In seiner Entwicklungsgeschichte steht das Streichquintett fast immer im Schatten des Streichquartetts. Ist das Streichquintett eine eigenständige musikalische Gattung? Der Autor nimmt das zweite Streichquintett von Brahms als Beispiel und versucht zu zeigen, wie sich das Streichquintett satztechnisch und musikästhetisch von dem Streichquartett abgrenzt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die gattungsgeschichtliche Entwicklung des Streichquintetts
3. Das Streichquintett als eine musikalische Gattung
4. Das Streichquintett in G-Dur op. 111
4.1 Die Entstehungsgeschichte
4.2 Musikalische Analyse
4.2.1 Der erste Satz Allegro non troppo, ma con brio
4.2.2 Der zweite Satz Adagio
4.2.3 Der dritte Satz Un poco Allegretto
4.2.4 Der vierte Satz Vivace ma non troppo presto
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In Brahms´ Gesamtschaffen ist das reiche, mannigfaltige Kammermusikwerk das Zentrum seiner Instrumentalmusik. Gerade als Kammermusiker wurde er in seiner Wahlheimat Wien frenetisch gefeiert. In der Musiksprache neigt er viel mehr dem Lyrischen als dem Dramatischen zu. So ist es zu verstehen, dass er über zwei Jahrzehnte brauchte, um die erste Symphonie zustande zu bringen. Auch keine einzige Oper findet in seinem Œuvre ihren Platz.
Brahms hat sich während seiner gesamten Schaffenszeit insgesamt dreimal mit der Komposition von Streichquintetten auseinandergesetzt. Aus dem ersten Versuch entstand 1862 das f-Moll-Streichquintett op. 34 für zwei Violinen, Bratsche und zwei Violoncelli. Allerdings nach Ansicht Joseph Joachims mangelt es ihm an klanglichem Reiz, was möglicherweise auf die Besetzung mit zwei Violoncelli zurückzuführen ist.1 Brahms legte unbefriedigt das Manuskript zur Seite, das heute als verschollen gilt. Es wurde möglicherweise von Brahms selbst vernichtet, wie viele andere seiner Entwürfe, Skizzen und Versuche auch. Was wir heute von diesem gescheiterten Streichquintett noch kennen, sind dessen Umarbeitungen, die Sonate für zwei Klaviere op. 34a und das Klavierquintett op. 34b. Mit einem nicht geringen zeitlichen Abstand zum ersten Versuch folgt das F-Dur-Streichquintett op. 88, welches 1882 in Bad Ischl entstanden ist. Ebenfalls in Bad Ischl komponierte Brahms 1890 sein letztes Streichquintett in G-Dur op. 111. Im Gegensatz zum ersten Versuch war er mit diesen beiden Streichquintetten recht zufrieden, wie die Mitteilung zum F-Dur-Streichquintetts an seinen Verleger in Berlin zeigt. Nicht zuletzt wurde das G-Dur-Streichquintett von Brahms ursprünglich als sein letztes Werk überhaupt gedacht. Es ist auch auffallend, dass diese zwei Streichquintette zu den in Brahms´ Schaffen häufig anzutreffenden Zwillingswerken, die in zeitlicher Nähe entstanden sind, gehören, wie auch die zwei Serenaden op. 11 und 16, die zwei Streichsextette op. 18 und 36, die erste und zweite Symphonie op. 68 und 73, die zwei Streichquartette op. 51 Nr. 1 und 2, die zwei Klarinettensonaten op. 120 Nr. 1 und 2 und andere.
