Unter der Themenstellung Erzählen und Erzählungen im Unterricht soll sich in dieser Arbeit sowohl auf sprachwissenschaftlicher als auch sprachdidaktischer Ebene mit der Sprachhandlung Erzählen beziehungsweise mit der Textsorte Erzählung beschäftigt werden.
Die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zur Produktion von Texten unterschiedlichster Textsorten gehört zu einer zentralen Kompetenz des Unterrichts im Fach Deutsch. Der als Schreibhandeln bezeichnete Prozess beschreibt ein Verfahren, um Sachverhalte oder Informationen in einem Text auszudrücken und ist ein elementarer Bestandteil des Deutschunterrichts.
Erzählen stellt einen Begriff dar, der in der alltäglichen Kommunikation inflationär verwendet wird und von dem wohl viele Alltagskonzepte bestehen. In seiner wissenschaftlichen Bedeutung ist der Term von jenem, der alltäglichen Verwendung abzukoppeln und als linguistischer Fachbegriff zu behandeln, der je nach Definition verschiedene Merkmale pointiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sprachwissenschaftliche Analyse
2.1. Grundbegriffe
2.1.1. Was ist Erzählen und was ist eine Erzählung?
2.1.2. Mündliches vs. schriftliches Erzählen
2.2. Funktionen und Motive von Erzählen und Erzählungen
2.3. Merkmale von Erzählen und Erzählungen
3. Sprachdidaktische Analyse
3.1. Erzählen in der Schule
3.1.1. Legitimation
3.1.2. Charakteristika des schulischen Erzählens
3.1.3. Formen von Erzählungen im Unterricht
3.2. Narrative Kompetenzen
3.2.1. Curriculare Kompetenzen
3.2.2. Didaktische Kompetenzen
3.3. Schulischer Erwerbsprozess
3.4. Didaktische Konsequenzen
4. Lehrwerksanalyse
4.1. deutsch kompetent Klett
4.2. Deutschbuch Cornelsen
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zur Produktion von Texten unterschiedlichster Textsorten gehört zu einer zentralen Kompetenz des Unterrichts im Fach Deutsch. Der als Schreibhandeln bezeichnete Prozess beschreibt ein Verfahren, um Sachverhalte oder Informationen in einem Text auszudrücken1 und ist ein elementarer Bestandteil des Deutschunterrichts.
Im Verlauf dieser Arbeit setze ich mich schwerpunktmäßig mit dem Erzählen als eine Form der in der Schule behandelten Textsorten auseinandergesetzt. Unter der Themenstellung Erzählen und Erzählungen im Unterricht soll sich in dieser Arbeit sowohl auf sprachwissenschaftlicher als auch sprachdidaktischer Ebene mit der Sprachhandlung Erzählen bzw. mit der Textsorte Erzählung beschäftigt werden. Dazu ist es zunächst relevant, eine Definition der grundlegenden Begriffe vorzunehmen und auf die Merkmale, die Struktur, die Funktionen sowie auf unterschiedliche Formen von Erzählungen im Schulunterricht einzugehen. Daran anschließend wird in der sprachdidaktischen Analyse untersucht, wie die Thematik im schulischen Kontext den Schülerinnen und Schülern zugänglich gemacht wird bzw. werden sollte. Außerdem werden die dafür relevanten didaktischen Lernziele benannt. Darauf folgend wird näher auf den Erwerbsprozess einer Erzählkompetenz der Lernenden eingegangen und abschließend didaktische Konsequenzen für den Unterricht formuliert. Zum Abschluss findet eine Analyse aktueller Lehrwerke im Hinblick auf die didaktische Vermittlung der Thematik statt. Dabei wird analysiert, wie der Inhalt konkret für den Unterricht aufbereitet wird und welche Schwerpunkte unter Umständen gesetzt werden.
2. Sprachwissenschaftliche Analyse
Im folgenden Abschnitt geht es um die sprachwissenschaftliche Betrachtung der Thematik Erzählen und Erzählungen. Dazu werden zu Beginn Grundbegriffe definiert, da deren Klarheit für die weitere Analyse und das Treffen von fundierten Aussagen konstitutiv ist. Darauf aufbauend werden die wichtigsten Funktionen des Erzählens genannt, ehe sich mit den charakteristischen Merkmalen des Erzählens und einer Erzählung auseinandergesetzt wird.
