die sinngemäße Übernahme der ‚sächlichen und personellen Voraussetzungen’ aus den KMK Empfehlungen (s.o.) beschränken den Anspruch auf gemeinsamen Unterricht oder gar die Wahlmöglichkeit der Eltern zwischen Sonderschule und allgemeiner Schule entscheidend. „Da jedoch in allen Schulgesetzen ein Ressourcenvorbehalt steht, degeneriert das Elternwahlrecht faktisch zu einem Antragswahlrecht. Dieses wird nicht zuletzt auch durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Herbst 1997 untermauert – ein Recht auf gemeinsamen Unterricht gibt es nicht“ (Hinz 1997/a, S.104). Es ist also von dem persönlichen Einsatz der Eltern und Lehrer, aber auch vom behördlichen Entgegenkommen abhängig, ob ein Kind in seinem gewohnten Umfeld in der ihn am wenigsten behindernden Umgebung zur Schule gehen kann.
Auch die gemeinsame Beschulung in den Sekundarstufen der Schulen erfährt durch die gesetzlichen Grundlagen eine starke Beschränkung. Sie ist in Nordrhein-Westfalen nur unter zielgleichen Vorgaben oder zieldifferent im Rahmen eines zeitlich befristeten Schulversuchs, einer räumlich integrierten sonderpädagogischen Fördergruppe oder Sonderschulklasse (vgl. VO-SF §12 Abs.4, S.676) für die Schüler möglich. „In den Sekundarstufen I und II kann mit Zustimmung des Schulträgers die sonderpädagogische Förderung auch in weiterführenden allgemeinen Schulen erfolgen, wenn die Schulaufsichtsbehörde in dem Verfahren nach Absatz 5 feststellt, daß das Bildungsziel der jeweiligen weiterführenden Schule erreicht werden kann und die erforderlichen personellen und sachlichen Voraussetzungen vorliegen. Im Übrigen wird die Unterrichtung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die voraussichtlich das Bildungsziel der allgemeinen Schulen nicht erreichen können, in weiterführenden allgemeinen Schulen im Schulversuch erprobt“ (Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen v. 24.4.1995 (GV.NW) S.376). Das bedeutet für die meisten Schüler, deren Förderschwerpunkt im Bereich geistige Entwicklung liegt, wohl aber erst recht für ‚schwer behinderte’ Kinder, nach ihrer Grundschulzeit sich dem Primat der Leistung zu beugen. Wenn denn nicht einer der raren Schulversuchs- oder Fördergruppenplätze an einer Gesamtschule ergattert werden kann, bietet die deutsche Schullandschaft mit ihrer Gliederung in Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien wohl nur die Sonderschule als den momentan ‚gangbaren Weg’ an.
Die Möglichkeit des Schulversuchs, bzw. der Einrichtung sonderpädagogischer Fördergruppen oder Sonderschulklassen zeigt aber auch mit ihrem deutlichen Hinweis die Option auf, die hieraus erwachsen kann. Es zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, wie sie vor einigen Jahren bei den Grundschulen stattgefunden hat. Hierbei bleibt nur zu hoffen, dass der Status der Erprobungsphase nicht erst mehrere Dekaden durchlaufen muss, bevor sich der uneingeschränkte Zugang für alle Kinder in die Sekundarstufen etablieren kann.
2.3 Überlegungen zur schulischen Integration von ‚geistig behinderten’ Kindern
Die ersten Impulse des heute verfassungsrechtlich verankerten Rechts auf Bildung für alle Kinder (Menschen) hat unsere Gesellschaft erst recht spät und zunächst sehr zögerlich durch das Gedankengut der Aufklärung erhalten (Speck 1993). Wurden bis dahin vor allem die von „Blödsinn“, „Idiotie“, „Schwachsinn“ und „Geistesschwäche“ (Sengelmann 1885, nach Speck 1993) betroffenen Kinder gar als ‚Wechselbälger’, also als vom Teufel gegen ‚gesunde’ Kinder getauscht, bezeichnet, regte nun die Erforschung der Ursachen für die intellektuell eingeschränkten Fähigkeiten das Interesse. Aber erst seit dem 19. Jahrhundert hat sich zunächst die Heil- und später auch die Sonderpädagogik in Theorie, Forschung und Praxis mit der Pädagogik ‚geistig behinderter’ Menschen und ihrer „ernsthaften“ Erziehung, also auch der Möglichkeiten ihrer ‚Beschulung’ befasst.
