Die vorliegende Arbeit knüpft an die von Kocka und Merkel (2015) breit angelegte Frage an, ob Demokratie und Kapitalismus miteinander vereinbar sind. Während die beiden Forscher sich in ihrer Fragestellung auf etablierte rechtstaatliche Demokratien beziehen und auf die Frage, vor welchen Herausforderungen diese durch den Kapitalismus stehen, untersucht die vorliegende Arbeit die Frage aus der Perspektive einer jungen Demokratie.
Die ukrainische Demokratie ist noch keine vollständig rechtstaatliche, sondern eine junge Demokratie, die das Ziel einer Mitgliedschaft in die Europäischen Union verfolgt. Damit ist die Ukraine eine geeignete Untersuchungsarena, um einen wertvollen Beitrag zum Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus zu leisten, denn die beiden Faktoren befinden sich dort zwar im Anfangsstadium, sind aber dennoch etabliert worden. Dafür wird in der vorliegenden Arbeit die kapitalistische Wirtschaftselite, also die Oligarchen, mit dem zentralen Teilaspekt einer Demokratie – der effektiven Regierungsgewalt nach Merkel (2003; 2016) in Beziehung gesetzt.
Diesbezüglich lautet die Forschungsfrage: Inwieweit untergraben die ukrainischen Oligarchen die effektive Regierungsgewalt? Die Arbeit geht der Frage im Analysezeitraum zwischen 2005 und 2019 qualitativ nach. Das zentrale Ergebnis der Arbeit lautet, dass Oligarchen aufgrund ihrer finanzieller Ressourcen politisch sehr einflussreich sind und durch unterschiedliche Praktiken eine negative Auswirkung auf die effektive Regierungsgewalt haben.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretisch-konzeptioneller Rahmen
2.1. Eingebettete Demokratie
2.2. Effektive Regierungsgewalt
2.3. Ukrainische Oligarchen
3. Fallbeispiel Ukraine
3.1. Einflussinstrumente der Oligarchen
3.2. Politische Machtposition der Oligarchen
3.3. Ukrainische Wirtschafts- und Außenpolitik
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der US-amerikanische Präsident Hoover sagte einmal über den Kapitalismus: “The trouble with capitalism is capitalists; they're too damn greedy.” (Hoover 1992)
Das trifft nicht nur auf amerikanische Kapitalisten1 zu, sondern umso mehr auf ukrainische Oligarchen. Statistisch zeigt sich, dass die zehn reichsten Oligarchen der Ukraine ein Vermögen anhäuften, das im Jahr 2016 elf Milliarden US-Dollar betrug und ungefähr 13 % des Bruttoinlandsprodukts des Vorjahrs entsprach. Das Vermögen der zehn reichsten Einwohner in den USA erreicht im Vergleich dazu nur drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (vgl. Ukraine Crisis Media Center 2017). Aufgrund ihres hohen Vermögens sind die Oligarchen aus dem Prozess der wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung der Ukraine nicht mehr wegzudenken. Seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 befindet sich die Ukraine in einem Transformationsprozess: Dem Übergang von einem autoritär-sozialistischen System zur Marktwirtschaft und rechtsstaatlichen Demokratie. Doch bis heute stagniert der Entwicklungsstand2 der Ukraine laut Bertelsmann Transformation Index (BTI) beim Wert 7/10. Dies entspricht dem Entwicklungsstand des Jahres 2005 (vgl. Bertelsmann Stiftung 2020). Im Prozessverlauf etablierte sich ein „oligarchischer Kapitalismus“, ein System mit einer engen Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik: Die Oligarchen sind dabei die größten wirtschaftlichen Profiteure, die außerdem einen politischen Einfluss ausüben (vgl. Plócienmk/Huterer 2015: 167; vgl. Rapacki et al. 2020: 580).
Die vorliegende Arbeit knüpft an die von Kocka und Merkel (vgl. 2015: 36 f.) breit angelegte Frage an, ob Demokratie und Kapitalismus miteinander vereinbar sind. Während die beiden Forscher sich in ihrer Fragestellung auf etablierte rechtstaatliche Demokratien beziehen und auf die Frage, vor welchen Herausforderungen diese durch den Kapitalismus stehen, untersucht die vorliegende Arbeit die Frage aus der Perspektive einer jungen Demokratie. Die ukrainische Demokratie ist noch keine vollständig rechtstaatliche, sondern eine junge Demokratie, die das Ziel einer Mitgliedschaft in die Europäischen Union verfolgt. Damit ist die Ukraine eine geeignete Untersuchungsarena, um einen wertvollen Beitrag zum Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus zu leisten, denn die beiden Faktoren befinden sich dort zwar im Anfangsstadium, sind aber dennoch etabliert worden. Dafür wird in der vorliegenden Arbeit die kapitalistische Wirtschaftselite, also die Oligarchen, mit dem zentralen Teilaspekt einer Demokratie - der effektiven Regierungsgewalt nach Merkel (2003; 2016) in Beziehung gesetzt.
