Um potenzielle Rückschlüsse im Umgang mit zwischenstaatlichen Streitigkeiten im Wassernutzungsrecht zu erarbeiten, soll zunächst eine Verständnisgrundlage für die theoretischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, indem die zugrundeliegende Problematik des Nilkonflikts zwischen Ägypten und Äthiopien erläutert wird. Im Zuge dessen diente eine Reihe verschiedener Sekundärwerke als vornehmliche Informationsquelle. In einem nächsten Schritt werden die Entwicklung und die theoretischen Grundlagen des internationalen Wassernutzungsrechts, insbesondere der Grundsatz der angemessenen Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen, perspektivisch betrachtet und angeführt. Diesbezüglich wurde auf die Überlegungen von Behrmann Das Prinzip der angemessenen Nutzung und vernünftigen Nutzung und Teilhabe nach der VN-Wasserlaufkonvention und Wehling Wasserrechte am Nil Bezug genommen.
Im Anschluss an die fokale Ausarbeitung der völkerrechtlichen Theorie wird veranschaulicht, inwiefern die ägyptisch äthiopischen Argumentationsweisen hinsichtlich des Nilwasserkonfliktes mit Hilfe bestehender völkerrechtlicher Verträge oder Abkommen legitimiert werden und auf welche Weise etwaige kooperative Konfliktansätze zu einer Lösung dieser zwischenstaatlichen Streitigkeiten führen können.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Die Ursachen des GERD-Konfliktes
3. Grundsätze des internationales Wassernutzungsrecht
3.1 Prinzip der absoluten territorialen Souveränität
3.2 Prinzip der absoluten territorialen Integrität
3.3 Prinzip der angemessenen Nutzung gemeinschaftlicher Ressourcen
4. Lösungsansätze für den GERD-Konflikt
4.1 Internationale Abkommen zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte?
4.2 Konfliktlösungsstrategie durch Kooperationsabkommen
5. Fazit
1. Einleitung
„It is often said that water crisis and scarcities will at some point lead to armed conflict. But this need not to be case. Water problems have also been a catalyst for cooperation among peoples and nations. Whatever else divides the human community, whether we live upstream or downstream, in cities or in rural areas, water issues - the global water cycle itself - should link us in a common effort to protect and share it equitably, sustainably and peacefully.“
Kofi Annan
Wasser ist nicht nur ein notwendiges Elixier menschlicher Organismen, sondern stellt zugleich auch einen rudimentären Bestandteil des Wasserkreislaufes der ökologischen Biosphäre dar. Bei Betrachtung des Globus erkennt man, dass der größte Teil der Erdoberfläche mit Wasser bedeckt ist. Obwohl rund zwei Drittel der Wassermenge aus Salzwasser besteht, konstituiert das für das Überleben der Zivilisation bedeutendere Süßwasser lediglich zwei Prozent. Hiervon ist wiederum ein größerer Anteil in Gletschern und Eisschichten der Polarregionen gebunden, welcher für die Versorgung der Menschheit kategorisch ausgeschlossen werden kann. Der tatsächlich zur Verfügung stehende Süßwasservorrat beschränkt sich demnach auf knapp 0,5 Prozent der gesamten weltweiten Wassermenge und kann aus dem Grundwasser und Oberflächenwasser, wie z.B. aus Flüssen und Seen, verwertet werden. (Leb 2013: 13f.) Die vorhandenen Süßwasserreserven können demnach als eine knappe Ressource betrachtet werden, welche das globale Zusammenleben nachhaltig bedrohen wird.