In der vorliegenden Arbeit wird das zweite Streichquintett von Brahms hinsichtlich der satztechnischen, stilistischen und klanglichen Aspekte untersucht. Am Ende soll versucht werden, die gattungsgeschichtliche Position der Brahms´schen Streichquintette zu erläutern. Um dorthin gelangen zu können, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die gattungsgeschichtlichen Zustände des Streichquintetts zu werfen. Die verschiedenen Entwicklungsrichtungen des Streichquintetts – vor allem durch die verschiedenen Besetzungsmöglichkeiten – zeichnen ein uneinheitliches Bild des Streichquintetts. Dessen Vielfalt an satztechnischen und klanglichen Möglichkeiten stellt einerseits ein wesentliches Merkmal für das Streichquintett und andererseits eine Erschwernis für die Bildung einer allgemeinen verbindlichen Gattungsästhetik dar. Zudem trägt die enge Verwandtschaft mit dem Streichquartett, welches als Ideal des mehrstimmigen Streichersatzes gilt, dazu bei, dass das Streichquintett in seiner Entwicklungsgeschichte stets im Schatten des Streichquartetts steht. Hat das Streichquintett eine eigenständige Gattungsgeschichte? Ist das Streichquintett überhaupt eine Gattung? Diese historische Unsicherheit hat sicherlich auch dazu geführt, dass das Interesse am Streichquintett bei den Komponisten nie so groß wie das am Streichquartett war. Deshalb wird hier die Gattungsfrage des Streichquintetts von der Schilderung der geschichtlichen Entwicklung des Streichquintetts getrennt und separat behandelt, um besser nachzuvollziehen, wie sich der Gattungszusammenhang mit dem Streichquartett auflöst und sich die eigenen gattungsgeschichtlichen Züge des Streichquintetts bestätigen.
2. Die gattungsgeschichtliche Entwicklung des Streichquintetts
Unter der Bezeichnung Streichquintett versteht man eine fünfstimmig-solistische Kammermusik für Streichinstrumente in verschiedenen Besetzungen.2 Die heute als Streichquintett angesehenen Sätze sind meist für zwei Violinen, zwei Bratschen und Violoncello sowie für zwei Violinen, Bratsche und zwei Violoncelli geschrieben. Die beiden häufigsten Besetzungen weisen die zwei wichtigsten Entwicklungslinien der Gattungsgeschichte vor dem 19. Jahrhundert auf. Während die Besetzung mit zwei Violoncelli durch die Werke von Boccherini, Brunetti u.a. von Italien über Spanien ausging und sich später in Paris als Standardbesetzung des französischen Streichquintetts etablierte, erlebte die Besetzung mit zwei Bratschen im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Wien, ihre Blütezeit.
Die Forschungsbeiträge zum Streichquintett sind im Vergleich zum Streichquartett sehr spärlich. Die bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Streichquintett konzentrieren sich meist auf den Stil und die Entstehung einzelner Werke. Einen Überblick auf die allgemeine stilistische Entwicklung und eine gattungsgeschichtliche Beschreibung des Streichquintetts findet man beispielsweise im Tilman Siebers „Das klassische Streichquintett“ (1983) und im MGG-Artikel über das Streichquintett von Ludwig Finscher (1998). Siebers Arbeit richtet sich auf Quellenkunde vor dem 19. Jahrhundert und versucht, die Gattungsfrage des Streichquintetts zu beantworten, während Finscher in seinem Artikel anhand verschiedener Entwicklungszüge eine allgemeine ungebrochene Gattungsgeschichte darstellt. Eine sukzessive Beschreibung der wichtigsten Quintettkompositionen des 19. Jahrhundert gibt Katrin Bartels in ihrer Studie „Das Streichquintett im 19. Jahrhundert“ (1996). Und auch in der Mozartforschung werden die einzelnen Streichquintette Mozarts nicht separat behandelt, sondern aufgrund ihrer historischen Stellung werden die Gattungsmerkmale des Streichquintetts im Zusammenhang erörtert, so z. B. im Buch „Mozarts Streichquintette“ von Cliff Eisen/Wolf-Dieter Seiffert (1994) mit den Beiträgen zum musikalischen Satz, Gattungskontext und zu Quellenfragen.
