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Akademische Arbeit
10 Seiten
Germanistik - Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft
Dr. Xia HUANG
Assistenzprofessorin der Deutschabteilung,
Institut der Fremdsprachen,
Shenzhen Technische Universität, Guangdong, China
„Rainer Maria Rilke (1875–1926) is the best-known German poet of his generation and is widely appreciated today by readers in Europe, the United States, and throughout the world.“1 Dieser Klappentext des von Erika A. und Michael M. Metzger herausgegebenen Companion to the Works of Rainer Maria Rilke ist mehr als gültig in Bezug auf seine chinesische Rezeption, denn Rilkes Rezeption und Wirkung im chinesischen Sprachraum lassen sich am besten mit „epochal“ und „phänomenal“ beschreiben.
Er wurde in China als der beste deutschsprachige Dichter nach Goethe und Hölderlin angesehen, während Goethe und Hölderlin im Sinne der dichterischen Produktion viel weniger Achtung bei den chinesischen Dichtern genießen. Obwohl die anderen Dichter der ästhetischen Moderne des Abendlandes, zum Beispiel der französische Dichter Charles Baudelaire (1821–1867), der irische Dichter W. B. Yeats (1865–1939), der britische Dichter T. S. Eliot (1888–1965) und W. H Auden (1907–1973) auch eine große Resonanz bei den chinesischen Dichtern gefunden haben, sieht man Rilke in China etwas anders.
Im Vergleich zur Wirkung Rilkes ist der Einfluss von Eliot auf die chinesische Dichtung nur im begrenzten Bereich der Schreibtechniken und modernen Kunstkonzepte und der Einfluss von Auden ist fast nur auf den Bereich der Rhetorik beschränkt. Nur Rilke hat die oben genannten Gebiete überstiegen, indem er sowohl die Persönlichkeit als auch mentale Einstellung der chinesischen Dichter tiefgehend beeinflusst. Er bietet den chinesischen Dichtern ein lyrisches Paradigma, welches geheimnisvollerweise das Begehren der chinesischen Dichter nach moderner Poesie befriedigt.2
Rilkes Rezeption in China beginnt mit der sporadischen Vorstellung und Übertragung der deutschsprachigen Literatur am Anfang der 1920er Jahre. Im Jahre 1922 veröffentlichte die Monatszeitschrift Xiaoshuo Yuebao3 einen Aufsatz mit dem Titel Die Neuere Literatur Deutschlands, in dem erstmals „Rainer Maria Rilke, der Autor der bisher besten Rodin-Forschung“4 erwähnt wird. Im März 1923 stellt Yu Xiangsen den deutschen Symbolismus vor und kommt dabei auf Rilkes Biographie und Magnum Opus zu sprechen. Rilke wird dabei als ein Dichter des Symbolismus betrachtet und seine Poetologie bemängelt.
Die Gedichte von Rilke beinhalten eine religiöse Farbe und den gleichberechtigten Geist. Er schreibt, was er gesehen hat. Er hat eine Abneigung dagegen, über alles Ekelhafte und Schmerzhafte der Welt zu schreiben. Seine Gedichte sind versöhnlich und schön dekoriert. Sein Frühwerk ist viel besser als sein Spätwerk.5
Aus heutiger Forschungssicht ist diese Darstellung nicht ganz zutreffend: Rilkes Dichtung ist natürlich religiös relevant. Aber insbesondere im Frühwerk thematisiert er durchaus Ekelhaftes und Schmerzhaftes, wie die Aufzeichnungen sowie die früh- und mittelphasigen Gedichte es mehrmals bestätigten. Daneben werden Früh- und Spätwerk heute anderes bewertet. Rilkes Spätwerke Die Sonette an Orpheus und Duineser Elegien gelten heute als die besten und wichtigsten Werke seines Schaffens.
Im Dezember 1923 übersetzte Wuming einen von einem japanischen Gelehrten6 geschriebenen Aufsatz im Titel Die moderne Literatur in Deutschland und Österreich, in dem Rilke zwar kurz vorgestellt, aber für eine Dichterin gehalten wurde.
Rilke ist in Prag geboren und aufgewachsen. Sie kann in gewisser Weise auch als in Österreich eingebürgert gesehen werden. Prag gehört heute zum Staatsgebiet der Tschechoslowakei. ... Sie ist eine echte Lyrikerin und hat sich in Traumgekrönt, Das Buch der Bilder, Das Stundenbuch bewiesen. Ihre Kurzgeschichten, Märchen und einaktige Dramen werden durch die Eigenschaften der Romantik gekennzeichnet.7
Im September 1926 veröffentlichte der Literaturhistoriker Zheng Zhenduo (1898–1958) das 33. Kapitel namens Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert in seinem Literaturabriss. Darin wurde Rilke wie folgt bewertet: „R. M. Rilke (1875- ) ist auch ein wichtiger Dichter. Einst war er als Sekretär des großartigen Bildhauers Auguste Rodin (1840–1917) in Paris tätig. Seine Formsprache im Gedicht ist zierlich, ordentlich und mystisch eingefärbt. Er ist der Wegbereiter der späteren jungen Lyriker des Symbolismus.“8 Im Jahre 1929 verfasste Yu Xiangsen einen weiteren Aufsatz zur Vorstellung der deutschen Literatur der letzten zwanzig Jahre und erläutert darin Rilkes Poetologie.