Aufgrund vergangener sowie gegenwärtiger Schwierigkeiten bei der Frage nach der Wasserverteilung, -verwendung und -verfügbarkeit vermuten zahlreiche Expertinnen und Experten, dass künftig ein deutlich größerer Teil der Weltbevölkerung mit der Ressourcenknappheit des Wassers konfrontiert wird und eine sowohl qualitativ als auch quantitativ ausreichende Wasserversorgung nicht gewährleistet werden kann. Den Grund hierfür sehen sie einerseits in dem ansteigenden Bedarf an industriellen, landwirtschaftlichen und privaten Aktivitäten infolge einer zunehmenden Überbevölkerung; andererseits wird die Verschmutzung des Wassers und die Herausforderung des intensivierenden Klimawandels eine ungleiche Verteilung der Wasserreserven verschlimmern und die bestehenden Wasserkapazitäten auf ein bedrohliches Maß reduzieren (vgl. Behrmann 2008: 23).
Es scheint kaum zu überraschen, dass die begrenzten Wasserkapazitäten langfristig nicht nur immense humanitäre Probleme erzeugen, sondern ebenso die Gefahr zwischenstaatlicher Konfliktpotenziale im Wettbewerb um Süßwasservorkommen vordergründig bei Binnengewässern exponentiell ansteigen lassen. Dieser Konflikt besteht explizit in der Gestalt einer Ober- und Unteranliegerproblematik, da der Wasserverlauf verschiedener Binnengewässer mehrere territoriale Areale durchquert und somit das Risiko der Benachteiligung eines Unteranliegers durch etwaige einseitige Entscheidungen eines Oberanliegers impliziert (vgl. Leb 2013: 1). Diese Benachteiligung findet ihren Ausdruck letztlich in der „Stauung von Flusswasser zum Zwecke der Energiegewinnung, [der] Belastung eines Gewässers mit Schadstoffen sowie durch die Entnahme größerer Wassermengen zu landwirtschaftlichen“ Zwecken. Bei der Frage um eine adäquate und gerechte Verteilung und Verwendung von Wasserressourcen münden erstaunlicherweise nicht alle Konflikte in einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Indes können zwischenstaatliche Konflikte durch gemeinsame Verhandlungen und diplomatischer Gespräche gelöst werden. Zu dieser Konklusion gelingen auch die eingangs angeführten Worte von Kofi Annan: Obgleich er das inhärente Konfliktpotenzial bezüglich der Problematik der Ressourcenknappheit des Süßwasservorkommens anerkennt, legt er den Fokus vielmehr auf eine friedlich-kooperative Zusammenarbeit einzelner Staaten, um in letzter Konsequenz zu einvernehmlichen Lösungsansätzen zu gelangen. Um dem Grundgedanken Annans Folge zu leisten, wird im Zuge dieser schriftlichen Ausarbeitung anhand eines prominenten Beispiels, konkret dem Konflikt zwischen Äthiopien und Ägypten in Bezug auf den Bau und die Inanspruchnahme des Grand-Ethiopien-Renaissance-Damm (GERD), der Versuch unternommen, zu ergründen, inwiefern Streitigkeiten im internationalen Wassernutzungsrecht mittels gemeinschaftlich-kooperativer Verhandlungen gelöst werden können.
Um potenzielle Rückschlüsse im Umgang mit zwischenstaatlichen Streitigkeiten im Wassernutzungsrecht zu erarbeiten, soll zunächst eine Verständnisgrundlage für die theoretischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, indem die zugrundeliegende Problematik des Nilkonflikts zwischen Ägypten und Äthiopien erläutert wird. Im Zuge dessen diente eine Reihe verschiedener Sekundärwerke als vornehmliche Informationsquelle. In einem nächsten Schritt werden die Entwicklung und die theoretischen Grundlagen des internationalen Wassernutzungsrechts, insbesondere der Grundsatz der angemessenen Nutzung gemeinsamer natürlicher Ressourcen, perspektivisch betrachtet und angeführt. Diesbezüglich wurde auf die Überlegungen von Behrmann Das Prinzip der angemessenen Nutzung und vernünftigen Nutzung und Teilhabe nach der VN-Wasserlaufkonvention und Wehling Wasserrechte am Nil Bezug genommen. Im Anschluss an die fokale Ausarbeitung der völkerrechtlichen Theorie wird veranschaulicht, inwiefern die ägyptisch-äthiopischen Argumentationsweisen hinsichtlich des Nilwasserkonfliktes mit Hilfe bestehender völkerrechtlicher Verträge oder Abkommen legitimiert werden und auf welche Weise etwaige kooperative Konfliktansätze zu einer Lösung dieser zwischenstaatlichen Streitigkeiten führen können.
