Erst in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurden sich die europäischen Staaten der Tatsache bewusst, dass die Fähigkeiten Lesen und Schreiben in der jugendlichen und erwachsenen Bevölkerung keine Selbstverständlichkeit darstellen. Der Analphabetismus war nun nicht mehr ein Problem, mit dem nur die Länder aus der sogenannten dritten Welt zu kämpfen hatten. Als erste und aus der praktischen Notwendigkeit heraus reagierten die bundesdeutschen Volkshochschulen im Rahmen ihrer Bildungsarbeit auf den modernen Analphabetismus. Die gestiegene Nachfrage an Rechtschreibkursen machte es erforderlich, sich über die Organisation und die Gestaltung entsprechender Maßnahmen völlig neue Gedanken zu machen. Den Volkshochschulen und ihren Mitarbeitern kommt im Hinblick auf die Konzeption und Durchführung von Alphabetisierungsmaßnahmen eine Pionierrolle zu. Im Gegensatz dazu ist der Analphabetismus in der Erziehungswissenschaft auch heute noch kein verbreitetes Forschungsthema. In der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit wird sich nicht damit zufrieden gegeben Begriffe, Größenordnungen und Ursachen für Probleme beim Schriftspracherwerb im Jugendlichen- und Erwachsenenalter zu erläutern und darzustellen. Vielmehr geht es darum, aus dieser Kenntnis eine Notwendigkeit für Alphabetisierungsmaßnahmen abzuleiten und praktische Konsequenzen zu ziehen. Es werden unterschiedliche Schriftsprachentwicklungsmodelle, Vermittlungskonzepte und -methoden vorgestellt und im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit im Rahmen von Alphabetisierungsmaßnahmen überprüft. Der praktische Teil beschäftigt sich mit der Planung und Durchführung eines Alphabetisierungskurses mit Patienten der Forensischen Psychiatrie des Klinikums „St. Georg“ in Leipzig. Neben einer Umfeldanalyse im Hinblick auf die Besonderheiten der Arbeit in einer juristischen Verwahrungsanstalt werden diagnostische Methoden vorgestellt, die im Vorfeld mit den Kursteilnehmern zur Erhebung der Lernvoraussetzungen für den Schriftspracherwerb durchgeführt wurden. Am Beispiel eines Kursteilnehmers werden die Untersuchungsergebnisse dargestellt. Das methodische Vorgehen bei der Durchführung des Kurses wird anhand einer ausgewählten Kurssequenz beschrieben. Es werden außerdem Materialien vorgestellt, die im Verlauf der Maßnahme zum Einsatz gekommen sind.
Inhaltsverzeichnis
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- 0. Einleitung
- 1. Spätlegasthenie und Analphabetismus in der Bundesrepublik Deutschland
- 1.1. Definitionen
- 1.1.1. Analphabetismus
- 1.1.2. Spätlegasthenie
- 1.2. Größenordnungen des Analphabetismus
- 1.3. Zu den Ursachen von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten im Jugendlichen- und Erwachsenenalter
- 1.3.1. Medizinisch-pathologische Sichtweisen zur Verursachung von Lese- und Schreibschwierigkeiten – Kognitive Lernvoraussetzungen, Teilleistungsschwächen und konstitutionelle Bedingungen
- 1.3.2. Ungünstige Sozialisationsbedingungen als Ursachen für Lese- und Schreibschwierigkeiten - Biografische Ursachenforschung
- 1.4. Zur Bedeutung und den Folgen des funktionalen Analphabetismus für die Betroffenen
- 2. Schriftspracherwerb – Voraussetzungen und Entwicklung
- 2.1. Voraussetzungen zum Schriftspracherwerb
- 2.1.1. Metalinguistische Bewusstheit
- 2.1.2. Verbo-sensomotorische Voraussetzungen
- 2.2. Entwicklungsmodelle des Schriftspracherwerbs
- 2.2.1. Stufenmodelle zur Entwicklung des Schriftspracherwerbs
- 2.2.2. Das Mehrebenenmodell des Schriftspracherwerbs
- 3. Konzepte zur Alphabetisierung - Methoden zum Erwerb und zur Förderung von Schriftsprachkompetenzen
