Die soziale Ungleichheit und soziale Scham bilden die Grundlage der Arbeit, welche diese beiden entscheidenden Kategorien vor dem Hintergrund sozialer Aufstiegsmobilität und der Reproduktion sozialer Ungleichheit beleuchtet.
Die Soziologie sozialer Ungleichheit nimmt eine bedeutende Stellung innerhalb der soziologischen Gesellschaftstheorie ein. Didier Eribon hat in seinem umfangreichen sozio-biographischen Werk "Rückkehr nach Reims" seinen eigenen Lebensweg dargestellt, um mit Nachdruck auf die nach wie vor existierenden, ungleichen Vorzeichen hinzuweisen, welche maßgeblich auf entsprechenden Habitus und dem damit verbundenen Missverhältnis hinsichtlich der Chancengleichheit beruhen.
Neben dem Element der Chancengleichheit spielt auch die soziale Scham als Reproduktionsfaktor sozialer Ungleichheit eine zentrale Rolle. In anderen Werken ist Eribon bereits auf die Scham eingegangen, welche er aufgrund seiner Homosexualität im Arbeitermilieu erleiden musste. In "Rückkehr nach Reims" hingegen stellt Eribon explizit die Schwierigkeiten des sozialen Aufstiegs auf Basis der Herkunftsscham dar.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rekonstruktion der Argumentation
2.1 Absichten des Autors
2.2 Zentrale Terminologie und Kernthese
2.3 Abgrenzung zur RCT und zum meritokratischen Prinzip
3. Emotionen und Scham im Kontext sozialer Ungleichheit
3.1 Implikationen von Scham für das soziologische Interesse
3.2 Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Scham
4. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Einleitung:
Im Rahmen des Sommermoduls wird eine Modularbeit zum Werk „Rückkehr nach Reims“, aus der Feder des französischen Soziologen Didier Eribon, verfasst. Eribon setzt sich in dieser soziobiographischen Arbeit besonders mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Frage auseinander. Diese Fragen beschäftigen Politik, Gesellschaft und auch die Soziologie nach wie vor intensiv. Einer repräsentativen Umfrage zufolge, halten 19% der Befragten die soziale Ungerechtigkeit für eines der zwei drängendsten Probleme in Deutschland.1 Die Behandlung und Erforschung der Ursachen sozialer Ungleichheit hat dementsprechend weiterhin einen hohen Aktualitätsgehalt, denn die Implikationen, welche mit sozialer Ungleichheit verbunden sind, sind deutlich komplexer und beleuchten zahlreiche Faktoren neben der ökonomischen Dimension.
Eribon beschreibt in „Rückkehr nach Reims“ jedoch nicht allein die ökonomischen Ursachen von Ungleichheit. Er äußert sich ebenso bezüglich der Scham vor seiner Herkunft, sozialer Scham, sowie zu seinem Aufstieg. Dementsprechend soll sein Werk an dieser Stelle nicht ausschließlich aus ungleichheitssoziologischer Sicht betrachtet werden, sondern verstärkt auch emotionssoziologische Aspekte miteinbezogen werden, um die Auswirkungen von Emotionen wie z.B. der Scham auf die soziale Struktur einer Gesellschaft zu begutachten. Die Notwendigkeit dieser dialektischen Betrachtung wird ebenfalls daran deutlich, wie die Frage der sozialen Ungleichheit im öffentlichen Diskurs behandelt wird. So gibt es im öffentlichen Diskurs häufig einen Gleichklang von sozialer Gerechtigkeit und der Notwendigkeit von Umverteilung des ökonomischen Kapitals.2 Dabei werden zumeist Aspekte des kulturellen, symbolischen und sozialen Kapitals, sowie eine Berücksichtigung der emotionalen Herrschaftsverhältnisse außer Acht gelassen. Dementsprechend soll diese Arbeit die Frage beleuchten, ob eine Herkunftsscham, wie jene von Eribon in „Rückkehr nach Reims“ dargestellt, die Reproduktion von Ungleichheit und sozialen Hierarchien begünstigt.