2. Die Ursachen des GERD-Konfliktes
Der Nil ist einer der legendärsten und bekanntesten Wasserverläufe der Welt, welcher zahlreiche afrikanische Regionen, darunter das am Nildelta gelegene Ägypten, seit Jahrhunderten in blühende und fruchtbare Landschaften verwandelt und infolgedessen sowohl für landwirtschaftliche Aktivitäten als auch die ausreichende Versorgung einer größeren Mehrheit der Bevölkerung von zentraler Bedeutung ist. Trotz dieser augenscheinlich begünstigenden Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Lebensgrundlage der Bevölkerung, postuliert die Neue Zürcher Zeitung mit den Schlagworten Ägypten kämpft um sein blaues Gold und verweist auf kontinuierlich aufkommende negative Faktoren, die die Versorgung der ägyptischen Bevölkerung mit Nilwasser künftig bedrohe. Hierunter zählen demnach die radikale Veränderung der geopolitischen Situation, das ungebremste Bevölkerungswachstum und der sich intensivierende Klimawandel (vgl. Neue Zürcher Zeitung 2018). All diesen erschwerenden Bedingungen ergänzend, wird die Situation des afrikanischen Landes darüber hinaus durch den Bau der GERDTalsperre am Blauen Nil in der nordwestlichen Region Äthiopiens immens verstärkt.
Wie der Name des hiesigen Projektes schon auf den ersten Blick suggerieren vermag, handelt es sich dabei nicht nur um die Entwicklung und den Ausbau einer ausgereiften ingenieurtechnisch-infrastrukturellen Meisterleistung, sondern umfasst ebenso die visionäre Vorstellung der äthiopischen Regierung, aus eigenen Kräften einen wirtschaftlichen sowie sozialen Aufschwung zu realisieren, um hiermit das Potenzial für eine nachhaltige Binnenentwicklung zu ebnen (vgl. Atlantic Council 2018; Stroh 2010: 288). Mit Hilfe des GERD-Reservoirs erhofft sich Äthiopien ebenso sehr einen sektoralen Strukturwandel - weg von einem landwirtschaftlich geprägten Entwicklungsland, hin zu einer aufsteigenden Industrienation - und beansprucht bei dieser Zielrealisierung das unilaterale Recht, sämtliche ihm zugesprochenen natürlichen Ressourcen des Nils zu nutzen, um die landesweite Bevölkerungsarmut zu bekämpfen und den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen (vgl. Deutscher Bundestag 2020: 4). Ein positiver Nebeneffekt des GERD-Staudamms wäre, zu diesem Entschluss gelangt auch Tawfik (2016), die Bereitstellung von sauberem und kostengünstigem Strom für diverse afrikanische Nachbarländer, wie z.B. dem Sudan, Dschibuti und Kenia, um dem wachsenden Energiebedarf der ostafrikanischen Bevölkerung gerecht zu werden (vgl. Atlantic Council 2018).
