Ausgehend von unterschiedlichen Haltungen gegenüber dem Suizid von der Antike bis zur Gegenwart, wird die Sichtweise des Sophokles in Platons "Phaidon" analysiert.
Sophokles lehnt den Suizid aus drei Gründen ab. Der Mensch befindet sich in einer "Feste", er ist von Geburt an eingeschränkt durch unterschiedliche Begabungen, Ressourcen etc. Wer darunter so leidet, dass er Suizid begeht, räumt dem verachtenswerten Leib Macht über die eigene Person ein und schneidet sich damit von philosophischen Erkenntnismöglichkeiten und einem philosophischen Dasein ab. Ein zweiter Grund besteht darin, dass der Mensch den Göttern untergeordnet ist und diese allein über Leben und Tod zu bestimmen haben. Ein dritter Grund ist in der Anerkennung des weltlichen Gesetzes zu sehen, das Sophokles zum Tod verurteilt hat und dem der Einzelne Respekt schuldet. Andererseits fürchtet Sophokles als Philosoph den Tod nicht, denn Platon vertritt die Auffassung, dass Philosophen, die irdische Freuden gering schätzen, ohnehin für die Welt "tot" sind. Der Tod wird sogar ersehnt aufgrund des Glaubens, nach dem Tod werde jeder so wiedergeboren, wie er gelebt habe, so dass Sophokles davon ausgehen kann, in das Göttliche, Ewige einzugehen.
Inhalt
Einleitung
I Disparität der Haltungen gegenüber dem Suizid
II Der Tod als wünschenswerter Zustand in Platons Phaidon
II.1 Die Verachtung des Leibes
II.2 Die Seele als Erkenntnisorgan
II.3 Dualismus zwischen philosophischer und nichtphilosophischer
III Argumentative Verankerung der Ablehnung des Suizids
III.1 Sieg des Leibes
III.2 Rebellion gegen die Feste
III.3 Hybris gegenüber ewigen Gesetzmäßigkeiten
IV Fazit
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung
Das Phänomen des Suizids hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Im Unterschied zu früheren Jahrhunderten hat sich gegenwärtig eine medizinische Sicht des Suizids durchgesetzt. Suizidale gelten als psychisch krank; meist attestiert man ihnen eine depressive Störung, die in ambulanter Psychotherapie oder auch stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden sollte.
I Disparität der Haltungen gegenüber dem Suizid
Selbsttötungen haben über die Jahrhunderte hinweg zu vielfältigen Disputen über die Berechtigung und in einigen Fällen vielleicht auch Wünschbarkeit einerseits bzw. die Ablehnung bis zur völligen Verwerfung der Tat andererseits geführt.
Mit der Einführung des Christentums wurde der Suizid zunächst als eindeutig sündhaft verdammt. So nennt Thomas von Aquin den Selbstmord eine dreifache Sünde: Einmal gegenüber der eigenen Person, zum anderen gegenüber der Gemeinschaft und zum dritten gegenüber Gott, der das Leben geschenkt und daher auch über Leben oder Tod zu entscheiden habe:1
RESPONDEO dicendum quod seipsum occidere est omnino illicitum triplici ratione. Primo quidem, quia naturaliter quaelibet res seipsam amat: et ad hoc pertinet quod quaelibet res naturaliter conservat se in esse et corrumpentibus resistit quantum potest. Et ideo quod aliquis seipsum occidat est contra inelinationem naturalem, et contra caritatem, qua quilibet debet seipsum diligere. […] .
Secundo, quia quaelibet pars id quod est, est totius. Quilibet autem homo est pars communitatis: et ita id quod est, est communitatis.
Tertio, quia vita est quoddam donum divinitus homini attributum, et ejus potestati subjectum qui „occidit et vivere facit”. Et ideo qui seipsum vita privat in Deum peccat : […].
Diese harsche Position blieb jedoch auch im christlichen Kulturkreis nicht unwidersprochen. So verteidigte der englische Philosoph David Hume den Selbstmord als eine angemessene und sogar verpflichtende Entscheidung gegenüber der eigenen Person, wenn unglückliche Lebensumstände, schwere Krankheiten oder belastende Alterungsprozesse das Leben zu einer Qual machen. Hume stellte in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage, warum es zwar sündhaft sei, Suizid zu begehen, nicht aber Häuser zu bauen, Äcker zu bestellen und den Ozean zu befahren? Auch in den letztgenannten Fällen greife der Mensch aktiv in die Schöpfung ein (vgl. On Suicide, S. 7).