Um der Beantwortung der Frage in der angesprochenen Dialektik aus ungleichheitssoziologischer und emotionssoziologischer Perspektive gerecht zu werden, wurde entsprechende Literatur aus beiden Sektionen herangezogen, sowie darüber hinaus spezifische Sekundärliteratur, welche sich auf „Rückkehr nach Reims“ bezieht.
Im ersten Teil der Arbeit wird zunächst der Argumentationsgang Eribons entlang der wichtigsten Aspekte rekonstruiert. Dabei geht es besonders darum, seine Position im Kontext mit weiteren soziologischen Positionen zu beleuchten und gegebenenfalls davon abzugrenzen, sowie seine zentralen Ergebnisse knapp darzustellen. Im zweiten Teil werden dann die wesentlichen Aspekte zur Beantwortung der Forschungsfrage diskutiert. Dabei geht es zunächst um die soziale Funktion von Emotionen und anschließend im Schwerpunkt um die Faktoren der Reproduktion von Ungleichheit, welche Eribon in „Rückkehr nach Reims“ benennt, sowie darauf aufbauend, die Rolle der Scham für die soziale und moralische Ordnung einer Gesellschaft.
2. Rekonstruktion der Argumentation:
Im ersten Teil dieser Arbeit geht es primär darum, die in „Rückkehr nach Reims“ dargestellten Argumentationsstränge darzustellen. Darüber hinaus soll die Intention des Autors und dessen Kernbotschaft diskutiert werden.
2.1 Absichten des Autors
Didier Eribon hat „Rückkehr nach Reims“ als soziobiographische Arbeit verfasst, in welche große Teile seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind. Eribon macht dabei bereits zu Beginn deutlich, was der Kernbestandteil seines Buches sein soll. Im Rahmen einer Selbstreflexion gibt sich Eribon selbst überrascht, dass er bis zu „Rückkehr nach Reims“ noch nichts über die Verhältnisse und Mechanismen von sozialer Herrschaft, sozialer Scham und der Teilung der Gesellschaft in Klassen verfasst habe (vgl. Eribon 2016: 19). Diese Erkenntnis hat Eribon dazu verleitet, seine Memoiren im Bezug auf soziale Ungleichheit zu verschriftlichen. Seine Intention, die Verhältnisse der sozialen Frage, von Macht und hierarchischen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft zu problematisieren, spiegelt sich in einigen Textpassagen sehr deutlich wider. So wird herausgestellt, dass Eribon nach wie vor große Abscheu vor der Herablassung gegenüber der Arbeiterbewegung habe und, dass seine Erfahrungen ihn „gelehrt haben, Macht und Hierarchien zu hassen“ (Eribon 2016: 93). Die starke Wortwahl Eribons in dieser Passage verdeutlicht, inwiefern er sich von der Vorstellung einer Hierarchisierung der Gesellschaft durch soziale Unterschiede distanziert. Dass mit dieser Ablehnung der Klassengesellschaft und der eigenen Erfahrung der Marginalisierung starke Gefühle verbunden sind, liegt auf der Hand. Diese Gefühle zeigen sich unter anderem im Diskurs über das Bestehen von Klassengesellschaften. Im Zuge dessen kritisiert er den französischen Soziologen Raymond Aron scharf. Auch gegen ihn und gegen seinen bürgerlichen Habitus entwickelt Eribon eine deutliche Abneigung, da Aron das Bestehen von Klassenunterschieden mitunter in Frage stellt (vgl. Eribon 2016: 91f.). Diese beiden genannten Textpassagen untermauern die ursprüngliche Intention Eribons, die Klassenverhältnisse in aller Deutlichkeit darzustellen und darauf hinzuweisen, dass Klassenunterschiede nach wie vor bestehen.
Neben den Klassenverhältnissen wird jedoch weiteres Anliegen deutlich. Eribon verbleibt nicht bei der ausschließlichen Thematisierung der Klassengesellschaft, sondern geht auch intensiv auf seine eigene Gewordenheit im Rahmen seiner sozialen Aufstiegsmobilität ein. Dabei bezieht er sich insbesondere auch auf die mit dem Aufstieg verbundenen Herausforderungen und Schwierigkeiten. Eribon beschreibt, wie er durch seinen Aufstieg von seiner Familie „geflohen“ sei (Eribon 2016: 9) und versuchte seine „soziale Herkunft abzustreifen“ (Eribon 2016: 23), sowie eine „vollständige Umerziehung“ durchzuführen (Eribon 2016: 98). Diesen Aspekt greift Eribon im Verlauf des Buches immer wieder auf und kann deswegen durchaus als weitere Intention herausgestellt werden.
