Stellen Sie sich vor, Sie betreten eine Bühne, deren Kulissen von unsichtbaren Händen geformt wurden – eine soziale Situation, in der jede Geste, jedes Wort, jede unausgesprochene Erwartung das Drehbuch Ihres Handelns beeinflusst. Doch wer schreibt dieses Drehbuch wirklich? Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der "Logik der Situation", einem Schlüsselkonzept der Soziologie, das enthüllt, wie wir unsere Realität konstruieren. Hartmut Essers tiefgreifende Analyse der "Definition der Situation" zerlegt die komplexen Mechanismen, die unser Verhalten in sozialen Kontexten lenken. Von den objektiven Gegebenheiten – den Spielregeln, den Institutionen, den subtilen Zeichen unserer Bezugsgruppen – bis hin zu unseren inneren Überzeugungen, Werten und Erfahrungen, erkundet dieses Buch, wie diese Elemente in einem dynamischen Zusammenspiel unsere Wahrnehmung und Interpretation der Welt formen. Entdecken Sie die drei entscheidenden Schritte – Vorgeschichte, Kognition und Orientierung –, die uns von der passiven Wahrnehmung zur aktiven Gestaltung unserer Realität führen. Doch was passiert, wenn die kollektive Wahrnehmung von der objektiven Wahrheit abweicht? Untersuchen Sie die Macht der "Selbsterfüllenden Prophezeiung" und die verheerenden Folgen, wenn eine kollektive "Definition der Situation" eine ganze Gesellschaft in den Abgrund stürzt. Ergründen Sie das Thomas-Theorem, das besagt: "Wenn Menschen Situationen als real definieren, so haben sie reale Konsequenzen", und enthüllen Sie die sechs verschiedenen Lesarten dieses grundlegenden Prinzips, das unser Verständnis von sozialer Realität revolutioniert. Anhand von Fallstudien, wie dem Verhalten von Restaurantbesitzern gegenüber einem chinesischen Ehepaar, wird die Fluidität und Kontextabhängigkeit unserer "Definition der Situation" verdeutlicht. Dieses Buch ist mehr als nur eine theoretische Abhandlung; es ist ein Schlüssel, um die verborgenen Kräfte zu entschlüsseln, die unsere soziale Welt prägen, ein unverzichtbares Werkzeug für jeden, der die Dynamik zwischen Individuum und Gesellschaft verstehen und aktiv mitgestalten möchte. Tauchen Sie ein in die soziologische Denkweise und entdecken Sie, wie Sie selbst zum Regisseur Ihrer eigenen sozialen Realität werden können. Erfahren Sie, wie soziale Interaktion, soziale Strukturen und kulturelle Muster unser Handeln beeinflussen und wie wir durch bewusstes Verstehen dieser Mechanismen unser Leben und das der Anderen positiv verändern können.
Thema: Logik der Situation
Bei dieser Sitzung ging es um zwei Texte von Hartmut Esser aus den Büchern „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ und „Soziologie. Spezielle Grundlagen“. Zum einen handelte der erste Text von den schon behandelten Modellen - RREEMM-Modell des Menschen und das Grundschema soziologischer Erklärung als die „Modellierung“ sozialer Prozesse; zum anderen handelte der zweite Text aber über die „Definition der Situation“ als Modell für die systematische Verbindung zwischen sozialer Situation und dem Akteur.
Es ging in bezug auf die bereits bekannten Modelle vor allem um die Abbildung 15.1 (S. 246, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. 1996: München und New York), welche die „Bestandteile und Schritte der soziologischen Erklärung und die Variablen des RREEMM- Modells“ aufweist. Also eine graphische Darstellung dessen, was auf Basis des sog. „Badewannen-Modells“ im Zusammenhang mit den verbindenden Schritten innerhalb dieses Modells, sowie eben den Faktoren/Variablen des RREEMM-Modells ist. Besonders wichtig war der erste Abschnitt dieser Abbildung. Das Badewannenmodell stellt hierzu den Grundbaustein: Soziale Situation (Makro) à Akteur (Mikro) à Handeln...etc... Hierbei ist es nun so, dass zwischen Situation und Akteur ein weiterer Schritt stattfindet, die „Logik der Situation“ . Auch zwischen Akteur und Handel gibt es einen Zwischenschritt, die „Logik der Selektion“. Jedoch galt unser Interesse besonders der „Logik der Situation“.
