In dieser Arbeit soll zunächst in Kapitel 2 der Forschungsstand im Hinblick auf den Bereich der muslimischen Wohlfahrtspflege vorgestellt werden. Im Anschluss werden in Kapitel 3 Geschichte und Rolle der Wohlfahrtsverbände in Deutschland kurz skizziert, um deutlich zu machen, von welchem gesellschaftlichen Feld und von welcher Sonderrolle die Rede ist. Im Anschluss soll in Kapitel 4 ein Blick auf die islamischen Quellen der muslimischen Wohlfahrtspflege geworfen werden und auf das, was im Hinblick auf muslimische Wohlfahrt in Deutschland bereits erreicht ist. Das 5. Kapitel stellt die Situation älterer Muslim*innen in Deutschland in den Mittelpunkt, untersucht die aktuelle Lage und stellt Besonderheiten dieser Zielgruppe im Hinblick auf Pflege heraus. Im 6. Kapitel sollen die Forderungen nach einem muslimischen Wohlfahrtsverband und die Hindernisse beleuchtet werden. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick und Forschungsdesideraten in Kapitel 7.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Forschungsstand
3 Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland
4 MuslimischeWohlfahrtspflege
4.1 Islamische Quellen und Traditionen
4.2 Muslimische Wohlfahrtspflege in Deutschland
5 Pflege für alte Muslim*innen
5.1 Aktuelle Pflegesituation in Deutschland
5.2 Die Situation alter Muslim*innen in Deutschland
5.3 Spezifika muslimischer Pflege
5.4 Kultur- und religionssensible Pflege
6 Forderung nach einem muslimischen Wohlfahrtsverband
7 Ausblick und Forschungsdesiderate
8 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Die Etablierung einer islamischen Wohlfahrtspflege in Deutschland ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur einer konkreten Bedarfssituation folgt, sondern - und vor allem - ein Ausdruck moderner Sozialpolitik unserer Solidarge- meinschaft ist.“ (Charchira 2017: 327) Damit betont Charchira, der bis 2017 stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG relEx) war, einerseits die Forderung, die wachsenden Zahl von Menschen mit muslimischer Religionsangehörigkeit in Deutschland angemessen zu berücksichtigen. 2019 lag sie zwischen 5,3 und 5,6 Millionen (vgl. Pfündel/Stichs/Tanis2021: 9), womit ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bei über sechs Prozent liegt1. Zum anderen sieht Charchira aber in der Stärkung des Rechts von Muslim*innen auf soziale Teilhabe, das sich auch in islamischer Wohlfahrtspflege zeigt, eine Stärkung der Demokratie.
Um der gesellschaftlichen Vielfalt Rechnung zu tragen, wird die Frage eines muslimischen Wohlfahrtsverbandes bereits seit längerem diskutiert. 2015 setzte die Bundesregierung das Thema der kultur- und religionssensiblen Weiterentwicklung der freien Wohlfahrtspflege auf die Agenda der Deutschen Islam Konferenz (DIK). Als Ergebnis wurde unter anderem festgehalten: „Staat und Gesellschaft sind aufgerufen, den Prozess der Etablierung islamischer freigemeinnütziger Wohlfahrtspflege in Deutschland konstruktiv und partnerschaftlich zu begleiten.“ (DIK 2015) Trotz der Zunahme nichtchristlicher Gemeinschaften in Deutschland ist ihre „strukturelle und gesetzgeberische Integration [...] noch längst nicht abgeschlossen, auch wenn gemeinhin selbstverständlich von einem .religiösen Pluralismus' in Deutschland gesprochen wird“ (Klinkhammer/Neumaier 2020: 17).
