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Essay, 2020
5 Seiten, Note: 1,0
Germanistik - Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft
Im Falle von Michael Endes „Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth“ ist der Text zwar nicht visuell „labyrinthisch“ angeordnet, dafür wird sowohl auf inhaltlicher als auch sprachlicher Ebene auf labyrinthische Strukturen Bezug genommen. Im Folgenden möchte ich näher auf ebendiese Strukturen eingehen, um festzustellen, inwieweit Endes Buch als „Labyrinthbuch“ bezeichnet werden kann.
Bereits der Titel „Der Spiegel im Spiegel“ erzeugt einen labyrinthischen Effekt, wenn man sich wirklich einen sich im Spiegel spiegelnden Spiegel vorstellt. Der „Raum“ scheint sich praktisch unendlich fortzusetzen. Stellt man sich allerdings die Frage, was der Spiegel zeigt, der sich im Spiegel spiegelt, wird man auf seinen eigenen Bewusstseinsprozess aufmerksam gemacht. Dieser Bewusstseinsprozess könnte als inneres Labyrinth unserer eigenen Gedanken gesehen werden, in dessen Mitte einen die Selbsterkenntnis erwartet.
Der Untertitel „Ein Labyrinth“ lässt sich auf unterschiedliche Weisen auf das Buch beziehen. Zunächst kommt das Labyrinth in zwei Geschichten explizit als räumliche Struktur vor.
In der ersten Geschichte wird von einem Riesen erzählt, der sich selbst Hor nennt. Er lebt in einem großen, leeren Haus, aus dem er nicht herauskann. Das Haus besitzt scheinbar keinen Ausgang und die Fenster führen immer in ein anderes Zimmer, wodurch die Assoziation mit einem Labyrinth entsteht.
In der zweiten Geschichte möchte ein Junge die Labyrinthstadt, in der er lebt und die von einer hohen Mauer umgeben ist, verlassen.
Auch mithilfe sprachlicher Gestaltung werden labyrinthische Strukturen geschaffen. Beispielsweise wiederholt Hor in der ersten Geschichte mehrmals, dass sein Name Hor sei: „Mein Name ist Hor“ (6)1, „Ich heiße Hor“ (7), „Mein Name ist Hor“ (8). Dadurch entsteht das Gefühl, wieder zum Anfang zurückgekehrt zu sein, praktisch als wäre man einmal im Labyrinth im Kreis gelaufen. Dasselbe passiert bei Hors Rückfragen: „Habe ich schon erwähnt, dass das Haus leer ist?“ (6) und „Sagte ich so?“ (7). Er weiß nicht mehr, ob er etwas schon erzählt hat, was an die typische Labyrinthsituation erinnert, in der man an einer bestimmten Stelle vorbeikommt und nicht sicher ist, ob man schon einmal dort gewesen ist.
Auffallend ist auch die Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird. Diese wechselt ständig zwischen Hor, der aus der Ich-Perspektive erzählt und einem neutralen Erzähler, der Hors Situation im Labyrinth näher erläutert und auch über dessen Gedanken und Gefühle Bescheid weiß. Der Erzähler ist aber nicht allwissend, da er beispielsweise nicht sicher ist, ob außer Hor noch jemand im Haus wohnt, es aber für ausgeschlossen hält. Auf den Leser wirken nicht nur die unvermittelten Brüche in der Erzählperspektive verwirrend, sondern auch, dass es sich um einen unzuverlässigen Erzähler handelt. So kommt es auch vor, dass der Erzähler Gesagtes wieder zurücknimmt, beispielsweise, wenn er Hors Träume erwähnt und kurz darauf meint, dass Hor niemals träume. Es entsteht durchaus Verwirrung beim Lesen, da er ständig umdenken oder gedanklich eine neue Richtung einschlagen muss.