Die „Logik der Situation“ war also der relevante Ausschnitt. In dem zweiten Text von Esser wird allerdings von der „Definition der Situation“ geredet, welcher innerhalb der „Logik der Selektion“ lokalisiert wird. Da wir über die „Logik der Selektion“, bzw. über die Frage, nach welchen Kriterien ein Akteur handelt oder seine Handlungsalternative wählt, ausführlich gesprochen hatten (z.B. Wert-Erwartungstheorie), ging es jetzt also darum, wie ein Akteur die Situation einschätzt, wahrnimmt, realisiert und welche Faktoren mit einspielen.
Situationen werden vom gesamtgesellschaftlichen „Apparat“ und den sozialen Produktionsfunktionen immer objektiv definiert. Der einzelne Akteur aber sieht die - oder seine - Situation immer subjektiv. Die „Definition der Situation“ des Akteurs hat zur Folge, dass der Mensch/Akteur subjektive Erwartungen und Bewertungen an eine Situation stellt/hat. Die „Definition der Situation“ kann verstanden werden als eine zugespitzte Rahmung welche der Akteur innerhalb der Situation vollzieht, um dann alle weiteren Aspekte der Situation „aus diesem Rahmen heraus“ zu betrachten. Sie ist eine eigene, auswählende Leistung des Akteurs und dient der Reduktion der Situation, (also der Vereinfachung der Komplexität, der Reduktion von Alternativen) welche automatisch und unbewusst stattfindet.
Die „Definition der Situation“ setzt sich zunächst aus objektiven Bestandteilen zusammen, nämlich aus den äußeren und inneren Bedingungen einer Situation. Die äußeren Bedingungen beinhalten Opportunitäten (also Opportun sein, sich in der gegebenen Situation angebracht verhalten; Kapital z.B. Geld und human Kapital), institutionelle Regeln (Gewohnheiten, Bräuche, alle die es gibt - Spielregeln = Sinn der Situation verbunden mit Emotionen (Esser); Bsp. Beim Abendessen mit seiner Oma am Tisch einfach nackt auftreten - geht nicht, resp. Entspricht nicht den (Spiel-)Regeln), sowie die signifikanten Symbole des Bezugsrahmes (kulturell identifiziert; Etwas, was mit zeigt, wie der Rahmen und die Regeln sind. Bsp. Beerdigungen und die Farbe Schwarz). Aber auch die Sprache ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, da sie u.a. über Kommunikation Aufschluss über die geltenden Regeln und die Verbindung der Muster und Rahmen geben kann. Zu den inneren Bedingungen zählen Wissen (aus dem vorhergegangenen), Werte (welche verinnerlicht und beständig sind), innere Einstellung des Akteurs, und die (soziale) Identität.
Aus dem Zusammenspiel dieser Bestandteile resultiert dann die „Definition der Situation“, wobei drei spezielle Prozesse/Schritte zu eben dieser führen. Diese Schritte werden als 1) die Vorgeschichte der äußeren und inneren Bedingungen (Vorgeschichte der Situation), 2) die Kognition (Erleben, Wahrnehmen, Konstruieren) und 3) Orientierung bezeichnet. Gerade in diesen drei unterschiedlich, auf einander aufbauenden Schritten besteht die Besonderheit.