So soll in dieser Arbeit zunächst in Kapitel 2 der Forschungsstand im Hinblick auf den Bereich der muslimischen Wohlfahrtspflege vorgestellt werden. Im Anschluss werden in Kapitel 3 Geschichte und Rolle der Wohlfahrtsverbände in Deutschland kurz skizziert, um deutlich zu machen, von welchem gesellschaftlichen Feld und von welcher Sonderrolle die Rede ist. Im Anschluss soll im 4. Kapitel ein Blick auf die islamischen Quellen der muslimischen Wohlfahrtspflege geworfen werden und auf das, was im Hinblick auf muslimische Wohlfahrt in Deutschland bereits erreicht ist. Das 5. Kapitel stellt die Situation älterer Muslim*innen in Deutschland in den Mittelpunkt, untersucht die aktuelle Lage und stellt Besonderheiten dieser Zielgruppe im Hinblick auf Pflege heraus. Im 6. Kapitel sollen die Forderungen nach einem muslimischen Wohlfahrtsverband und die Hindernisse beleuchtet werden. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick und Forschungsdesideraten in Kapitel 7.
2 Forschungsstand
In der großangelegten Studie Muslimisches Leben in Deutschland, die im Auftrag der DIK durchgeführt wurde, wurden im ersten Halbjahr 2008 insgesamt 6.004 Personen telefonisch befragt (vgl. Haug/Müssig/Stichs 2009: 38). Zuvor hatte 2007, ein Jahr nach der Eröffnung der DIK, diese festgestellt, dass es an belastbaren Informationen über Muslim*innen in Deutschland mangle. Die Studie sollte im Rahmen des integrationspolitischen Maßnahmenkatalogs der Bundesregierung „einen Beitrag zu einer verbesserten Einschätzung der gesellschaftlichen Relevanz religiöser Einstellungen“ (ebd.: 5) leisten. Dabei wurden 49 Herkunftsländer mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung berücksichtigt. Das Ergebnis macht deutlich, wie sehr bis zu diesem Zeitpunkt zunächst die „Notwendigkeit einer differenzierten Sichtweise auf die muslimische Bevölkerung in Deutschland“ vorherrscht (ebd.: 321). Bereits in dieser Studie wird die Idee der ethnischen Selbstorganisation positiv bewertet, da sie der (Binnen)integration diene (vgl. ebd.: 253f.). Bei der Abfrage nach einer Mitgliedschaft in Vereinen wird nach deutschen Vereinen und nach Vereinen mit Bezug zum Herkunftsland unterschieden. Dabei geben 7,4 Prozent der befragten Muslim*innen an, Mitglied in einem deutschen Wohlfahrtsverband zu sein, 2,8 Prozent sind Mitglied in einem Wohlfahrtsverband mit Herkunftsbezug, wobei der Studie nicht zu entnehmen ist, worum es sich dabei konkret handelt. Außerdem stellen die Autorinnen fest, dass das Engagement und Eingebundensein in religiöse Organisationen sich „positiv für die Integration auswirken, wenn die entsprechenden Organisationen in einen Austausch mit der Gesamtgesellschaft eintreten und eine Brückenfunktion übernehmen“ (ebd.: 343).
Der 2012 erschienene Forschungsbericht Islamisches Gemeindeleben in Deutschland, der die beiden Auftrag der Deutschen Islam Konferenz (DIK) entstandenen Studien Angebote und Strukturen der islamischen Organisationen in Deutschland und
Islamische Religionsbedienstete in Deutschland zusammenfasst, kommt zu dem Ergebnis, dass die „meisten Gemeinden [...] weit über religiöse Dienstleistungen hinausgehende Angebote“ (Halm 2012: 7) vorhalten, darunter fallen beispielsweise Orientierungshilfen für die deutsche Gesellschaft in Form von Sozial-, Erzie- hungs- und Gesundheitsberatung oder Hausaufgabenhilfe. 43,7 Prozent der befragten 2.342 Organisationen muslimischer Religionsausübung geben dabei an, mit deutschen Wohlfahrtsverbänden zu kooperieren (vgl. ebd.: 113).
