Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit Jean-Jacques Rousseaus "Julie ou la Novelle Héloïse" und betrachtet dabei, welchen Stellenwert der literarischen Gattung des Briefromans, dem Medium des Briefes und der schriftbasierten Form der Liebe für die Entwicklung und das Fortbestehen der Gefühle zukommt.
Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der verführerischen Kraft, der die Protagonisten als Repräsentant des französischen Lesers des 18. Jahrhunderts ausgesetzt sind.
Der empfindsame Briefroman "Julie ou la Nouvelle Héloïse" von Jean-Jacques Rousseau ist einer der größten belletristischen Bucherfolge des 18. Jahrhunderts. Bereits der Titel enthält eine Anspielung auf den Inhalt des Romans, der sowohl thematisch, als auch formal Parallelen zum Briefwechsel des mittelalterlichen Theologen Peter Abaelard und seiner Schülerin, beziehungsweise Geliebten, Heloisa auf-weist. In gleicher Weise leiden die adlige Julie und ihr bürgerlicher Hauslehrer Saint-Preux unter ihrer Liebe ohne Hoffnung auf gesellschaftliche Legitimation.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Briefroman im 18. Jahrhundert
3. Verführung im Roman
4. Fazit
5. Bibliographie
1. Einleitung
Der empfindsame Briefroman Julie ou la Nouvelle Hélo'ise von Jean-Jacques Rousseau ist einer der größten belletristischen Bucherfolge des 18. Jahrhunderts. Bereits der Titel enthält eine Anspielung auf den Inhalt des Romans, der sowohl thematisch, als auch formal Parallelen zum Briefwechsel des mittelalterlichen Theologen Peter Abaelard und seiner Schülerin, beziehungsweise Geliebten, Heloisa aufweist. In gleicher Weise leiden die adlige Julie und ihr bürgerlicher Hauslehrer Saint- Preux unter ihrer Liebe ohne Hoffnung auf gesellschaftliche Legitimation. Trotz der beschwerlichen Umstände, die das Ausleben dieser im Rahmen einer realen Beziehung verhindern, schaffen es die beiden Protagonisten, ihre Leidenschaft aufgrund ihrer geheimen Liebeskorrespondenz per Brief bis zum Tode Julies zu erhalten. Nachfolgend soll betrachtet werden, welchen Stellenwert der literarischen Gattung des Briefromans, dem Medium des Briefes und der schriftbasierten Form der Liebe für die Entwicklung und das Fortbestehen der Gefühle zukommt. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der verführerischen Kraft, der die Protagonisten als Repräsentant des französischen Lesers des 18. Jahrhunderts ausgesetzt sind.
Bestehend aus sechs Teilen, finden sich überwiegend im ersten Teil des Romans Schilderungen der Leidenschaft, die zur Verführung auf unterschiedlichen Ebenen führen, wieder. Diese Briefe aus dem ersten Teil werden zur abschließenden Textanalyse herangezogen, um unter anderem die Wichtigkeit der Verbindung von Liebe und Sprache und die Auswirkung von Schrift auf die Imagination herauszuarbeiten.
2. Der Briefroman im 18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert gibt es zahlreiche Entwicklungen im gesellschaftlichen und so- ziokulturellen Bereich, die dazu führen, dass insbesondere in den Jahren zwischen 1740 und 1780 der Briefroman eine ausgeprägte Popularität genießt, denn in etwa jeder fünfte Roman wird in Briefform verfasst.1 2 3
Aufgrund aufklärerischer Bestrebungen wird eine breite Literarisierung der Unterschichten angestrebt, die möglichst vielen Menschen den Zugang zu Wissen und der Wirklichkeit ermöglichen soll. Die wachsende Alphabetisierungsrate im Allgemeinen und ein starker Anstieg des Leseinteresses im partikulären beim bürgerlichen Publikum führen dazu, dass die entstandene erhöhte Nachfrage nach Lektüre zum Teil nicht befriedigt werden kann. Dieser Umstand begünstigt die Etablierung von Lesegesellschaften, sogenannten „sociétés litteraires“ , die zu Beginn oft aus wirtschaftlichen Beweggründen entstehen. Damit verbunden ist das anschließende Gespräch über das Gelesene und somit eine implizierte „soziale Kontrolle“ über die Diskussion im Rahmen eines gesellschaftlichen Umgangs, der zumeist in den Satzungen über einen Verhaltenskodex festgeschrieben ist. Diese von Vorsicht und Kontrolle geprägte Einstellung gegenüber Literatur als verführerische Instanz ist ein wichtiger Bestandteil der französischen Kultur des 18. Jahrhunderts und beeinflusst nicht nur die Rezeption.