Seit der Einführung des Projektes ist es jedoch vermehrt zu Kontroversen zwischen Ägypten und Äthiopien gekommen. Diese zwischenstaatlichen Spannungen haben ein Jahrzehnt nach Planung und Umsetzung des Staudamms ihren dramatischen Höhepunkt erreicht: Denn die ägyptische Regierung befürchtet, dass die Befüllung und Inbetriebnahme des GERD- Reservoirs schwerwiegende Konsequenzen mit sich bringen und eine große Bedrohung für seine Wassersicherheit darstellen wird. Konkret bedeutet dies, dass nicht nur Ägypten, sondern auch zahlreiche andere afrikanische Anrainerstaaten mit genügend Nilwasser versorgt werden und sich kontinuierlich ein überdurchschnittliches Wasserdefizit entwickelt (vgl. Brookings 2020). Die ägyptische Regierung fordert eine entsprechende langsamere Befüllung des Staudammes, um ineffiziente Engpässe in der Wasserversorgung zu vermeiden (vgl. von Lossow 2020: 1). Äthiopien hingegen versichert, dass durch die Inbetriebnahme des Staudammes keine signifikanten Eingriffe und Veränderungen im Wasserfluss und -haushalt vorgenommen wird und die Gefahr einer nicht ausreichenden Wasserversorgung durch eine strategische Regulierung bewältigt werden kann (vgl. Link und Scheffran 2015: 26).
Vordergründig betrachtet, gleicht die ägyptisch-äthiopische Auseinandersetzung der Frage um einer gerechten Ressourcenallokation - also einem banalen Nullsummenspiel: Wasser, welches ein Anrainerstaat flussabwärts in Anspruch nimmt, kann von einem Unteranrainer nicht mehr verwendet werden. Zweifellos liegen unterschiedliche Möglichkeiten vor, um das Nullsummenspiel aufzubrechen und eine gerechte Verteilung der Wasserressourcen zu realisieren. (vgl. Stroh 2010: 288f.). Bei der Analyse des anhaltenden Nilwasserkonfliktes zeigt sich allerdings, dass trotz dem Vorliegen diverser völkergewohnheitsrechtlicher Verträge, bilateraler bzw. multilateraler Abkommen und dem Einbezug der internationalen Gemeinschaft, die zwischenstaatlichen Streitigkeiten bis dato nicht gelöst und keine gemeinschaftliche Einigung erzielt werden konnte. Um eine mögliche gewaltsame Auseinandersetzung zur Lösung des Konfliktes in Zukunft zu umgehen, erscheint es sinnvoll, zunächst die theoretischen Bestandteil des internationalen Wassernutzungsrechtes zu betrachten, bevor in einem nächsten Schritt die Ursachen für das wiederholte Scheitern einer diplomatischen Einigung näher begründet werden sollen.
3. Grundsätze des internationalen Wassernutzungsrechts
Ob die Nutzung zu Bewässerungszwecken, im Rahmen von Handel und Transport oder vor dem Hintergrund moderner Industrie- und Energiegewinnung - der nicht immer friedlich-diplomatische Kampf um die knappe Ressource Wasser datiert weit zurück bis in die 3000er Jahre v. Chr., als die Nutzung des Euphrats in konkurrierenden Regionen des heutigen Iraks für massive zwischenstaatliche Spannungen sorgte. Und bis in die Gegenwart hineinreichend hat sich an der universalen Siginifikanz des Wasserrechts kaum etwas geändert: Ob Belange des internationalen Handels und der industriellen Wassernutzung in niederschlagsreichen Gebieten oder die mindestens ebenso wichtige Nutzung grenzüberschreitender Binnengewässer zu Bewässerungszwecken in der Landwirtschaft - Diplomatie und Abkommen im Zuge der wassernutzungsrechtlichen Verhandlungspraxis gehören zum ältesten aber auch aktuellen Usus des Völkerrechts. Hierbei gilt festzuhalten, dass die zuvor benannte Evolution des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenlebens, symptomatisch abzulesen an Entwicklungen wie der Industrialisierung, der einhergehenden Bedeutungszunahme der Schifffahrt sowie den ökonomischen Begleiterscheinungen der Urbanisierung, die nationalen wie internationalen Interessen in der Wassernutzung in deutlicher Weise verschoben und intensiviert, sowie das Potenzial zu zwischenstaatlichen Konflikten verstärkt hat. Zu diesen Auseinandersetzungen kann auch der prominente ägyptisch-äthiopische Konflikt um die GERD-Talsperre gezählt werden. Die Befürchtungen, nicht ausreichend auf die Wasserressourcen des Nils zurückgreifen zu können ist kein neuartiges Phänomen des modernen Wassernutzungsrechts, sondern reicht ebenso wie das internationale Wasserrecht weit in die Vergangenheit der beiden Nationen zurück. In der Konsequenz führte dies zu einem beträchtlich fortentwickelten Angebot an internationalen Übereinkommen, völkerrechtlichen und gewohnheitsrechtlichen Verträgen sowie gerichtlichen Entscheidungsverfahren über eine faire Nutzung und Verteilung von internationalen Binnengewässern. (Vgl. Wehling 2018: 19ff.)