Als musizierende Form begegnet man den drei-, vier- und fünfstimmigen Streichersätzen schon seit dem Frühbarock in verschiedenen Gattungen der Instrumentalmusik in Italien. Zuerst in den Sonaten einiger Komponisten in Venedig und Bologna, und dann ab 1700 in den Concerti und Sinfonie tauchte die übliche fünfstimmige Streicherbesetzung mit zwei Violinen, Alt- und Tenorviola und Bass auf. Aus dem Concerto grosso wurde dann das italienische Streichquartett abgeleitet,3 indem sich der Prozess vollzog, dass sich das Konzert in eine kammermusikalische Gattung verwandelte, durch die allmähliche Ausbildung des Konzertierens aller Stimmen bei kleiner Besetzung und einer kammermusikalischen Gestaltung des Satzes. Im Lauf der Zeit unterscheidet sich dann letztendlich durch die Stimmordnung im fünfstimmigen Satz das Quintett vom Quartett.4
Durch die Auflockerung aller Stimmen bei der kleinsten solistischen Besetzung entsteht um 1730 die neue Gattung Concertino, die als unmittelbarer Vorläufer für das italienische Streichquartett angesehen wurde. Diese neue kompositorische Möglichkeit im vierstimmigen kammermusikalischen Bereich fördert auch die Ausbildung des italienischen Streichquintetts. Die Erfahrungen einiger Komponisten bei der Beschäftigung mit dem Quartett werden in deren Quintettschaffen verwendet und erkennbar. Im Allgemeinen kann das Streichquartett des Boccherinischen Typus als stilistisches Vorbild für das italienische Streichquintett angesehen werden, dessen regelmäßige Periodenbildung, kurze motivische Abwechslungen bei der gleichwertigen Behandlung aller Stimmen sowie die solistische Besetzung für die stilistische Herausbildung des italienischen Streichquintetts von Bedeutung sind. Demzufolge wird das Streichquartett als Zwischenglied angesehen, um eine kammermusikalisch durchsichtige Gestaltung auch im Streichquintett zu gewähren.5
In Süddeutschland, besonders in Mannheim zeigt sich eine andere Entwicklung des vierstimmigen Satzes. Charakteristisch dafür sind die Auflockerung des Satzes, frei konzertierende Mittelstimmen, kontrastierende zwei- oder dreistimmige Episoden, oftmals frei imitatorisch geführte Stimmen und unisone Stimmenverläufe. Im Verlauf der Entwicklung löste sich dann die Bassstimme von ihrer reinen Generalbassfunktion und wurde immer selbständiger. Daher war die Ausbildung eines fünfstimmigen Satzes mit der dialogischen Aufspaltung der Stimmen nicht schwer zu vollziehen. Mit diesen günstigen Voraussetzungen konnte in der Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts die Erweiterung zum fünfstimmigen Satz durch die Hinzufügung einer Stimme vollzogen werden. Dies ist besonders in den Quintetten von Toeschi, Holzbauer, J. Ch. Bach sowie in den Flötenquintetten von Cambini mit vier konzertierenden Stimmen zu beobachten.
Die Kammermusik in Österreich zeigt bis 1780 ihre vielfältigen Erscheinungsformen mit unterschiedlichen Bezeichnungen wie Divertimento, Serenade, Notturno und Cassation. Im frühklassischen Divertimento existieren die unterschiedlichen Besetzungsarten mit Bläsern, Streichern oder gemischtem Ensemble sowie eine verschiedene Anzahl von Sätzen. Auch die Stimmenzahl ist durchaus nicht einheitlich. Die Vierstimmigkeit wird zwar auch hier bei den Österreichern als die reinste musizierende Form betrachtet, doch ist die Existenz der fünfstimmigen Sätze im österreichischen Divertimento von vornherein vorhanden. Die fünfstimmige Besetzung scheint wie die vierstimmige als eine von mehreren Aufführungsmöglichkeiten des Divertimentos konzipiert zu sein. Daher ist auch zu verstehen, dass es eine relativ große Anzahl von fünfstimmigen Werken im Divertimento gibt, wenn auch insgesamt immer noch weniger als vierstimmige. In Österreich werden üblicherweise die Mittelstimmen in den Orchesterwerken verdoppelt. Die geteilten Bratschen sind besonders im Salzburger Raum ein charakteristisches Merkmal, wie z. B. auch in vielen von Mozarts Sinfonien aus dem Jahre 1773. Es wird dann auch in die Quintettkomposition übertragen. So besteht die übliche Besetzung im österreichischen Quintett aus zwei Violinen, zwei Bratschen und Violoncello.