In der Studie Soziale Dienstleistungen der in der Deutschen Islam Konferenz vertretenen religiösen Dachverbände und ihrer Gemeinden (Halm/Sauer 2015) werden fast 900 muslimische Gemeinden zu ihren sozialen Dienstleistungen befragt. Motiviert wurde diese Studie durch die AG Wohlfahrt, die durch die im Koordinationsrat der Muslime (KRM) vertretenen Verbände - Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), Islamrat, Verband der islamischen Kulturzentren (VIKZ) und der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) - im Hinblick auf die Wohlfahrtspflege als Gegenstand der Verbandstätigkeit initiiert wurde (vgl. ebd.: 98). Das Ergebnis ist, dass Angebote für Kinder und Jugendliche insgesamt häufiger sind als Dienstleistungen für ältere Menschen (vgl. ebd.: 77). Als Hindernisse für das Angebot sozialer Dienstleistungen werden an erster Stelle von 73,6 Prozent der befragten Gemeinden fehlende finanzielle Mittel genannt, gefolgt vom Fehlen hauptamtlicher Mitarbeiterinnen, das 68,3 Prozent nennen2. 65,9 Prozent geben an, dass Angebote daran scheiterten, dass keine finanzielle Förderung möglich sei (vgl. ebd.: 87). Als Fazit wird außerdem festgehalten, dass religiöse und soziale Dienstleistungen unterscheidbar sein müssten, um die Förderfähigkeit durch die öffentliche Hand auszubauen. Dabei wird auf die Praxis christlicher Organisationen verwiesen, bei denen „eine weitgehende Trennung .sozialer' und .religiöser' Aktivitäten als Folge langer und anhaltender Prozesse organisationaler Differenzierung“ erfolgt sei (vgl. ebd.: 107).
Breuer (2016) untersucht in seiner qualitativen Studie Leitbilder der Pflege auf der Ebene von Moscheevereinen und kommt zu dem Ergebnis, dass sich letztlich drei Grundmuster identifizieren lassen: die familienzentrierte Pflege, bei der die eigene Wohnung oder die naher Familienangehöriger der bevorzugte Pflegeort alter Menschen sei (vgl. ebd.: 65f.), die gemeindezentrierte Pflege, die stationäre Pflegeplätze in Trägerschaft der Moscheevereine anbiete (vgl. ebd.: 66ff.) und Formen der kultursensiblen Pflege, bei denen davon ausgegangen werde, dass sie auch bei muslimischen Migrant*innen aufAkzeptanz stießen (vgl. Breuer 2016: 68f.).
3 Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland
Die Religion spielt in fast allen Kulturen eine wichtige Rolle, wenn es um die materielle und immaterielle Sorge für Arme, Alte und Benachteiligte geht. In Deutschland verlagerte sich diese Aufgabe der sozialen Sicherung zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf die Strukturen der Fürstenherrschaft, ehe sie ab Mitte des 17. Jahrhunderts zu großen Teilen vom Staat übernommen wurden. Bürgerlich organisierte Strukturen wurden dann ab Beginn des 19. Jahrhunderts wieder wichtiger, die in Folge zu den sechs bis heute existierenden Spitzenverbänden wurden (vgl. Moos/Klug 2009: 42ff.), die sich in Deutschland als Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege zu der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammengetan haben:
- Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche (1848) als Vorläufer des Diakonischen Werks der EKD (1957, heute Diakonie Deutschland
- Deutscher Caritasverband(1897)
- Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (1917)
- Arbeiterwohlfahrt(1919)
- Die Vaterländischen Frauenvereine vom Roten Kreuz (1866) als Vorläufer des Deutschen Roten Kreuzes (1921)
- Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (1924)