Es gibt noch einen Dichter namens R. M. Rilke (1875- ), der sich auf das rhythmische Vortragen gut versteht. Seine Gedichte haben viele Verwandlungen erfahren. Am Anfang hat er die Jugendzeit und das Andenken der Heimat besungen, danach Mystisches und Symbolisches sowie Geschichten des Mittelalters. Was Schmerz und Schuld der Moderne betrifft, meidet er sie wie die Sünde. Das Buch der Bilder ist besonders gebildet und vornehm. Aus den Erfahrungen des Dichters in Russland wurde Das Stundenbuch (1906) geschöpft und gilt als eine Art Confessiones des Autors, was beispielhaft in ähnlichen Gedichtsammlungen hervortritt. Seine Neuen Gedichte (1907) haben alles auf der Welt ausgeschrieben und allem Stimme und Farbe verliehen. Seitdem hat er den Übergang von Impressionismus zu Symbolismus vollgezogen. Wegen seiner mystischen Herzlichkeit ist er unter den neuen Dichtern vorbildhaft. Dennoch verliert allmählich die Struktur der Gedichte an Vollkommenheit, seine Form an Ordentlichkeit und seine Schrift an Reinheit, denn er legt mehr Wert auf die realisierbare Darstellung als die ästhetizistische Phantasie, indem er die Dinge sich selbst ausdrücken lässt. Der neuen Gedichte anderer Teil ist ein schlagender Beweis dafür. Darüber hinaus hat er in unschuldigem Geiste Eleganz und Schwermut niedergeschrieben. Der Roman Malte Laurids Brigge (1919) ist eine der wertvollsten Erzählungen der deutschen Moderne. Wenig weiß man leider davon.9
Im Jahre 1931, fünf Jahre nach Rilkes Tod, veröffentlichte Wang Tiran einen Text namens Die wundersame Autobiographie des österreichischen Dichters Rilke10. Dieser Text ist heutzutage als die früheste „Monographie“ über Rilke betrachtet worden. Seitdem mehrten sich unter den chinesischen Intellektuellen Rilkes Übertragungen und Vorstellungen in China.
Die Beliebtheit von Rilke mag sich vor allem seinem Briefstil verdanken. Denn es gibt in China auch eine ähnliche lange Tradition des Briefeschreibens. Seine Briefe beziehen sich nicht zuletzt auf Probleme, die jungen Menschen am Herzen liegen; oft handeln sie von Leben, Kunst, Liebe und Schicksal, weswegen sie mehrmals übersetzt und vorgestellt worden sind. Am 1. April 1936 veröffentlichte die Erstausgabe der Monatszeitschrift Lvzhou11 die von Feng Zhi (1905–1993) übersetzten Briefe an den jungen Dichter Kappus. 1948 wurden auch Briefe an eine venezianische Freundin und Briefe über Cézanne übersetzt und gedruckt. Im Vorwort des Übersetzers der 1938 herausgegebenen Zehn Briefe an einen jungen Dichter brachte Feng Zhi seine Motivation der Übersetzung zum Ausdruck:
Rilke ist nicht nur Dichter, sondern auch ein unermüdlicher Briefeschreiber. Er hat in seinem Leben eine Vielzahl liebenswürdiger und schöner Briefe geschrieben. Aber die hier veröffentlichten zehn Briefe verschmelzen zu einer unteilbaren Einheit mit formlosem Anfang und Ende, die sich am herzlichsten den jungen Menschen widmen. Drin spricht er von Dichtung und Kunst, Liebe, Ernst und Ironie, Trauer und Zweifel, Schwierigkeiten des Lebens und Berufs – alle sind den jungen Menschen am wichtigsten.12
Das Heftchen löste nach der Herausgabe sofort großes Interesse aus. Ein Kommentar dazu legte großen Wert auf die Anschauung der Einsamkeit, Geduld und Trauer:
Gedichte sind „nicht Gefühle, sondern Erfahrungen“. Von Rilkes Spätwerk, den Elegien, aus kann man behaupten, dass Rilke sich in einer Einheit von Dingen und Ich befindet. Zwischen ihm und allen Dingen in der Welt gibt es keinen Abstand mehr. Er lebt nackt in Dingen des Kosmos. Die Dinge des Kosmos sind ihm auch nackt gewesen. Das ist der sogenannte vollendete Zustand des Lebens.13