Mittlerweile steht das Recht zum Besuch einer Schule für Kinder, die als ‚geistig behindert’ bezeichnet werden, in der Bundesrepublik Deutschland außer Frage. Auch dass Schulbildung ein wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Integration dieser Kinder ist, wird nirgends bezweifelt. Ob aber der gemeinsame Schulbesuch von ‚geistig behinderten’ Kindern und ‚nicht behinderten’ Kindern zu einem erfolgreichen mit- und voneinander Lernen führt, findet nach wie vor keine breite Akzeptanz in der Bevölkerung, so dass es durchgängig möglich wäre; von einem Recht auf den Besuch der gleichen Schule wie die Kinder der Nachbarschaft kann erst gar keine Rede sein.
Als Ursache können nur die nach wie vor starken Vorbehalte und immer noch gängigen Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber Menschen mit ‚geistiger Behinderung’ und die sich daraus ergebende ablehnende Haltung verantwortlich gemacht werden. Der Abbau dieser Haltung gegenüber ‚geistig behinderten’ Menschen kann nur über die Intensivierung und Aufarbeitung von Kontakten erfolgen. „Nicht die Häufigkeit der Kontakte ist entscheidend, sondern seine Intensität. Nicht jeder intensive und enge Kontakt ist aber der Entwicklung positiver Einstellungen förderlich; wichtige Nebenbedingungen sind seine emotionale Fundierung und seine Freiwilligkeit“ (Cloerkes 1985, S.219, nach Maikowski/ Podlesch 1999/a. S.340). So stellt auch Wocken (1993, nach Maikowski/ Podlesch 1999/b) in seinen ‚Untersuchungen zur Sozialen Distanz in verschiedenen Schulen’ fest, dass Schüler, die aus Integrationsklassen kommen, die geringste soziale Distanz zu ‚geistig behinderten’ Schülern haben jedoch bei der Gruppe der Schüler die eine Sonderschule besuchen noch größere Vorbehalte bestehen als bei Schülern der übrigen Schultypen.
Die Überwindung dieser Barrieren wird zusätzlich durch kulturelle Normen erschwert, die geprägt sind durch ein Wertesystem, in dem Leistung, Schönheit und Kraft hervorstechende Merkmale sind und sich in der Haltung der Schüler widerspiegeln. Deshalb müssen ‚geistig behinderte’ Schüler darin bestärkt werden eigene Fähigkeiten herauszubilden, um dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken und sich gegenüber ihren Mitschülern in gewisser Weise auch zu profilieren; hier können sie täglich ihre Handlungskompetenz trainieren. Der lebenspraktische Bereich und damit die Erziehung zu Selbstständigkeit und eigenverantwortlichem Handeln, also der Ausbildung von Handlungskompetenzen im alltäglichen Leben, spielt auch in der Schulumgebung der ‚geistig behinderten’ Kinder eine entscheidende Rolle. In der Gemeinsamkeit von ‚geistig behinderten’ Schülern und ‚nicht behinderten’ Schülern lernen sie in der Beschäftigung miteinander, die Verschiedenheit entwickelt sich so zur Normalität und zu einem für alle förderndem Lernumfeld.