Der erste Schritt, die Vorgeschichte der Situation, ist die Geschichte der Entstehung der äußeren Bedingungen, also der Opportunitäten, der institutionellen Regeln, und die der signifikanten Symbole (Bezugrahmen). Diese Vorgeschichte bezieht sich auf alle Prozesse der evolutionären Entstehung der sozialen Strukturen, in welche das momentane Geschehen “gebettet“ ist, und an deren Verfassung ggf. sogar der Akteur selber beteiligt war; Aber auch die Geschichte der inneren Bedingungen, also die der Entstehung des Wissens, der Werte, der Einstellung, also der Identität des Akteurs insgesamt spielt hier mit ein. Man kann sie auch Lerngeschichte, als Biografie des Akteurs nennen. Es ist die Geschichte der Speicherung von Wissen aus den Erfahrungen der vorhergegangenen Situationen, sowie der Internalisierung, der Verinnerlichung der erlebten, positiven und negativen, Wechselwirkungen des Akteurs mit der Gesellschaft und sich selbst. Beide Geschichten der Entstehung der jeweiligen Bedingungen „erlebt“ der Akteur jedoch nur passiv - sie stellen sich ihm als Tatsache und wirken sich als objektives Faktum auf ihn aus. Man kann sich nicht dagegen „wehren“, bzw. dieses Faktum abstreiten oder gar nicht beachten wollen. Wichtig ist, das weder die eine Bedingung ohne die andere wirken kann, bzw. sich entwickeln kann, sowie, dass es sich bei jedem Menschen um eine unterschiedliche Vorgeschichte der Situation handelt.
Der zweite Schritt, die Kognition, kann als das Erleben, Wahrnehmen, Konstituieren bezeichnet werden. Das Erleben der Umstände der Situation äußert sich als objektives Faktum der Gegebenheit der äußeren Bedingungen, welche in die aktuelle Situation als unverrückbare Tatsachen einwirken und alles folgende im Rahmen dieser Tatsachen stattfindet. Es geschieht über das Sehen, Schmecken, Hören, Riechen und Fühlen, und kann psychisch als auch physisch stattfinden. Es ist das passive Selektieren der Umstände, und ist von dem bereits Erfahrenen und der Einstellung des Akteurs aus den vorigen Situationen gesondert. Das Wahrnehmen der mit der Situation gestellten Daten erfolgt indirekt und ist ein flexibler Mechanismus der Einwirkungen der äußeren Bedingungen auf den Akteur. Erleben über die Sinnesreizung und Wahrnehmen über das Gehirn, welches verarbeitet und denkt. Aus dem Zusammenwirken dieser beiden resultiert die innere Konstruktion der durch die Situation gegebenen Wirklichkeit. Es ermöglicht dem Akteur eine gedankliche „Abspulung“ des weiteren Verlaufes der Situation, und somit erspart es dem Akteur spezielle (Gedanken)Spiele über mögliche Folgen; respektive ermöglicht ihm die gedankliche Vorwegnahme dessen, was nun passieren könnte.
Der dritte Schritt, die Orientierung, ist die Rahmung einer Situation, folglich Framing. Es ist die gedankliche und innere Aktivität, ein innerer nicht bewusster Prozess, geprägt von Schritt eins und zwei, und der den Rahmen determiniert, in welchem dann alles weitere stattfindet, bzw. stattfinden soll. Es ist die vereinfachende und strukturierende Selektion eines einzigen gedanklichen Modells über die Situation aus alternativen, anderen Modells. Aber auch bei dieser inneren Abwägung spielen Bewertungen und Erwartungen eine Rolle.