Alle privaten und öffentlichen Maßnahmen zur Unterstützung bedürftiger und sozial gefährdeter Menschen und zur Verbesserung von Lebenslagen werden unter dem Begriff Wohlfahrtspflege zusammengefasst. Wohlfahrtsstaatliche Interessen werden in Deutschland heute sowohl vom Staat als auch von gemeinnützigen Organisationen übernommen (vgl. Schubert/Klein 2021: Wohlfahrtsverbände). Die lange Tradition der Freien Wohlfahrtspflege liege „im Gedanken jüdischer und christlicher Nächstenliebe“ (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) e. V. 2021) begründet. Freie Träger werden durch die öffentliche Hand bezuschusst, handeln dabei aber im eigenen Auftrag und dem eigenen Selbstverständnis entsprechend auf Grundlage des Sozialgesetzbuches I, des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und des Bundessozialhilfegesetzes (vgl. Griep/Renn 2011: 36f.). Als Besonderheit der kirchlichen Wohlfahrtspflege gilt für die Organisationen das im Grundgesetz festgelegte kirchliche Selbstbestimmungsrecht, die sogenannte korporative Religionsfreiheit, die es ihnen erlaubt, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten. Darunter fallen unter anderem das Arbeitsrecht, die Mitarbeitervertretung und der Datenschutz, die für große Gestaltungsspielräume sorgen (vgl.Griep/Renn 2011: 94ff.). Dabei macht es selbstverständlich einen Unterschied, „ob ein Kindergarten odereine Beratungsstelle in der Trägerschaft eines konfessionellen oder eines nicht konfessionsgebundenen Verbandes betrieben wird“ (Boeßenecker/Vilain 2013: 17f.).
Die Finanzhilfe trägt nicht die vollen Kosten dieser Institutionen. Mit der Finanzkrise 2008 verringerte sich die Bezuschussung. Seit 1990 rückte das Subsidiaritätsprinzip stärker in den Vordergrund. Im Hinblick auf die Angebote zur Selbsthilfe führt der Caritasverband in einem Sonderheft zum Subsidiaritätsprinzip aus:
Subsidiarität stellt vor allem sicher, dass Menschen notwendige Hilfen erhalten, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen. Der Subsidiaritätsgrundsatz gewährleistet die Trägervielfalt und das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten. (Griep/von Kries 2017: 4)
Der Bereich der Altenhilfe mit ambulanten und stationären Diensten stellz mit bundesweit fast 20.000 Einrichtungen und Diensten und über 500.000 Mitarbeitenden den größten Arbeitsbereich der Freien Wohlfahrtspflege dar (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. 2018: 25).
4 Muslimische Wohlfahrtspflege
Breuer (2019) stellt fest, dass neben religiösen Aktivitäten in den muslimischen Gemeinden vielfältige Formen der gegenseitigen Unterstützung stattfänden: „Man kann von - vorrangig ehrenamtlich erbrachten - sozialen Dienstleistungen sprechen, die in der Forschung wachsende Aufmerksamkeit finden“ (ebd.: 310). Cey- lan/Kiefer (2016) weisen darauf hin, dass eine „institutionalisierte muslimische Wohlfahrtsarbeit [...] bereits in derfrühislamischen Zeit begonnen“ habe (ebd.: 97).
4.1 Islamische Quellen und Traditionen
Die fünf Säulen des Islam als die wichtigsten Regeln für Muslim*inne beinhalten die Schahada, Bekenntnis zu Gott und dem das Gotteswort vermittelnden Propheten, das rituelle Gebet, die Zakat, das Fasten und die Wallfahrt nach Mekka (vgl. Ipb o.J.).
[...]
1 Rohe warnt vor voreiligen Rückschlüssen von Staatsangehörigkeit auf die Religionszugehörigkeit, wie sie manchen Studien und Angaben der Zahl der Muslim*innen in Deutschland zugrunde liegen. Dabei hält er die Studie von Haug/Müssig/Stichs (2009) für eine verlässliche Grundlage (vgl. Rohe 2018: 76f.).
2 Demgegenüber erfolgte die Nennung von „Zu wenig ehrenamtliche Mitarbeiter" mit 42,7 Prozent erst an Platz 7 (vgl.Halm/Sauer 2015: 87).