3.1 Prinzip der absoluten territorialen Souveränität
Das Prinzip der absoluten territorialen Souveränität impliziert, dass jeder Anrainerstaat bei der Nutzung internationaler Binnengewässer frei über die Ressource eines Wasserlaufes verfügen und auch solche Maßnahmen ergreifen darf, die den Wasserverlauf nachhaltig beeinflussen. Konkret bedeutet dies, dass der Staat keine Rücksicht auf die Interessen der übrigen Anrainerstaaten nehmen muss und im Zuge seines eigennützigen Handelns negative Auswirkungen für die angrenzenden Anrainerstaaten billigend in Kauf nimmt. Gemäß der territorialen Souveränität werden Anrainerstaaten, die weiter flussaufwärts lokalisiert sind, bevorzugt. Die Theorie wird am häufigsten mit einer Stellungnahme des US-amerikanischen Generalstaatsanwaltes Judson Harmon im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko bezüglich der Verwendung und Nutzung des Rio Grandes in Verbindung gebracht. (Vgl. Wehling 2018: 25f.; Mühlhans 1998: 3f.) Hudson war in diesem Konflikt der Auffassung, dass die konzeptionelle Vorstellung über die territoriale Souveränität den Staaten die ausschließliche Kontrolle über die Nutzung von Wasserressourcen innerhalb der staatlichen Grenzen erlaube:
„The rules, principles, and precedents of international law impose no duty or obligation upon the United States of denying to its inhabitants the use of the water of that part of the Rio Grande lying entirely within the United States, although such use results in reducing the volume of water in the river below the point where it ceases to be entirely within the United States. [...] The fundamental principle of international law is the absolute sovereignty of every nation, as against all others within its own territory.“ (United States Congress House Committe 1919: 110)
In der kontextuellen Betrachtungsweise kann die Harmon-Doktrin jedoch nur primär auf den Präzedenzfall zwischen den USA und Mexiko projiziert werden, da sich lediglich die amerikanische Regierung in der zwischenstaatlichen Verhandlung auf die absolute territoriale Souveränität über die auf ihrem Staatsterritorium befindenden Segmente internationaler Binnengewässer berufen hat. In einer höheren Instanz konnte die Verwendung und Nutzung des Rio Grandes im Zuge einer fairen und kooperativen Verhandlungslösung generiert werden. In der gegenwärtigen, allgemeinen Mehrheit der Staatengemeinschaft und völkerrechtlichen Praxis wird die Harmon-Doktrin überwiegend abgelehnt, da niemals von einer vollkommen absoluten Souveränität ausgegangen werden kann. Bekanntermaßen sollte diese an völkerrechtliche Normen und an die Souveränität anderer Nationen gebunden sein und in ihrer Eigenschaft begrenzt werden. Hingegen ignoriert sie das Recht anderer, meist flussabwärts gelegener Anrainerstaaten an der angemessenen Nutzung eines internationalen Wasserverlaufs. (Vgl. Wehling 2018: 27f.) Überträgt man diesen Gedanken auf die frühen Legitimationsversuche der äthiopischen Regierung, so erscheint es durchaus logisch, dass die Berufung auf das Prinzip der territorialen Souveränität bei der Nutzung des Nils als bedeutungslos betrachtet werden kann. Obwohl sich Äthiopien bereits im Jahre 1977 im Zuge einer diplomatischen Stellungnahme bei der UNWasserkonferenz dazu aussprach und erklärte, dass es ,the sovereign right of any riparian state, in the absence of an international agreement, to proceed unilaterally with the development of water resources within its territory‘ (ebd.: 27) sei, muss an dieser Stelle allerdings das staatlich abgeschlossene Nilabkommen aus dem Jahre 1957 in den Rechtfertigungsversuch miteinbezo- gen werden, auf das im weiteren Verlauf der theoretischen Überlegungen eingegangen wird.