Als einer der wichtigsten modernen Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker reflektierte Liang Zongdai14 schon in den 30er Jahren die Unzulänglichkeiten der Neuen Gedichte, zu deren Überwindung seiner Meinung nach ein neues epistemologisches Paradigma ins Auge gefasst werden musste. Er fragte sich zuerst, was Dichtung sei und welche Elemente die alten oder modernen Klassiker ausgemacht hätten. „Kosmisches Bewusstsein“ sei der Schlüssel, so seine Antwort. Aus seiner Sicht liege die Größe Goethes und Li Bais (701–762)15 in der intimen Kommunikation mit dem Kosmos. „Herr Valéry hat uns mit dem von Musik und Farbe gewobenen Phantasiebrokat ins Geheimnis des Kosmos geführt, damit wir der Pulsbewegung zwischen uns selbst und dem Kosmos lauschen können.“16 Die Wahrheit der Welt findet sich seiner Meinung nach in der harmonischen Resonanz zwischen Menschen und Kosmos. Ein großartiges Gedicht sei in der Lage, den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Nicht-Ich aufzugeben und den Menschenzustand als eine Schallwelle des Naturorchesters wiederzuerkennen. Alles sei mit allem verbunden. Symbolismus bedeute, „durch einen Augenblick die Ewigkeit zu erfahren und durch das Sandkorn den ganzen Kosmos“. Abgesehen von dem Konflikt zwischen Osten und Westen, Tradition und Moderne, Wenyan und Baihua solle die holistische Kosmoserfahrung das Hauptthema der Poetik sein. Die Erfahrung der Schönheit sei deshalb auch eine Erfahrung der Wahrheit, die man nicht verstandesmäßig fassen könne, sondern nur mit dichterischen Mitteln in einer augenblicklichen mystischen Begegnung mit dem Kosmos, sodass auf keinen Fall die Philosophie, sondern die reinste Dichtung diese Wahrheit zu vermitteln vermöge.17
[...]
1 Erika A. u. Michael M. Metzger (Hrsg.): A Companion to the Works of Rainer Maria Rilke. Rochester 2001. Hier in: Engel, Manfred (Hrsg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2004. S. XI.
2 Zang Di (1964–): „Rilke in chinesischer Sprache“. In: Rilkes Anthologie, Peking 1996, S. 1. Übersetzt v. der Verfasserin. Die hier und im folgenden Text enthaltene Titel chinesischsprachiger Druckwerke (falls ohne besondere Anmerkung) werden in den Quellenangaben in der Übersetzung der Verfasserin zitiert.
3 Xiaoshuo Yuebao, chinesisch 小说月报, Monatszeitung der Erzählungen.
4 A. Filippov: „Die Neuere Literatur Deutschlands“. Übersetzt v. Xizhen. In: Xiaoshuo Yuebao. Vol. 13, Nr. 8, am 10. Aug. 1923. Übersetzt v. der Verfasserin.
5 Yu Xiangsen (1897-?): „Der deutsche Realismus und dessen Opposition“. In: Xueyi Zeitschrift. Vol. 4, Nr. 9, Shanghai 1. Mar. 1923. Übersetzt v. der Verfasserin.
6 生田春月 (いくた しゅんげつ, 1892–1930).
7 Wuming (Anon.) chinesisch无明. In: Xiaoshuo Yuebao. Vol. 14, Nr. 12. Shanghai 10.12.1923. Übersetzt v. der Verfasserin.
8 Vgl. Zheng Zhenduo: „Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert“. In: Xiaoshuo Yuebao. Vol. 17, Nr. 9. Shanghai 10.09.1926. Übersetzt v. der Verfasserin.
9 Yu Xiangsen: „Die deutsche Literatur der letzten 20 Jahren“. In: Xiaoshuo Yuebao, Vol. 20, Nr. 8, Shanghai 10.08.1929. Übersetzt v. der Verfasserin.
10 Wang Tiran (1906–1988): „Die wundersame Autobiographie des österreichischen Dichters Rilke“. In: Qianfeng Yuekan, Kolumne Weltliteratur letzter Zeit. Vol. 1, Nr. 5, 10.02.1931. Übersetzt v. der Verfasserin.
11 Lvzhou, chinesisch 绿洲, Oase.
12 Feng Zhi: „Vorwort des Übersetzers“. In: Feng Zhi Quanji (Feng Zhis Gesamtwerk, Abk.: FZQJ). Bd. 11, Shijiazhuang 1999, S. 281. Übersetzt v. der Verfasserin.
13 Shi Qiao (Pseudonym): „Über Zehn Briefe an einen jungen Dichter “. In: Yiwen Zeitschrift. Vol. 3, Nr. 12. Peking 01.01.1945. Übersetzt v. der Verfasserin.
14 Liang Zongdai (1903-1983), chinesisch 梁宗岱 studierte in den 20er bis 30er Jahren in Europa und war mit den französischen Dichtern Paul Valéry (1871–1945) und Romain Rolland (1866–1944) bekannt.
15 Li Bai (701–762, chinesisch李白) gilt als der bedeutendstelyrische Dichter Chinas in der Tang-Zeit.
16 Liang Zongdai: „Herr Paul Valéry“. In: Dichtung und Wahrheit, Dichtung und Wahrheit anderer Teil. Peking 1984, S. 22.
17 Vgl. Liang Zongdai: 1984, S. 22.