Es ist also so, dass innerhalb der soziologischen Erklärung der „Logik der Situation“ eine sog. „Definition der Situation“ stattfindet, diese sich in den drei genannten Schritten abspielt. Die Schritte 1 bis 3 sind alle ein unbewusster Prozess, bei dem der Akteur von den äußeren Gegebenheiten im Zusammenspiel mit den inneren, über Kognition, eine Situation definiert, und dann erst folgt das externe, bewusste Handeln. Esser stellt also den „zeitlichen Ablaufplan“ dar, respektive die Umstände und Gegebenheiten, die zwischen dem „Akteur“ und der „Situation“ stattfinden. Um dieses genauer darzustellen, wurde noch eine weitere Abbildung aus dem zweiten Text von Esser mit einbezogen. In dieser wird der Akteur als ein von äußeren Bedingungen abgegrenztes „personales System“ gesehen, der in eine Situation gegenüber den aktuellen äußeren Bedingungen auch eine eigene Identität mitbringt. So „durchlebt“ der Akteur zunächst eine „coverte“ (verdeckt, geschlossen) Selektion der „Definition der Situation“, innerlich, als Orientierung, und dann erst eine Selektion der „overten“ (offen) Handlung, mithin die Ausführung der dazu nötigen Maßnahmen (Bewegen, Sprechen), woraufhin schließlich die eigentliche Reaktion folgt. In der Sitzung wurde angemerkt, dass es der Versuch Essers war, den „zeitlichen Ablauf“ zu ergründen und darzustellen, bzw. die maßgebenden Faktoren (den Prozess) darzustellen, welche zwischen der „Situation“ und „Akteur“ aus dem „Badewannenmodell“ mit einspielen. Verdeutlicht wurde die Definition der Situation an dem Beispiel der asiatischen Austauschstudentin in einer deutschen Universität/Vorlesung. Ob aber der „Prozess“ des Ablaufes der „Definition der Situation“ tatsächlich so ist, wie durch die Abbildung veranschaulicht, bleibt offen. Es ist ein mögliches Erklärungsmodell.
Darüber dass die Definition der Situation auch auf mehrere Akteure bezogen werden kann - also „kollektive Definition der Situation“ - wurde nur im Kontext des großen Bankenzusammenbruchs in den USA während der 20ger Jahren gesprochen. Hierbei handelte um folgende Tatsache: das wechselseitige Einreden von bestimmten, selbstverständlichen und schließlich getrennten Vorstellungen über eine Thematik, welche objektiv nicht wahr ist, aber dennoch kollektiv und subjektiv als wahre Tatsache angenommen wird, und sich dann auch in eine real existierende Wirklichkeit umsetzen kann ( „Selffulfilling Prophecy“). Dies kann zustande kommen, da die kollektive Definition der Situation ein Prozess der (symbolischen) Interaktion und Kommunikation zwischen mehreren Akteuren ist. Interaktion bedeutet aneinander anschließende Prozesse von sozialen Handlungen. Der Prozess beginnt also bei einer Situation x und ein Akteur für diese Situation seine subjektive Definition durchläuft. Sein darauf folgendes (symbolisches) Handeln ist ein Zeichen für die anderen Akteure, unbeabsichtigt symbolisch weiter vermittelt, und veranlasst die Akteure wiederum zu einer Aktion. Die von den anderen Akteuren durchgeführte „Definition der Situation“ steht im Zusammenhang mit der symbolischen Handlung des ersten Akteurs. Es ist auch als eine Kettenreaktion mit ungewissem Ende zu beschreiben.
Der zweite Teil der Sitzung handelte von dem Thomas-Theorem, bzw. von dem Zusammenhang der „Definition der Situation“ und eben diesem. Der wichtigste Aussagesatz lautet: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, so haben sie reale Konsequenzen“. Das heißt, dass was die Leute/Menschen für wirklich halten, hat auch wirkliche Konsequenzen. Es hängt damit zusammen, wie die Leute/Menschen die Situation sehen, einschätzen und welche Werteinstellung sie in sich tragen.