3.2 Prinzip der absoluten territorialen Integrität
Im Gegensatz zum Prinzip der absoluten territorialen Souveränität beinhaltet die Theorie der absoluten territorialen Integrität folgendes Paradigma: Keine Nation darf uneingeschränkt über ihr staatliches Territorium verfügen und die Interessen anderer Staaten nachhaltig beeinträchtigen (vgl. Epiney 1995: 318). Hinsichtlich des internationalen Wasserrechts bedeutet dies, dass die an einem transnationalen Binnengewässer lokalisierten Oberanrainerstaaten keine Vorhaben ohne die vorzeitige Genehmigung eines Unteranrainerstaates durchführen dürfen, die zu einer Beeinträchtigung eben jener flussabwärts gelegener Staaten führen und einen ungehinderten natürlichen Wasserabfluss bereits im Ansatz unterdrücken. Der Grundsatz der territorialen Integrität kann gegenwärtig als obsolet betrachtet werden und wird in der breiten Öffentlichkeit weitestgehend abgelehnt, da dieser weder in der internationalen Staatenpraxis zur Lösung von Streitigkeiten, noch in den theoretischen Grundlagen der völkerrechtlichen Literatur eine umfassende Zustimmung erhält. (Vgl. Wehling 2018: 29)
Nichtsdestotrotz hat sich im vergangenen Jahrhundert ein überschaubarer Anteil von Nationen auf das territoriale Integritätsprinzip bezogen, so z.B. die USA bei den Auseinandersetzungen um eine angemessene nichtschifffahrtliche Nutzung internationaler Binnengewässer (vgl. McCaffrey 2019: 127). Im Jahre 1981 hat sich ferner der ägyptische Nilanrainerstaat bei einer Versammlung der internationalen Flusskommission auf den unverletzlichen Grundsatz berufen, mit der Intention, dass jeder Anrainerstaat das uneingeschränkte Recht besitze, den Status Quo des sich auf seinem Hoheitsgebiet befindenden Wasserverlauf aufrechtzuerhalten und dass sämtliche positive wie auch negative Maßnahmen, wie z.B. die Verwendung und Nutzung des Nilwassers durch Oberanrainerstaaten nicht zu einer konstanten Benachteiligung für weiter flussabwärts gelegene Staaten führen dürfe: ,a rivers upper reaches should not be touched lest this should affect the flow of quantity of its wate.‘ (Degefu 2003: 79). Erst mit Ende des 20. Jahrhunderts und des sich entwickelnden GERD-Projektes der äthiopischen Regierung lässt sich eine grundsätzliche Abweichung der zuvor extremen ägyptischen Ansichten erkennen. Im Zuge der jüngsten Verhandlungslösungen im Konflikt um die gerechte Nutzung des Nilwassers, insbesondere im Rahmen des kürzlich vereinbarten Kooperationsrahmenabkommens, worauf im späteren Verlauf der Ausarbeitung noch genauer eingegangen wird, ist jedoch zu erkennen, dass Ägypten das Konzept der territorialen Integrität nicht vollkommen aufgegeben hat und als Rechtfertigungsgrund in der Diskussion um das internationale Wassernutzungsrecht anführt. (Vgl. Wehling 2018: 29ff.)
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