Diesbezüglich lautet die Forschungsfrage: Inwieweit untergraben die ukrainischen Oligarchen die effektive Regierungsgewalt? Die Arbeit geht der Frage im Analysezeitraum zwischen 2005 und 2019 qualitativ nach. Das zentrale Ergebnis der Arbeit lautet, dass Oligarchen aufgrund ihrer finanzieller Ressourcen politisch sehr einflussreich sind und durch unterschiedliche Praktiken eine negative Auswirkung auf die effektive Regierungsgewalt haben.
In Hinsicht auf den Forschungsstand argumentiert Äslund (2014), dass Oligarchen im engen Zusammenhang mit der Korruption stehen, die eine negative Auswirkung auf politische Prozesse hat. Kuzios (2015; 2016) Forschungserkenntnissen nach sind Oligarchen nicht nur in die Korruption, sondern auch in mafiöse Strukturen eingebunden, die ihre Wurzeln in der Sowjetunion haben (vgl. Kuzio 2015). Darüber hinaus führt die oligarchische Macht dazu, dass demokratische Reformen und die europäische Integration der Ukraine scheitern (vgl. Kuzio 2016). Pleines (vgl. 2016) geht in seiner Forschung genauer auf die politische Rolle der Oligarchen ein, indem er ihre Einflussstrategien analysiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Oligarchen zwar einen demokratischen Pluralismus in der Parteipolitik und der Medienlandschaft ermöglichen, dieser aber keine demokratischen Standards aufweist.
Die vorliegende Arbeit knüpft am aktuellen Forschungsstand an, analysiert darüber hinaus aber detailliert die Verbindung zwischen den Oligarchen und der effektiven Regierungsgewalt als wichtigen Teilaspekt der Demokratie. Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird zunächst der analytische Rahmen der Arbeit dargestellt. Dieser beinhaltet das Demokratiemodell von Merkel (2.1), dann wird detaillierter auf die effektive Regierungsgewalt (2.2.) eingegangen sowie der Begriff Oligarch konzeptualisiert (2.3.). Darauf folgt das Kapitel über die spezifischen Einflussinstrumente der Oligarchen mittels derer sie auf die effektive Regierungsgewalt einwirken (3.1). Anschließend wird das Kapitel über die politische Macht der Oligarchen (3.2.) mit anschließender Analyse der Kontrolle über wirtschaftsbezogene Politikbereiche (3.3.) dargestellt, ehe die Arbeit mit dem Fazit (4.) abgeschlossen wird.
2. Theoretisch-konzeptioneller Rahmen
Im Folgenden wird das Konzept der eingebetteten Demokratie kurz vorgestellt, bevor auf das Teilregime der effektiven Regierungsgewalt genauer eingegangen wird. Merkel zufolge komme das Konzept der eingebetteten Demokratie zwar vorwiegend in westlich-liberalen Staaten vor, aber es spreche nichts dagegen, dass es nicht auch für die Analyse nicht-westlicher Herrschaftsordnungen geeignet sein könne. Ihre Teilaspekte stellen außerdem ein tragfähiges Gerüst dar, um konkrete Defekte zu erfassen (vgl. Merkel et al. 2003: 62 f.). Demnach lässt sich das Konzept problemlos auf die ukrainische Demokratie anwenden.