Anhand eines Beispiels wurde diese Annahme verdeutlicht. Es ging hierbei um einen Versuch innerhalb der Sozialforschung - um das chinesische Ehepaar in amerikanischen Restaurants/Hotels, sowie einer zuvor durchgeführten schriftlichen Befragung der Besitzer dieser Restaurants/Hotels zum Thema, chinesisches Ehepaar in ihrem Restaurant/Hotel, ob sie das erlauben/dulden würden. Besonderes Interesse galt den inneren und äußeren Bedingungen der Besitzer in den zwei Situationen. Zum einen bei der schriftlichen Beantwortung des Fragebogens, und zum Zweiten bei der direkten Konfrontation mit dem chinesischen Ehepaar. Festzustellen war, dass die Besitzer in beiden Situationen zumeist unterschiedlich geantwortet/gehandelt haben, also bei der direkten Konfrontation nicht so gehandelt haben, wie sie es zuvor aber im Fragebogen angegeben hatten. Diese - empirisch erforschte - Tatsache stärkt die Annahme, dass „nichts fest ist, sondern flüssig“, also dass keine „Definition der Situation“ gleich bleibend ist, und dass sich vielmehr alles immer neu gestaltet. Großen Einfluss üben die äußeren, aber auch die inneren Bedingungen auf die Definition aus.
Die Erklärung der 6 verschiedenen Lesarten des Thomas-Theorem, sowie deren graphische Darstellung, war für mich zuerst schwer verständlich. Unter anderem auch, weil der entsprechende Text zuvor nicht im Semesterapparat vorhanden war. Dieses „Defizit“ wurde insofern wieder aufgehoben, als dass Herr Lapiniski erkrankte und Herr Müller somit die Sitzung vom 04.07.2001 dazu nutzte, diese 6 Lesarten erneut zu erklären.
In dem Text über den „Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems“ wird in der Einführung erwähnt, dass das Wort „Definition der Situation“ und der „realen Konsequenzen“ in der Soziologie nicht immer das gleiche bedeuten, und dass es deshalb sechs verschiedene Lesarten des Begriffs „Definition der Situation“ unterscheiden lassen. Die Lesarten sind folgende:
1) Die „klassische“ Lesart. Wenn Menschen Situationen als real definieren, so haben sie reale Konsequenzen. Es geht um die vom Akteur subjektive Definition der Situation, den individuellen Bezug zu dem inhaltlichen Zustand, welcher dann real wird, und dementsprechend Konsequenzen nach sich zieht.
2) Der Inhalt der Bedingungen (sozialer Bezug und inhaltlicher Zustand) der sozialen Situation äußerlich und innerlich. Es geht also um den Inhalt der Bedingungen einer Situation, sowie aber auch um die Identität eines Akteurs. In Bezug zu den äußerlichen um die Art der Restriktionen, die Inhalte der institutionellen Regeln, sowie um die Inhalte signifikanter Symbole und den Bezugsrahmen. Innerhalb dieser objektiven Bedingungen findet eine soziale Handlung statt. Das Erkennen der Situation um welche es sich handelt „erfährt“ der Akteur über die signifikanten Symbole. Die Bedeutung dieser hat er durch seine eigene Vorgeschichte seiner Identität „gespeichert“. Institutionen (auch inhaltliche Definition sozialer Regeln) sind sehr wirksam, wenn sie bestimmte Sanktionen mit sich führen, welche dann zur Ausführung der Handlung des Akteurs führen. Außerdem sind Institutionen ein wichtiger Hintergrund der objektiven Situation/Wirklichkeit und für die Selektion der subjektiven Wirklichkeit sowie das reale Handeln eines Akteurs.
3) Die Formalien der Situation und der individuelle Bezug. Also signifikante Merkmale, Signale, Symbole, welche deutlich und undeutlich sein können. Sind die Merkmale nicht eindeutig, erfährt der Akteur eine Unsicherheit innerhalb der Situation und handelt anders, als es der Betrachter/Interaktionspartner erwartet. Das nennt man auch Anomia. Es ist ein Zustand der individuellen Orientierungslosigkeit. Es ist eine unklare Situation, welche wahrscheinlich auch die Reaktion beeinflusst, durch das fehlen von klaren regeln und Handlungsprogrammen, oder durch die Anwesenheit von zu vielen Möglichkeiten als Alternative. Ist die Situation eindeutig, so kann sich der Akteur an den gegebenen Merkmalen orientieren und so handeln, wie er es seiner Vorgeschichte zugrunde liegend für richtig hält, und wie es von ihm erwartet werden kann.