Die im Jahre 1753 entstandene Cassatio für zwei Violinen, zwei Violen und Bass in G-Dur von Josef Haydn gilt als das erste fünfstimmige Divertimento für Streicher. Allerdings hat Haydn in der gattungsgeschichtlichen Entwicklung des Quintetts nicht weiter mitgewirkt. In den siebziger und frühen achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts begann der Wandel vom Divertimento zum klassischen Streichquintett. Die neue Eigenschaft von Haydns Streichquartetten beeinflusst auch massiv die Gestaltung der fünfstimmigen Streichsätze. Als erster bedeutender Quintettkomponist im deutschsprachigen Raum wird J. Haydns Bruder Michael Haydn (1737-1806) angesehen. Insgesamt sind sieben Quintettkompositionen von ihm nachweisbar. M. Haydn verfeinert die von verschiedenen Meistern erreichte Satztechnik mit der Individualisierung der Einzelstimme, der freieren Behandlung der Instrumente und den formalen Erweiterungen. Dadurch zeichnet sich der Beginn der Herausbildung der verschiedenen, von der Gattung des Quintetts her zu begreifenden Eigenschaften eines Instrumentalstils ab.
Der Höhepunkt in der gattungsgeschichtlichen Entwicklung des Streichquintetts wurde bei Mozart (1756-1791) erreicht. Mozarts B-Dur-Quintett KV 174 steht hinsichtlich der formalen Gestaltung, Verarbeitung des musikalischen Materials und Verfeinerung der Satztechnik über den Quintetten M. Haydns und lässt auch die im gleichen Zeitraum entstandenen Quintette der Süddeutschen weit hinter sich zurück. Nach 1786 vollzog sich die Weiterentwicklung der Satztechnik und des klassischen Stils des Streichquintetts im deutschsprachigen Raum hauptsächlich in Wien. Angesichts der freien Behandlung der Instrumente und der Selbständigkeit der Einzelstimmen wird der Unterschied zwischen dem österreichischen und dem italienischen Quintett immer geringer. Das Streichquintett dieser Epoche unterscheidet sich durch die Merkmale formaler, struktureller und klanglicher Art erkennbar von gleichzeitigen Streichquartetten und erhält immer mehr Eigenständigkeit. Im Mittelpunkt der Wiener Quintett-Produktion stehen die vier Streichquintette Mozarts KV 515, 516, 593 und 614. Diese vier Streichquintette bilden zweifellos den Höhepunkt der Gattung. Sie werden sowohl in Mozarts Œuvre als auch in der Gattungsgeschichte des Streichquintetts als ein geschlossener Komplex verstanden, so auch die Einschätzung von Friedrich Blume: „Mozarts Streichquintette stehen völlig isoliert auf einsamer geschichtlicher Höhe“6
Mit dem Erscheinen der drei ersten Quintette (op. 1, 1807) knüpfte der französische Komponist englischer Provenienz Georges Onslow (1784-1853) an die Tradition des italienischen Streichquintetts an. Insgesamt schrieb Onslow 34 Streichquintette und blieb bis zum seinem Tode 1853 der führende Quintettkomponist in Frankreich. Die meisten Streichquintette von Onslow sind für zwei Violinen, Bratsche und zwei Violoncelli oder als Alternativ-Besetzung mit zwei Violinen, Bratsche, Violoncello und Kontrabass geschrieben. Jedoch richtete er seine Werke von Anfang an nach den Wiener Klassikern, vor allem Haydn, Mozart und dem frühen Beethoven.