2.1. Eingebettete Demokratie
Merkel versteht das Konzept der eingebetteten Demokratie im Sinne einer rechtsstaatlichen Demokratie, die aus fünf Teilregimen besteht, die doppelt eingebettet sind (interne und externe Einbettung). Das Erste ist das demokratische Wahlregime, das die Funktion hat, die Chance auf zentrale staatliche Herrschaftspositionen durch das Votum der Bürger innerhalb eines offenen Wettbewerbs zu ermöglichen. Das Zweite sind politische Partizipationsrechte, mithilfe derer die Bürger in der Öffentlichkeit ihre politische Meinung und ihren politischen Willen uneingeschränkt äußern dürfen, sodass darauffolgend die Konkurrenz um politische Herrschaftspositionen bestimmt und bestärkt wird. Das Dritte sind bürgerliche Freiheitsrechte, die von der Verfügbarkeit der Mehrheitsentscheidungen entkoppelt sind. Das bedeutet, dass den Bürgern individuelle Schutzrechte gewährt werden, die den Menschenrechten ähneln. Das Vierte sind die Gewaltenteilung und horizontale Verantwortlichkeit: Das Regierungshandeln verläuft rechtmäßig und es besteht eine balancierte wechselseitige Interdependenz und Independenz von Legislative, Exekutive und Judikative. Das Fünfte ist die effektive Regierungsgewalt, die damit einhergeht, dass tatsächlich die gewählten Repräsentanten regieren (vgl. Merkel 2016: 460-463).
Die fünf Teilregime bestehen trotz ihrer Eigenlogik nicht für sich allein, sondern stehen im wechselseitigen Bezug zueinander (interne Einbettung). Jedes einzelne Teilregime leistet „komplementär unverzichtbare Zulieferdienste“ (ebd.: 464) für ein anderes, während ihre Wechselseitigkeit zusätzlich erschwert, dass ein Teilregime ein anderes dominiert. Auf diese Weise wird eine Demokratie erst funktions- und widerstandsfähig. Die externe Einbettung kennzeichnet sich dadurch aus, dass eine Demokratie als Gesamtregime in eine Umwelt eingebettet sei, die die Demokratie umschließe, ermögliche und stabilisiere beziehungsweise behindere oder destabilisiere (vgl. ebd.: 465) Die wichtigsten Bestandteile der Umwelt sind der sozioökonomische Kontext, die Zivilgesellschaft und internationale wie regionale Integration. Demnach heißt es, dass eine gut entwickelte und prosperierende Wirtschaft für eine Demokratie förderlich, während eine unterentwickelte hinderlich ist. Das Gleiche gilt auch für eine Zivilgesellschaft, die in einer gereiften Form zur Stärkung einer Demokratie beiträgt. Hinzu kommt, dass wenn eine Demokratie in internationale, multilaterale oder wirtschaftliche Institutionen mit anderen Staaten eingebunden ist, ihre Stabilität und Qualität verbessert (vgl. ebd.: 465-467).
Zusammenfassend ist ein Gesamtregime umso demokratischer, je mehr die Interdependenz zwischen sowie die Akzeptanz einzelner Teilregime ausgeprägt ist. Auch die äußeren Bedingungen schützen die Demokratie vor externen Bedrohungen, je widerstandsfähiger diese sind. Im Umkehrschluss gilt dementsprechend das Gegenteil, d.h. ein Regime wird undemokratischer, je schwächer die oben genannten Faktoren ausgeprägt sind (vgl. ebd.: 468).
2.2. Effektive Regierungsgewalt
Die effektive Regierungsgewalt stellt als ein Teilaspekt der eingebetteten Demokratie eine Gelegenheit dar, um zu untersuchen, wie gewisse Akteure, die keiner demokratischen Verantwortung unterworfen sind, auf die Demokratie wirken. Demnach wird dieses Teilregime in diesem Abschnitt konzeptualisiert.
Wie bereits erwähnt, betont das fünfte Regime die Notwendigkeit, dass gewählte Reprä- sentanten3 tatsächlich die Regierungsarbeit ausführen müssen. Dieser Zustand sei weder in etablierten noch in neuen Demokratien selbstverständlich (vgl. ebd.: 463). Eine effektive Regierungsgewalt besteht dann, wenn machtvolle Akteure4, die keiner demokratischen Verantwortlichkeit unterworfen sind, nicht die Verfügungsgewalt über Politikbereiche oder innerstaatliche Territorien besitzen (vgl. ebd.). So dürfen bestimmte Politikdomänen wie Sicherheitsoder Außenpolitik nicht für extrakonstitutionelle machtvolle Akteure reserviert sein ( reserved domains ). Gleichzeitig müsse eine zivile Kontrolle über das Militär, Polizei oder andere Bürokratien und Gruppen bestehen, die vor allem in vielen jungen Demokratien fehle (vgl. Merkel et al. 2003: 55). Die zentralen politischen Entscheidungen müssen im Rahmen der dafür vorgesehenen Institutionen und entsprechend den gesetzten normativen Regeln getroffen werden. Demokratisch nichtlegitimierte machtvolle Akteure können den demokratischen Entscheidungsfindungsprozess insofern einschränken, indem sie informelle Macht ( discretionary power ) etablieren und sich damit der Regierungsautorität entziehen. Darüber hinaus können sie sich so extrakonstitutionelle Vorrechte ( tutelary power ) sichern, die unkontrollierbar werden. Resultierend können zivile Regierungen trotz freier Wahlen ihr Mandat nicht mehr vollständig ausüben und die übrigen konstitutionelle Gewalten die Einschränkungsursache lösen (vgl. ebd.: 91 f.).