Lesarten 1 bis 3 finden alle im unbewussten Bereich statt, im Zustand der Kognition/Orientierung. Und sie finden alle aus der Sicht von einer Person statt. Die anderen drei Lesarten sind die folgenden:
4) Hierbei ist wichtig: die Bestimmtheit der äußeren Bedingungen. Es gibt Restriktionen, es gelten die Spielregeln, es sind die signifikanten Symbole für den Bezugsrahmen eindeutig. Es ist ein formaler Zustand im sozialen Bezug, in dem keine Anomie herrscht. Anomie bedeutet ein Zustand der Normlosigkeit, wenn die Gesellschaft unfähig ist, Regeln, Normen aufzustellen, wenn keine moralischen Pflichten mehr gelten, ein Zustand der Anarchie, indem die soziale Ordnung kaputt geht. Warum sind also Normen wichtig? Weil sie eine Vereinfachung über das Treffen von Entscheidungen erlauben. Herrscht in der Gesellschaft eine Anomie vor, so ist dies ein wichtiger Grund für die Entstehung der individuellen Anomia.
Die Lesarten 1 bis 4 wiederum sind nur Zustände. Nummer 5 und 6 stellen aber den Prozess dar, wie ein Akteur die Situation wahrnimmt. Lesart 5) Framing - Selektion des Rahmens der subjektiven Wirklichkeit. Der Prozess in bezug auf das Individuum. Framing „passiert“ individuell, in einem jeden für sich. Es ist ein Prozess der Orientierung, der Aktivierung des Bezugsrahmens, welcher nicht bewusst stattfindet und eine innere Entscheidung, die nicht abwägend ist, in sich trägt. Framing ist die Situation, wie sie sich darstellt, dass Bild der Situation, die Erinnerung an mögliche vergangene Situationen und der möglichen Handlungsalternativen (welche nicht in Erwägung gezogen werden), also ein innerer Auswahlprozess, jedoch noch nicht das Handeln. Es ist bewertend in dem Sinne, als es über die Vergangenheit bewertet, ob die Erlebnisse positiv oder negativ bewertet werden. Der Prozess geschieht unbewusst, aus Bewertungen und Erwartungen aus der Vergangenheit heraus, über bereits Erlebtes.
6) Die soziale Konstitution der Situation, also die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, die Objektivierung. Sie bildet sich aus der Vorgeschichte und der Folgen der individuellen Handlungen. Die objektiv wahrgenommene Wirklichkeit wird zur kollektiven, subjektiven Wirklichkeit. Alle gesellschaftliche Realität/Prozesse sind sozial konstituiert. Situation, Verlauf und Ausgang hängt vom Individuum und den anderen Akteuren ab, die sich an sich gegenseitig orientieren.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in dem Text „Thema: Logik der Situation“?
Der Text behandelt Hartmut Essers Konzepte aus seinen Büchern „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ und „Soziologie. Spezielle Grundlagen“. Er konzentriert sich auf das RREEMM-Modell, das Grundschema soziologischer Erklärung und die „Definition der Situation“ als Modell zur Verbindung zwischen sozialer Situation und Akteur.
Was ist die Bedeutung der Abbildung 15.1 im Text?
Die Abbildung 15.1 (S. 246, Soziologie. Allgemeine Grundlagen) stellt die „Bestandteile und Schritte der soziologischen Erklärung und die Variablen des RREEMM- Modells“ graphisch dar. Sie visualisiert das Badewannenmodell (Soziale Situation à Akteur à Handeln) und betont die „Logik der Situation“ als Zwischenschritt zwischen Situation und Akteur.
Was versteht Esser unter der „Logik der Situation“ und „Definition der Situation“?