Außerhalb Frankreichs lag die Konzentration des Streichquintettschaffens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin in Wien, wo durch Mozart und seine Zeitgenossen im ausgehenden 18. Jahrhundert der Ruf des Wiener Streichquintetts etabliert wurde. Auch von Beethoven ist das C-Dur-Streichquintett op. 29 ein wichtiger Beitrag für die Weiterentwicklung der Wiener Produktion. Das einzige Streichquintett Beethovens konzentriert sich auf Klang und Harmonik, während sich die thematisch-kontrapunktische Arbeit und die satztechnische Möglichkeit zurücknehmen.7 In gewisser Weise wurde das ebenfalls in C-Dur stehende Streichquintett D 956 von Franz Schubert als Fortsetzung von Beethovens C-Dur-Streichquintett op. 29 betrachtet. Wie bei Beethoven, bleibt das im Jahre 1828 entstandene C-Dur-Streichquintett D 956 Schuberts einziges Streichquintett, auch sein letztes Kammermusikwerk. Anders als Beethoven – wie auch gegen die Tradition des Wiener Streichquintetts überhaupt – schrieb Schubert das Werk für zwei Violinen, Bratsche und zwei Violoncelli. Der Grund hierfür ist wohl Schuberts Vorliebe für die Tenorlage.8
Nach der Blüte des Wiener Streichquintetts am Anfang des 19. Jahrhunderts sind die Quintett-Produktionen drastisch zurückgegangen. F. Mendelssohn Bartholdy komponierte sein erstes Streichquintett A-Dur op. 18 1826 mit erst 17 Jahren. Das zweite Streichquintett B-Dur op. 87 ist im Jahre 1845 entstanden. Noch intensiver als im ersten Streichquintett zeigt sich die Klangflächentechnik im zweiten. Damit ist in Mendelssohns Streichquintetten die seit Beethoven ausgelöste Thematik des Gegensatzes zwischen kammermusikalischer Feinheit und orchestralem Klang noch einmal auseinandergesetzt. Dies hat deutliche Spuren bei vielen Komponisten des 19. Jahrhunderts hinterlassen, nicht zuletzt bei Brahms.
Mit ebenfalls zwei Streichquintetten trat Brahms in die Gattungsgeschichte ein. Während das erste Streichquintett F-Dur op. 88 mehr kammermusikalische Stilmerkmale aufweist, dominiert im zweiten G-Dur op. 111 der orchestrale Gestus. Auch der berühmte Zeitgenosse von Brahms, Antonín Dvořák schrieb Streichquintette. Insgesamt sind drei Quintette von ihm entstanden. Das erste Streichquintett a-Moll op. 1 stammt aus dem Jahre 1861, wurde jedoch erst im Jahre 1943 veröffentlicht. Das 1875 entstandene zweite Streichquintett G-Dur op. 77 ist mit zwei Violinen, Bratsche, Violoncello und Kontrabass besetzt und somit eines der wenigen Quintette, in denen der Kontrabass Wesentliches zu Satz und Klang beiträgt. Dvořáks drittes Streichquintett Es-Dur op. 97 ist 1893 unmittelbar nach dem F-Dur-Streichquartett op. 96 in den USA entstanden, wieder mit zwei Violinen, zwei Bratschen und Violoncello besetzt und wurde von der amerikanischen Landschaft und Volksmusik inspiriert. Einen Sonderfall in der Gattungsgeschichte bildet das F-Dur-Streichquintett von Anton Bruckner. Das Werk ist 1878/79 auf Anregung Jos. Hellmesbergers entstanden und bleibt das einzige, vollgültige Kammermusikwerk des österreichischen Symphonikers. Allgemein betrachtet wird das Werk stark unter symphonischen Gedanken konzipiert und als Symphonie für fünf Streichinstrumente charakterisiert.
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden noch einige Streichquintette im Kontext der russischen Produktion des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Allgemein gesehen sind nur noch ganz wenige Einzelwerke aus dem 20. Jahrhundert überliefert. Nach 1945 ist das Streichquintett aus der Perspektive der Gattungstradition praktisch ausgestorben. Als Grund sieht L. Finscher den verlorenen Konkurrenzkampf gegen das Streichquartett, dessen Anspruch in der ungebrochenen Gattungstradition hochgeschraubt wurde.9 Auch dank der klar definierten Gattungs-Ansprüche des Streichquartetts ist das Komponieren größerer Werkgruppen im Streichquartett möglich. So vermieden Schostakowitsch und Kr. Meyer, die Streichquartett-Spezialisten des 20. Jahrhunderts, Streichquintette zu komponieren.