Der französische Philosoph Jean Améry, der sich 1978 suizidierte, ist heute wohl der bekannteste Apologet des uneingeschränkten Rechtes, durch die eigene Hand zu sterben. Améry wandte sich – darin Hume vergleichbar – sowohl gegen den nackten Lebenswillen, der abstrahiert von würdelosen Bedingungen, unter denen sich das eigene Leben vollziehen kann, als auch gegen die Anmaßung der Gesellschaft, jeden Menschen zu zwingen, so lange wie möglich zu leben, indem sich niemand auf seinen bloßen Wunsch hin ein Suizidmittel verschreiben lassen kann. Die selbstbestimmte Wahl zwischen Leben und Tod ist für Jean Améry das, was den Menschen am deutlichsten vom Tier, das nur nach bloßer Lebenserhaltung strebt, unterscheidet: Seine These lautet daher: Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.2
Auch in der Antike gab es bereits Vertreter einer toleranten oder sogar befürwortenden Haltung gegenüber dem Suizid. Für diese Haltung steht etwa Seneca. Er tritt nachdrücklich dafür ein, dass nicht das Leben an sich, sondern nur das gute Leben lebenswert ist und schreibt in einem Brief an seinen Freund Lucilius:3
Quae, ut scis, non semper retinenda est; non enim vivere bonum est, sed bene vivere. Itaque sapiens vivet quantum debet, non quantum potest. Videbit ubi victurus sit, cum quibus, quomodo, quid acturus. Cogitat semper qualis vita, non quanta sit. [sit] Si multa occurrunt molesta et tranquillitatem turbantia, emittit se; non hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coepit suspecta esse fortuna, diligenter circumspicit numquid illic desinendum sit.
II Der Tod als wünschenswerter Zustand in Platons Phaidon
Die innerhalb des Phaidon vertretene Sichtweise hebt sich von den zuvor genannten Standpunkten deutlich ab. Sokrates postuliert zunächst, dass es für einen Philosophen nicht nur selbstverständlich sein sollte, in Gelassenheit und Zuversicht zu sterben, sondern den Tod – darüberhinausgehend – zu ersehnen und anzustreben. So äußert er gegenüber Simmias und Kebes:4
Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die andern merken, nach gar nichts anderm streben als nur zu sterben und tot zu sein.
Der Grund für diese Todessehnsucht besteht in der Annahme, dass der Leib philosophischer Erkenntnis entgegensteht, so dass es das höchste Ziel des wahrhaft philosophischen Menschen sein müsse, die Seele vom Leib zu lösen:5
Sondern es ist uns wirklich ganz klar, daß, wenn wir je etwas rein erkennen wollen, wir uns ihm losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen müssen.
Die absolute Absonderung der Seele vom Leib aber ist in der Argumentation des Sokrates gleichbedeutend mit dem Tod und daher für jeden, der nach Erkenntnis und Wahrheit strebt ein Zustand höchster Erfüllung. Der Tod muss in diesem Zusammenhang aber nicht zwangsläufig die reale Beendigung der menschlichen Existenz meinen, sondern kann auch als Metapher für eine extrem asketische Existenz in höchster Konzentration auf philosophische Fragen aufgefasst werden.
II.1 Die Verachtung des Leibes
Den gesamten Text durchzieht eine elementare Leibfeindlichkeit, einmal in Bezug auf die elementaren physischen Bedürfnisse des Menschen, zum anderen aber auch in der Bedeutung sinnlich-ästhetischer Genüsse bzw. irrationaler Affekte und Leidenschaften.
Der Leib schafft, so Sokrates einerseits Ungemach, denn man muss sich um ihn kümmern, ihm Nahrung und Kleidung verschaffen, und verursacht andererseits im Krankheitsfall sowie im Alter allerlei Beschwerden. Aber nicht nur die Last, sondern auch die mit dem Leib verbundene Lust, etwa durch Nahrungsaufnahme, sexuelle Erfüllung oder die Befriedigung von Eitelkeiten, lehnt Sokrates als hinderlich für eine philosophische Lebensführung ab. Der wahre Philosoph wendet sich daher vom Leib ab:6
Scheint dir, daß es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die sogenannten Lüste, wie um die am Essen und Trinken? – Nichts weniger wohl, o Sokrates, sprach Simmias. – Oder um die aus dem Geschlechtstriebe? – Keineswegs. Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, daß ein solcher sie groß achte? Wie schöne Kleider und Schuhe und andere Arten von Schmuck des Leibes zu haben, glaubst du, daß er es achte oder verachte, mehr als höchst nötig ist, sich hierum zu kümmern? – Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte Philosoph.
[...]
1 Summa Theologica, II-II, q 64, a 5.
2 Hand an sich legen, S. 43.
3 Epistulae morales, VIII, 70, 4-5.
4 Phaidon, 64 a.
5 Ebd., 66 d.
6 Ebd., 64 d-e.