Die „Logik der Situation“ ist der Schritt zwischen der sozialen Situation und dem Akteur. Die „Definition der Situation“, die innerhalb der „Logik der Selektion“ lokalisiert ist, beschreibt, wie ein Akteur eine Situation einschätzt, wahrnimmt und realisiert. Es handelt sich um eine subjektive Rahmung, die zur Reduktion der Situationskomplexität dient.
Welche Bestandteile bilden die „Definition der Situation“?
Die „Definition der Situation“ setzt sich aus objektiven (äußeren und inneren) Bedingungen zusammen. Äußere Bedingungen umfassen Opportunitäten, institutionelle Regeln und signifikante Symbole des Bezugsrahmens. Innere Bedingungen umfassen Wissen, Werte, innere Einstellung und die soziale Identität des Akteurs.
Welche drei Schritte führen zur „Definition der Situation“?
Die drei Schritte sind: 1) die Vorgeschichte der äußeren und inneren Bedingungen, 2) die Kognition (Erleben, Wahrnehmen, Konstruieren) und 3) die Orientierung (Framing).
Was beinhaltet der erste Schritt, die Vorgeschichte der Situation?
Die Vorgeschichte der Situation umfasst die Entstehung der äußeren Bedingungen (Opportunitäten, institutionelle Regeln, signifikante Symbole) und die Geschichte der inneren Bedingungen (Wissen, Werte, Einstellung, Identität) des Akteurs. Es ist die Biografie des Akteurs, also die Lerngeschichte.
Was versteht man unter dem zweiten Schritt, der Kognition?
Kognition beinhaltet das Erleben (objektives Faktum der äußeren Bedingungen), das Wahrnehmen (flexibler Mechanismus der Einwirkungen) und die innere Konstruktion der Wirklichkeit. Es ermöglicht dem Akteur eine gedankliche Vorwegnahme des Situationsverlaufs.
Was ist Framing im Kontext der „Definition der Situation“ (Schritt 3)?
Framing (Orientierung) ist die Rahmung einer Situation, ein innerer, nicht bewusster Prozess, der von den vorherigen Schritten geprägt ist. Es ist die vereinfachende Selektion eines gedanklichen Modells über die Situation aus alternativen Modellen.
Wie stellt Esser den Ablauf der „Definition der Situation“ dar?
Esser sieht den Akteur als ein von äußeren Bedingungen abgegrenztes „personales System“. Der Akteur durchläuft zunächst eine „coverte“ (verdeckte) Selektion der „Definition der Situation“ (Orientierung) und dann eine Selektion der „overten“ (offenen) Handlung. Er versucht, den zeitlichen Ablauf und die maßgebenden Faktoren zwischen „Situation“ und „Akteur“ darzustellen.
Was ist eine „kollektive Definition der Situation“?
Eine „kollektive Definition der Situation“ bezieht sich auf mehrere Akteure. Es ist das wechselseitige Einreden von bestimmten, selbstverständlichen Vorstellungen über eine Thematik, die objektiv nicht wahr ist, aber kollektiv als wahre Tatsache angenommen wird und sich in eine real existierende Wirklichkeit umsetzen kann („Selffulfilling Prophecy“).
Wie hängt das Thomas-Theorem mit der „Definition der Situation“ zusammen?
Das Thomas-Theorem besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, so haben sie reale Konsequenzen“. Das heißt, was die Leute für wirklich halten, hat auch wirkliche Konsequenzen. Es hängt davon ab, wie die Leute die Situation sehen und welche Werteinstellung sie in sich tragen.
Was besagen die 6 Lesarten des Thomas-Theorems?
Die sechs Lesarten des Thomas-Theorems differenzieren sich durch den individuellen und sozialen Bezug zur „Definition der Situation“ und durch die Bedeutung von „Definition“ als Zustand (inhaltlich/formal) oder Prozess. Die ersten drei Lesarten finden im unbewussten Bereich statt und aus der Sicht einer Person. Lesarten 4-6 betrachten die Bestimmtheit der äußeren Bedingungen und den Prozess der Wahrnehmung.
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- Johanna Lehmann (Author), 2001, Logik der Situation, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/104725