3. Das Streichquintett als eine musikalische Gattung
Die Gattungsmerkmale des Streichquintetts begannen sich in den frühen 70er Jahren des 18. Jahrhunderts sowohl in Spanien bei Boccherini und Brunetti als auch in Österreich bei Mozart und einigen seiner Zeitgenossen wie M. Haydn und Hoffmeister herauszubilden. Die spezifischen Charakteristika des Satzes, der Form, der Thematik und des Klangs sind im Streichquintett die entscheidenden Merkmale, die meist aus der Stimmenzahl bzw. aus dem Instrumentarium abgeleitet wurden. In der Gegenüberstellung der zwei Normalbesetzungen weisen die beiden Violen im österreichischen Streichquintett mehr Einflüsse auf die Gestaltungsweise der Themen auf. Die Stilunterschiede der beiden Normalbesetzungen verwischen sich dann im 19. Jahrhundert. Im Allgemeinen sind klangliche Vielfalt, Dichte und Kontrast in Verbindung mit strukturellen Eigenheiten die wesentlichen Prinzipien des Streichquintetts, um die fünf Stimmen kunstvoll in musikalischen Vorgängen wirksam werden zu lassen. Durch die größere Flexibilität, d. h. durch die vielfältige Klanggruppentechnik gewinnt der fünfstimmige solistische Streichersatz einen weitgehend neuen Satztypus, der sich von den anderen Gattungen deutlich abgrenzt. Aber gerade diese Fülle der klanglichen und satztechnischen Möglichkeit kann ein Nachteil sein, der die Ausbildung eines allgemein als verbindlich zu verstehenden Typus erschwert, der den Kern einer Gattungsästhetik bildet. Dabei fehlt auch für das Streichquintett das Ideal einer ausgewogenen Stimmenordnung, wie sie sich für das Streichquartett als verbindlich erklärt. Außerdem tendieren im Streichquintett die Veränderungen und Erweiterungen der zyklischen Anlage zu einer Formenvielfalt, die sich von der Einheitlichkeit des Zyklus im Streichquartett unterscheidet. Dies ist zwar als ein spezifisches Merkmal des Streichquintetts zu verstehen, führt aber zur Veruneinheitlichung der Gattung.
Eine andere Erschwernis für das Gattungsverständnis des Streichquintetts besteht darin, dass das Quintett ständig am Quartett gemessen wurde. Das Vorurteil, dass das Streichquartett der Idealtypus der mehrstimmigen Streicher-Kammermusik sei, führte dazu, dass das Streichquintett immer im Schatten des Streichquartetts stand. Die immer wieder zitierten Zeugnisse belegen die vorherrschende Einstellung: Laut einer Anekdote habe J. Haydn gesagt, „er habe immer mit vier Stimmen genug gehabt“ und sich „in den Quartettstil so hineingeschrieben [...], daß er die fünfte Stimme nicht finden könne.“10
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1 Siehe Heinz Becker: Johannes Brahms: Quintette und Sextette, 1975, S. 8.
2 Vgl. Ludwig Finscher: Streichquintett, in: MGG, Bd. 8, 1998, S. 1989.
3 Vgl. Ludwig Finscher: Studien zur Geschichte des Streichquartetts I, 1974, S. 56ff.
4 Siehe Tilman Sieber: Das klassische Streichquintett, 1983, S. 25.
5 Vgl. Ludwig Finscher: Streichquintett, in: MGG, Bd. 8, 1998. S. 1994.
6 Zitiert nach Christopf Wolff, 1994, S. 13.
7 Siehe Ludwig Finscher: Streichquintett, in: MGG, Bd. 8, 1998, S. 1999.
8 Vgl. Katrin Bartels: Das Streichquintett im 19. Jahrhundert, 1996, S. 38.
9 Siehe Ludwig Finscher: Das Streichquintett, in: MGG, Bd. 8, 1998, S.2003.
10 Zitiert nach Ludwig Finscher: Streichquintett, in: MGG, Bd. 8, 1998, S. 1991.