2.2 Zentrale Terminologie und Kernthese
Um diese Absicht zu artikulieren macht sich Eribon zentrale Begriff der Ungleichheitssoziologie zunutze, welche zu einem Großteil auf seinen Landsmann Pierre Bourdieu rekurrieren. Diese Kernbegriffe werden nun kurz dargestellt und ihre Funktion im Kontext der Klassengesellschaft und der sozialen Aufstiegsmobilität erläutert. Der Rückgriff auf Bourdieu ist naheliegend, hat doch Bourdieu eine ähnliche Lebensgeschichte und Aufstiegsmobilität wie Eribon erlebt (Eribon 2016: 152).
Im Zuge der Thematik der Mobilität zwischen Klassen ist der Begriff des Habitus nahezu unverzichtbar. Dementsprechend nimmt er auch im Werk Eribons eine gewichtige Position ein. Der Habitus im Sinne Bourdieus ist ein Prinzip, welches sämtliche „expressiven Äußerungen“ in Form von persönlichen Charakteristika zum Ausdruck bringt (vgl. Farzin; Jordan 2015: 98). Nach Rehbein wird der Habitus im Wesentlichen durch den „hypothetischen Akteur als Repräsentant einer Gruppe“ beschrieben, welcher mit höherer Wahrscheinlichkeit Erfahrungen macht, die Repräsentanten anderer Gruppen wohl nicht machen (Rehbein 2015: 88). Diese Beschreibung Rehbeins kann mit dem angesprochenen Vergleich der Biographien Eribons und Bourdieus untermauert werden, welche beide aus ähnlichen sozialen Verhältnissen und dementsprechend ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass wesentliche Bestandteile des Habitus bereits durch das Elternhaus und das direkte Umfeld auf das Individuum übertragen und sozialisiert werden (vgl. Rehbein 2015: 21). Bourdieu geht sogar so weit zu konstatieren, dass die inkorporierten Praktiken durch den Habitus für die soziale Position gleichsam bedeutend sind, wie Einkommen und Prestige (vgl. Rehbein 2015: 29). Eribon selbst beschreibt seinen Habitus und die Wandlung desgleichen an verschiedenen Stellen des Buches. So verweist er auf seine habituellen Praktiken als Schüler, welche ihm den Ruf eines Rebellen eingebracht haben und ihn in eine „stereotype Figur“ verwandelten (Eribon 2016: 152). Diese Vorstellung vom eigenen Habitus wich erst dann, als Eribon durch einen Freund aus einem anderen Milieu und dementsprechend auch mit einem anderen Habitus in Berührung kam, was in Eribon wiederum die Bestrebung auslöste, seinen ursprünglichen Klassenhabitus abzulegen und sich einen neuen Habitus anzueignen. Dies wurde besonders deutlich daran, dass sich Eribon in der Folge dieser Freundschaft immer stärker von den Praktiken der Unterschichtjugend abzugrenzen versucht, um ein „Geige spielender Ästhet“ (Eribon 2016: 158) zu werden und sich somit auch immer weiter vom eigenen Herkunftsmilieu zu distanzieren (vgl. Eribon 2016: 22).
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1 Infratest Dimap: Juni 2021. Eine repräsentative Studie zur politischen Stimmung im Auftrag der ARD-Tagesthemen und der Tageszeitung DIE WELT, https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard- deutschlandtrend/2021/juni/ (abgerufen am: 06.09.2021)
2 Hank, Rainer (2016): Soziale Ungleichheit. Nehmt den Reichen das Geld!, https://www.faz.net/aktuell/wirt- schaft/arm-und-reich/ungleichheit-ist-nicht-gleich-umverteilung-steuererhoehung-14134987.html (abgerufen am: 06.09.2021)