In Frankreich herrscht eine präskriptive Wahrnehmung von Literatur vor, die sich bereits in der Schaffung der Werke niederschlägt. Ausdrücklich findet eine Normierung im lyrischen und dramatischen Bereich statt, durch das Vorhandensein von Vorgaben und Richtlinien, die zeitgenössische Autoren zu befolgen haben. Da er nicht zu den kanonisierten Gattungen gehört, und somit nicht den Prinzipien der bienséance und der vraisemblance gerecht wird, befindet sich der Roman insbesondere in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Kritik. Zumeist wird er der Sparte der Unterhaltung zugeordnet, ohne weiteren (moralischen) Mehrwert. Viele Autoren kämpfen um den Ruf des Romans, weshalb sie zum Teil dazu übergehen, Vorgaben aus der Lyrik und der Dramatik im Roman zu befolgen. Im Fokus steht hierbei die leitende Funktion auf das moralische Verhalten des Lesers durch die Möglichkeit, Erfahrungen in einer Wirklichkeitsillusion zu gewinnen, ohne den Verlust der eigenen Tugend eingehen zu müssen. Sie bestreiten die „empfindsame Hoffnung, gesellschaftliche Ordnung über Fiktionen stiften zu können“4 und sprechen sich für die Unschädlichkeit von Romanen aus. Indem die überzeugende Kraft des Lesens kanalisiert wird, könne eine kognitive Bereicherung erwirkt werden, die sich nützlich auf den Erhalt der Tugend auswirkt.5
Rousseau selbst platziert eine treffende Formulierung zum populären Leseverständnis im Frankreich des 18. Jahrhunderts in derpréface seines Briefromans: „Jamais fille chaste n‘a lu de Romans“. Eine vage formulierte Warnung illustriert die Assoziation von Romanen, insbesondere Briefromanen, mit Vergnügen und dem damit verbundenen möglichen Verlust der Tugend. Lesen gilt als gefährliche und unzuträgliche Art des Zeitvertreibs, denn der „Akt des Lesens [kommt] einem unwiderstehlichen Akt der Verführung“6 7 8 gleich. Bücher stehen in Verbindung mit Leidenschaft und drohen den Leser, und speziell die Leserin, zu verführen, ihn in sein moralisches Verderben zu stürzen. Solch eine Beschäftigung würde den Verstand mit Gedanken an Lust und Sinnlichkeit füllen und das Verlangen wecken, das durch Lektüre verspürte Vergnügen real auszuleben. Die geschriebenen Worte nähren die Imagination über Leidenschaft. Für eine Gesellschaft, die geprägt ist von Galanterie und aristokratischen Verhaltensmustern, war diese Sprache der Leidenschaft etwas „Neues, Seltsames, Erschütterndes“ . Insbesondere der Briefroman, als „Medium der Diskursivierung von Sexualität par excellence“9 stellt hierbei eine Sonderform dar.10
Zentral für das Erwecken gennannter Leidenschaften ist die mimetische Identifikation mit den handelnden Figuren, die durch die aufkommende Art des Lesen begüns- tigt wurde, da die Praxis des Lesens sich im 18. Jahrhundert einem Wandel unterzieht. Während zuvor überwiegend in (Lese-) Gesellschaften gelesen wurde, verändert sich die französische Lesekultur dahingehend, dass das individuelle Lesen dem gemeinsamen Lesen sukzessiv vorgezogen wird und es sich zunehmend zu einer stillen, privaten Tätigkeit entwickelt. Die damit einhergehende erhöhte Privatsphäre wirkt sich direkt auf die Imagination aus, die wie eine unwiderrufliche Kraft den Körper beherrscht.11 12 13 Durch diese Art zu Lesen war es dem Rezipienten möglich, eine tiefgreifende mentale Verbindung mit dem Geschehen und insbesondere auch mit den handelnden Personen einzugehen. Der reale Leser wird gedanklich zum fiktiona- len Adressaten der gelesenen Briefe.
Eine Privatisierung erfolgt auch mit dem Medium des Briefes, denn die Rolle des Postwesens verändert sich. Zuvor wird der Brief als eine „(halb-) öffentliche Textform“ verstanden, die deshalb einem strengen rhetorischen Regelwerk unterliegt, oft in Gesellschaft gelesen und sogar diskutiert wird. Indessen finden Briefe nun nicht nur im behördlichen und kaufmännischen Bereich Verwendung, der vom Gebrauch zweckgebundener Formalismen geprägt ist, sondern auch im privaten Bereich, in dem der Brief als „soziales Mittel“14 fungiert. Die Konzeption des Briefes nähert sich unserer heutigen Vorstellung eines Privatbriefes, dessen Gestaltung von Spontanität und Zwanglosigkeit zeugen und eine kommunikative Nähe zwischen Verfasser und Empfänger ausdrücken. Es wandelte sich also die Rolle des Briefes, da er nunmehr nicht nur einen informativen Charakter inne hatte, sondern vielmehr ein Mittel der reflektierten Selbstdarstellung und -mitteilung ist, das die Beschreibung von eigenen Gedanken und Gefühlen erlaubt15.