Dies führt zu der Deutungsoffenheit, die die Geschichten auszeichnet. Bereits zu Beginn der ersten Geschichte spricht Hor den Leser direkt an und verkündet, dass dieser im Folgenden viel Verschwiegenes aus sich selbst heraus ergänzen müsse. Dadurch wird der Leser zu seiner eigenen Interpretation animiert und gleichzeitig eine gewisse Deutungsoffenheit der Geschichte suggeriert, denn jeder Leser wird zu unterschiedlichen Deutungen kommen. Der Text kann also je nach Lesart mehrere gültige Interpretationen haben. Dies kann mit den vielen unterschiedlichen Wegen assoziiert werden, die man in einem Labyrinth einschlagen kann. Das Labyrinth erinnert an ein Rhizom, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass es weder den einen direkten noch richtigen Weg gibt. Auch in der zweiten Geschichte begegnet dem Leser eine solche Deutungsoffenheit.
Dem Jungen wird nicht gesagt, was er erfüllen muss, um dem Labyrinth zu entkommen, wodurch es scheint, als würde die eigentliche Prüfung darin bestehen, herauszufinden, worin sie besteht. Darin steckt das SelbsterkenntnisMotiv. Erst am Ende steht die Erkenntnis, dass seine Prüfung darin bestand, ungehorsam zu sein und er sie daher nicht bestanden hat.
Nimmt man allerdings das Paradoxon des Labyrinths hinzu, dass nur der Glückliche in der Lage ist, es zu verlassen, aber nur der, der es verlassen hat, glücklich werden kann, bieten sich noch weitere Deutungen an.
Da der Junge selbst angibt, im Labyrinth glücklich zu sein, stellt sich die Frage, warum er es überhaupt verlassen möchte. Wenn er bereits glücklich ist, scheint es sinnlos, das Labyrinth verlassen zu wollen, um glücklich zu werden. Vielleicht besteht die Prüfung darin, das Glück im Moment zu erkennen und zu schätzen.
Alle Geschichten zeichnen sich dadurch aus, dass es keine eindeutig richtige Interpretation gibt und der Leser nicht wie gewohnt vom Erzähler an die Hand genommen wird. Man muss sich selbst in den Geschichten zurechtfinden, entscheiden, welche Wege man einschlägt und gegebenenfalls umkehren, wenn man mit seiner bisherigen Deutung in eine Sackgasse gerät.
Abschließend möchte ich noch darauf eingehen, dass auch der Aufbau des Werkes etwas „labyrinthartiges“ hat, denn in den einzelnen Geschichten tauchen öfter Personen oder Gegenstände aus anderen Geschichten wieder auf. Vor allem in der achtzehnten Geschichte, „Mann und Frau wollen eine Ausstellung besuchen“, gibt es allerlei Querverbindungen zu anderen Geschichten. Beispielsweise kommt der Staubwedel in der dritten Geschichte vor, das Schaf ist aus der siebzehnten Geschichte entnommen und der Wüstensand aus Geschichte dreizehn entlehnt. Dadurch entstehen allerlei Querverbindungen zwischen den Geschichten, die so eine „labyrinthartige“ Struktur bekommen. Liest der Leser die achtzehnte Geschichte, erinnert er sich, dass die vorgestellten Gegenstände schon einmal aufgetaucht sind und geht somit gedanklich zurück. Interessanterweise werden aber auch Gegenstände vorgestellt, die erst nach der achtzehnten Geschichte auftauchen, so dass sich der Leser, wenn er bei der jeweiligen Geschichte ankommt, daran erinnert, dass die Gegenstände in der Kunstausstellung vorgekommen sind. Er geht also wieder gedanklich zurück.
Die Blechbüchse ist das einzige Ausstellungsstück, das in keiner der anderen Geschichten vorkommt, dadurch scheint sie ein leerer Verweis zu sein und kommt der Sackgasse im Labyrinth gleich.
Es gibt auch Gegenstände, die in gleich mehreren Geschichten vorkommen. So erscheint beispielsweise die Krücke in den Geschichten 2, 4, 13, 21 und 27. Der Untertitel „Ein Labyrinth“ weist also auch auf die Verschachtelung der einzelnen Geschichten hin.
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1 Alle Originalzitate beziehen sich auf die Ausgabe: Ende, Michael, Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth, Walter Jens (Hrsg.), Basel: Bastian Verlag, 1984