Wenn die effektive Regierungsarbeit im hohen Ausmaß beschnitten wird, kann von einer sogenannten „Enklavendemokratie“ (ebd.: 71) gesprochen werden. Das bedeutet, dass machtvolle Akteure dann als Vetomächte demokratischer Prozesse gelten, die ein Syndrom verzerrter Machtbildung, Machtausübung und Machtkontrolle verursachen (vgl. ebd.). Die Scheidelinie zwischen schwerwiegenden Defekten innerhalb einer Demokratie und dem Beginn eines autoritären Systems ist allerdings unpräzise. Die Spannbreite, die die Ausprägung eines Defekts annehmen kann, reiche von der generellen Kompetenzarmut eines gewählten Parlaments bis hin zu politikspezifisch eingeschränkten Kompetenzen von Legislative und Exekutive, wie in den postdiktatorischen Regimen (vgl. ebd.: 92).
Merkel typisiert eine Enklavendemokratie hauptsächlich als ein regionalspezifisches Phänomen, das vor allem in Lateinamerika oder Südostasien vorkommt. Dort habe in den vergangenen Jahrzehnten häufig das Militär eine politische (Veto-)Rolle übernommen. In Osteuropa oder Zentralasien komme ein solcher Typus allerdings nur selten und in reifen Demokratien kaum vor. Theoretisch gesehen können Enklavendemokratien dennoch in etablierten Demokratien entstehen (vgl. Merkel 2016: 471). In Zeiten der Globalisierung, Deregulierung und dem Rückzug des Staates aus wichtigen Politikfeldern zeigen sich Tendenzen auf, dass nicht-legiti- mierten Akteuren neue Entscheidungsspielräume zugesprochen werden (vgl. Merkel 2015: 36).
Wenn eine Enklavendemokratie theoretisch nicht nur in reifen Demokratien entstehen kann, dann ist es in neuen Demokratien wie in der osteuropäischen Region umso wahrscheinlicher. Somit bietet sich die Ukraine als ein passendes Fallbeispiel an, um qualitativ zu untersuchen, inwiefern ukrainische Oligarchen die (effektive) Regierungsgewalt untergraben.
2.3. Ukrainische Oligarchen
Der Begriff „Oligarch“ geht auf die Bezeichnung eines reichen und politisch gut vernetzen Geschäftsmannes zurück, der um 1994 in Russland und der Ukraine aufgekommen ist (vgl. Äslund 2005: 6).
Für die vorliegende Arbeit werden die Oligarchen nach den Kriterien konzeptualisiert, die in etwa von Pleines (vgl. 2016: 114-116) vertreten werden. Die Konzeptualisierung dient dazu, um einen Analyserahmen für den weiteren Verlauf der Arbeit festzulegen. Das erste Kriterium zur Erfassung eines Oligarchen ist die politische Tätigkeit auf nationaler Ebene: Oligarchen sind politisch aktive Unternehmer, die mittels formeller und/oder informeller Tätigkeit Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess auf der nationalen Ebene nehmen. Die formellen Aktivitäten basieren auf der Übernahme eines politischen Amtes und die informellen kennzeichnen sich durch personliche Verbindungen zu Politikern aus.
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1 In der vorliegenden Arbeit wird aus stilistischen und sprachkonventionellen Gründen die männliche Geschlechtsform verwendet, selbstverständlich sind aber beide Geschlechter gemeint.
2 Die Messung des Entwicklungsstands erfolgt anhand von drei Dimensionen: Status einer rechtsstaatlichen Demokratie (politische Transformation), Status einer sozialpolitisch flankierten Marktwirtschaft (wirtschaftliche Transformation) sowie anhand der Qualität politischer Gestaltungsleistung (Governanceleistung). Siehe Genaueres zur Methode des BTI unter https://bti-project.org/de/methode
3 In dieser Arbeit wird der Fokus auf demokratisch gewählte Repräsentanten in der Legislative und Exekutive gelegt.
4 Militär, Guerilla, Miliz, Unternehmer, Großgrundbesitzer oder multinationale Konzerne (vgl. Merkel 2016: 471).