Diese „(Modernisierungs-) Prozesse in der Konzeptualisierung von Roman und Brief [bieten] die Grundlage für die Möglichkeit ihrer spezifischen Symbiose zur neuen Gattung Briefroman“16, dessen Besonderheit in den Potentialen liegt, die sich gegenüber einem Roman mit sich konstituierendem Erzähler eröffnen. Wie keine andere Gattung, kann er eine unverstellte Wirklichkeit abbilden, die „wahrhaftig und lebensecht“ erscheint. Der Autor selbst tritt in den Hintergrund und stattdessen treten die handelnden, bezeihungsweise schreibenden, Charaktere in den Vordergrund, mit denen sich der Leser verstärkt identifizieren kann. Es wird eine Illusion der Wirklichkeit geschaffen, die keines Erzählers bedarf, der auf die Dringlichkeit und Wichtrigkeit der Auseinandersetzung mit einer bestimmten Thematik hinweist, sondern die Darstellung einer Schein-Realität unterstreicht die „sittliche Wichtig- keit „Rousseaus Liebesroman [...] situiert sich vor allem auch im Rahmen der zeitgenössischen Debatte um die pädagogischen Möglichkeiten der Gattung Roman“17. Die Besonderheit von Julie ou la Nouvelle Hélo'ise liegt darin, dass das Problem der verführerischen Kraft von Literatur anhand der Protagonisten porträtiert wird.
3. Verführung im Roman
Im Briefroman Julie ou la Nouvelle Hélo'ise kommt der Verführung durch Lektüre, vornehmlich durch das Medium des Briefes, eine entscheidende Rolle zu. Die von Rousseau mehrfach betrachtete „unauflösliche Verbindung“ von Liebe, Sprache und Medium und die Medialität der Liebe der beiden Protagonisten stellt hier eine maßgebliche Determinante für das Entstehen und den Erhalt ihrer Leidenschaft dar. Bereits zu Beginn kommt der diskursive Charakter der Liebe zwischen Julie und Saint-Preux zum Tragen.
[...]
1 Cf. Singer, Godfrey Frank: The epistolary novel: its origin, development, decline, and residuary influence, New York, Russell & Russell 1963, 10ff
2 Schön, Erich: „Lesestoffe, Leseorte, Leserschichten“, in: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760-1820: Epoche im Überblick, Glaser, Horst Albert, Ams-terdam, J. Benjamins 2001, 101
3 Goetsch, Paul: “Zur Bewertung von Lesen und Schreiben im 17. Und 18. Jahrhundert“, in: Lesen und Schreiben im 17. Und 18. Jahrhundert: Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen, Narr 1994, 13
4 Frömmer, Judith: Vaterfiktionen: Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung, München/Paderborn, Fink 2008, 203
5 Cf. Young, Paul J: Seducing the eighteenth-century French reader: reading, writing, and the question of pleasure, Aldershot, Ashgate 2008, 8
6 Frömmer, Judith: Vaterfiktionen: Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung, München/Paderborn, Fink 2008, 201
7 Cf. Young, Paul J: Seducing the eighteenth-century French reader: reading, writing, and the question of pleasure, Aldershot, Ashgate 2008, 1
8 Schön, Erich: „Lesestoffe, Leseorte, Leserschichten“, in: Die Wende von der Aufklä-rung zur Romantik 1760-1820: Epoche im Überblick, Glaser, Horst Albert, Amsterdam, J. Benjamins 2001, 81
9 Klinkert, Thomas: „Zur Medialität der Liebe bei Jean-Jacques Rousseau“, in: Vom Flugblatt zum Feuilleton, Wolfram Nitsch/Bernhard Teuber, Tübingen, Narr 2002, 186
10 Cf. Moravetz, Monika: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts: Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloi'se und Laclos‘ Liaisons dangereuses, Tübingen, Narr 1990, 4f
11 Cf. Young, Paul J: Seducing the eighteenth-century French reader: reading, writing, and the question of pleasure, Aldershot, Ashgate 2008, 8
12 Beebee, Thomas O.: Epistolary fiction in Europe, 1500-185, Cambridge, Cambridge University Press 1999, 8
13 Pabst, Esther Suzanne: Die Erfindung der weiblichen Tugend: kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, Göttingen, Wallstein 2007, 86
14 Picard, Hans Rudolf: Die Stellung des Autors im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, Heidelberg, 1959, 6
15 Pabst, Esther Suzanne: Die Erfindung der weiblichen Tugend: kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, Göttingen, Wallstein 2007, 87
16 Ibid., 85
17 Ibid., 87