- 3.1. Die analytisch-synthetische Lese-Schreib-Lehr- und Lernmethode
- 3.2. Ganzheitlich analytische und synthetische Lese-Schreib-Lehr- und Lernmethoden
- 3.3. ,,Lesen durch Schreiben“ – Die Umkehrmethode von Jürgen Reichen
- 3.4. Die Morphemmethode
- 3.5. Der Spracherfahrungsansatz
- 3.6. Der Fähigkeitenansatz
- 3.7. Die Computer-unterstützte Rechtschreibförderung
- 4. Lese-Rechtschreibförderung in der forensischen Psychiatrie – Zur Entstehung, Planung und Durchführung einer Alphabetisierungsmaßnahme
- 4.1. Die Entstehungsphase
- 4.2. Umfeldanalyse
- 4.3. Diagnostische Maßnahmen zur Ermittlung der Lernvoraussetzungen und des Lernstandes
- 4.3.1. Auswahl der Diagnostika zur Ermittlung der Lernvoraussetzungen und des Lernstandes
- 4.3.2. Kriterien zur Analyse der Schriftsprachkompetenzen
- 4.3.3. Darstellung der Untersuchungsergebnisse
- 4.4. Zur Kursgestaltung
- 4.4.1. Exkurs: Die „Lautgetreue Rechtschreibförderung“ von Reuter Liehr
- 4.4.2. Durchführung einer Kurssequenz zum Fehlerschwerpunkt Konsonantendopplung
- 4.4.3. Lernen mit der Rechtschreibkartei
- 4.4.4. Übungen zur Sicherung der Lernvoraussetzungen
- 4.5. Zwischenbilanz
- 4.6. Ausblick
- 5. Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit befasst sich mit der Problematik von Spätlegasthenie und Analphabetismus im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Sie untersucht die Ursachen dieser Schwierigkeiten, die sich aus medizinisch-pathologischen und sozialisationsbedingten Faktoren ergeben können. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Analyse von Förderungsmöglichkeiten für Betroffene im Kontext der forensischen Psychiatrie.
- Definition und Ausprägungen von Spätlegasthenie und Analphabetismus
- Ursachenforschung: Medizinisch-pathologische und sozialisationsbedingte Faktoren
- Folgen des funktionalen Analphabetismus für Betroffene
- Konzepte zur Alphabetisierung und Förderung von Schriftsprachkompetenzen
- Entwicklung und Durchführung einer Alphabetisierungsmaßnahme in der forensischen Psychiatrie
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel liefert grundlegende Definitionen von Analphabetismus und Spätlegasthenie und beleuchtet die Größenordnung des Problems in Deutschland. Es werden verschiedene Ursachen für Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten im Erwachsenenalter betrachtet, sowohl aus medizinisch-pathologischer Sicht als auch im Kontext ungünstiger Sozialisationsbedingungen. Im zweiten Kapitel werden Voraussetzungen und Entwicklungsmodelle des Schriftspracherwerbs erörtert, wobei insbesondere die Bedeutung metalinguistischer Bewusstheit und verbo-sensomotorischer Fähigkeiten hervorgehoben werden. Das dritte Kapitel widmet sich verschiedenen Konzepten zur Alphabetisierung, die unterschiedliche Methoden zur Förderung von Schriftsprachkompetenzen beinhalten. Das vierte Kapitel beschreibt die Entstehung, Planung und Durchführung einer Alphabetisierungsmaßnahme in der forensischen Psychiatrie. Hierbei werden diagnostische Maßnahmen zur Ermittlung des Lernstandes sowie die Kursgestaltung und Durchführung einer Kurssequenz zum Fehlerschwerpunkt Konsonantendopplung detailliert beleuchtet.
Schlüsselwörter
Spätlegasthenie, Analphabetismus, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, Erwachsenenalphabetisierung, Förderung, Diagnostik, forensische Psychiatrie, Schriftspracherwerb, Lernvoraussetzungen, Alphabetisierungsmaßnahme, Kursgestaltung, Konsonantendopplung.
- Arbeit zitieren
- Sven Mihlan (Autor:in), 2002, Spätlegasthenie und Analphabetismus, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/10316