Bezeichnenderweise sind es die Kindergärten als Orte der Erziehung, mit schwach ausgeprägter Leistungsorientierung, wenigen kognitiven Lernansprüchen und Betonung des gemeinsamen Handelns, in denen die Integration ‚geistig behinderter’ Kinder den höchsten Grad an Normalisierung erreicht hat (vgl. Maikowski/ Podlesch 1999/a). Auf schulischer Ebene, mit Verlagerung dieser Schwerpunkte, löst sich der Gedanke des ‚selbstverständlichen Miteinanders’ auf. Es werden Sonderwege gesucht, die Integration an der Grundschule fortzusetzen. Als Alternative, wohl aber mehr als Kompromiss der Gegner einer gemeinsamen Schule, ist die Kooperation von Grund- und Sonderschulen zu verstehen. Durch diese Kooperation kann aber allenfalls ein Impuls gesetzt werden. Es kann sich eine Bereitschaft zur Interaktion mit ‚geistig behinderten’ Kindern herausbilden und sich ein Spektrum der Möglichkeiten in der Integration eröffnen. Eine Gemeinsamkeit im Unterricht ergibt sich hieraus aber nicht zwangsläufig (vgl. ebd.). „Von der Integration eines Kindes kann nach meinen pädagogischen Ansprüchen erst dann gesprochen werden, wenn das Kind, das als behindert bezeichnet wird, ein Mitglied der sozialen Gruppe ist, mit prinzipiell denselben Rechten einer, an den individuellen Fähigkeiten orientierten, optimalen Förderung. Eine so verstandene Integration läßt sich nicht stunden- oder fächerweise verplanen und nach Stundenplangesichtspunkten wieder abschalten“ (Schöler 1996, S.135). Es ist hiermit nicht gemeint, dass alle Schüler den gleichen Unterricht in den gleichen Räumen besuchen; in einem heterogenen Klassenverband ist es aber normal, dass verschiedene Schüler, und eben nicht nur die mit ‚geistiger Behinderung’, an unterschiedlichen Lernzielen arbeiten.
Die vollständige Integration von ‚geistig behinderten’ Schülern verlangt nach einer völlig veränderten methodischen und didaktischen Vorgehensweise im Unterricht und somit auch eine Veränderung des Schulkonzeptes. Der Unterricht kann nicht mehr nur in einzelnen Phasen dem ‚geistig behinderten’ Schüler angepasst werden, sondern der Unterricht muss grundsätzlich so konzipiert sein, dass alle Schüler in den gesamten Unterricht eingebunden sind. Die Gestaltung des Unterrichts muss auf offeneren Formen basieren, die auf die individuellen Lernanforderungen der Schüler in einer inneren Differenzierung mit einem breiteren Lernangebot reagieren. Das erfordert eine projekthafte, handlungsorientierte Ausrichtung des Unterrichts, wodurch ‚geistig behinderten’ Schülern ein Zugang zu Lerninhalten vermittelt, Motivation für neue Aufgaben geschaffen, bekannter Inhalt gefestigt und ein lebenspraktischer Bezug hergestellt wird, aber auch ‚sinnlich–fassbare’ Akzente betont werden. Bei den Lerninhalten, die den Rahmen des Lehrplans für Grundschule betreffen, bedeutet das für Schüler ‚mit geistiger Behinderung’ eine vielschichtige didaktische Strukturierung, die eine längere Bearbeitungszeit, eine andere Aufgabenstellung oder eine individuelle Unterstützung durch einen der Lehrer ermöglicht. Den speziellen Bedürfnissen dieser Schüler muss durch ein Entwicklung förderndes Umfeld entsprochen werden. Hier ist die anregende soziale Umgebung einer heterogenen Klasse für ‚geistig behinderte’ Kinder sehr bedeutsam. Sie werden durch ihre Akzeptanz in der Klasse dazu ermuntert, das gleiche zu tun wie ihre ‚nicht behinderten’ Mitschüler, an deren ‚Vorbild’ sie sich orientieren. Allerdings verlangt es, dass ihnen „die sehr komplexen Inhalte schulischen Lernens“ so aufgegliedert und angeboten werden, dass sie ganzheitlich wahrgenommen und nachgeahmt werden können (vgl ebd. S.129).
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[1] im folgenden kurz KMK genannt.
[2] Auf den ökosystemischen Behinderungsbegriff wird weiter unten eingegangen.
[3] nach Sander 1999
[4] Der Förderbegriff wird im Folgenden nur aus Gründen seiner kultusbürokratischen Einführung verwendet und nicht weiter kritisch hinterfragt, wohl wissentlich, dass es ob seiner Bedeutung divergierende Meinungen gibt (vgl. Dreher, Heinen, Münch 2000, S. 292-293 und Lemke, Schluck 2002).