2.1. Grundbegriffe
2.1.1. Was ist Erzählen und was ist eine Erzählung?
Erzählen stellt einen Begriff dar, der in der alltäglichen Kommunikation inflationär verwendet wird und von dem wohl viele Alltagskonzepte bestehen. In seiner wissenschaftlichen Bedeutung ist der Term von jenem, der alltäglichen Verwendung abzukoppeln und als linguistischer Fachbegriff zu behandeln, der je nach Definition verschiedene Merkmale pointiert. Walter Benjamin beispielsweise setzt in seiner Begriffsbestimmung den Fokus auf die soziale Komponente, indem er Erzählen als Austausch von Erfahrungen definiert: „Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung, aus der eigenen oder der berichteten. Und er macht es wieder zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören.“2 Benjamin betont somit vor allem die anthropologische Bedeutung des Erzählens, das auf einer sozialen Interaktion und auf individuellen Sozialisationserfahrungen beruht. Erzählt werden kann alles, was der Erfahrungsschatz des Erzählenden hergibt. Dieser ist das Resultat der Summe aller selbst gemachten und berichteten Erfahrungen. In seiner Etymologie bedeutet erfahren „Kenntnis erhalten, erleben, durchmachen, erleiden.“3 Deutlich wird hierbei die Differenzierung in selbst gemachte Erfahrungen (erleben, durchmachen, erleiden) und mitgeteilte Erfahrungen eines anderen (Kenntnis erhalten). Die Erzählung teilt somit eine eigene oder berichtete Erfahrung in sprachlicher Form mit und ermöglicht damit den Zuhörenden oder Lesenden einerseits die Teilhabe an dieser Erfahrung sowie andererseits die Weitergabe dieser.4 Die Definition William Labovs basiert ebenso auf dem kennzeichnenden Charakteristikum der Wiedergabe einer Erfahrung. Er definiert eine Erzählung als eine bestimmte „Methode, zurückliegende Erfahrung verbal dadurch zusammenzufassen, daß [sic] eine Folge von Teilsätzen (clauses) eine Folge von Ereignissen zum Ausdruck bringt, die, wie wir annehmen, tatsächlich vorgefallen sind.“5 Neben der Artikulation einer Erfahrung ist demnach ebenso die Annahme einer Tatsächlichkeit des Geschehenen ein konstitutives Definitionsmerkmal einer Erzählung. Prinzipiell kann der Begriffsbestimmung zu Folge jede Erfahrung die Grundlage einer Erzählung werden. Der Zuhörer muss dementsprechend nur annehmen, es handele sich um eine reale und in der Form zugetragene Geschichte. Aufgrund der Grice’schen Konversationsmaxime der Qualität, welche besagt, „sage nichts, was du für falsch hältst“6, geht der Rezipient davon aus, der Erzähler erzähle die Wahrheit und das Geschehene sei wie geschildert vorgefallen.
Hurrelmann bestimmt den Term auf eine ähnliche Art und Weise. Sie definiert Erzählen als eine mögliche Form der Darstellung eines konkreten Sachverhaltes, „in der singuläre Handlungs- und Ereignisabläufe retrospektiv vermittelt werden mit der Intention, dem Hörer ein Nacherleben der Geschichte zu ermöglichen.“7 In dieser Begriffsbestimmung identifiziert Hurrelmann drei konstitutive Definitionsmerkmale, die das Erzählen kennzeichnen. Zunächst muss eine Bezugnahme auf einen bestimmten Sachverhalt vorliegen. Das heißt, es gibt ein Referenzobjekt, also ein bestimmtes Ereignis, eine Problemlage, Situation, Person etc., auf die beim Erzählen Bezug genommen wird. Darüber hinaus muss dieser bezugnehmende Sachverhalt in der Vergangenheit liegen, da sonst nicht in der Retrospektive über ihn berichtet werden kann. Das setzt auch voraus, dass mindestens ein Handlungsstrang in dem Ereignisablauf abgeschlossen ist. Zuletzt geht das Erzählen immer mit einer Intentionalität seitens des Erzählenden einher, indem dieser motiviert sein muss, ein „Nacherleben der Geschichte zu ermöglichen.“8 Dabei können unterschiedliche Motive für die Entwicklung einer solchen Motivation ausschlaggebend sein, welche im weiteren Verlauf thematisiert werden. Wie verhält es sich nun bei offensichtlich erfundenen Geschichten, die erzählt werden? Auch erfundene Geschichten sind das Resultat erlebter oder mitgeteilter Erfahrungen, die das Fundament für das Erfundene bilden. Sowohl in Labovs als auch in Hurrelmanns Definition findet keine explizite Differenzierung zwischen fiktionalen und faktualen Erzählungen statt. Jedoch muss auch letztere Sorte die konstitutiven Definitionsmerkmale aufweisen.
In der literaturwissenschaftlichen Forschung gehört die Erzählung als literarische Gattung zu den „rekonstruktiven Gattungen“. In Erzähltexten findet demnach eine „Rekonstruktion eines Ablaufs realer oder fiktiver Handlungen oder Ereignisse, die im Verhältnis zum Zeitpunkt des Erzählens zurückliegen oder zumindest als zurückliegend dargestellt werden“9, statt. Die Textsorte Erzählung definiert sich dementsprechend ebenfalls über die Wiedergabe einer retrospektiven Betrachtung eines Geschehens mit einer bestimmten Handlungsabfolge.
2.1.2. Mündliches vs. schriftliches Erzählen
Auf zwei verschiedene Arten kann eine Erzählung realisiert werden: mündlich in einer Konversation oder schriftlich in Form eines geschriebenen Textes. Die Abgrenzung zwischen den beiden Formen scheint, auf den ersten Blick offensichtlich zu sein. Im alltäglichen Sprachgebrauch dominiert die mündliche Kommunikation zwischen mehreren Personen. Von daher geht Rank davon aus, im Alltag werde größtenteils mündlich erzählt und in der Literatur und in der Schule überwiegend schriftlich.10 Bevor aber auf die weiteren Unterschiede eingegangen wird, muss zunächst eine grundlegende Prämisse festgelegt werden. Eine Erzählung, egal ob mündlich vorgetragen oder schriftlich fixiert, wird von einem Erzähler produziert. Das heißt, es gibt einen „primären Sprecher“ oder „dominanten Produzenten“, welcher eine bestimmte Intention mit dem Erzählen aufweist und der Träger der kommunikativen Aktivität ist. Für schriftliche Erzählungen mag dies selbstverständlich sein, in Bezug auf die mündliche Kommunikation jedoch stellt dieses Kriterium einen wichtigen Beitrag zur Abgrenzung der Erzählung von anderen „Techniken der […] Rekonstruktion vergangener Ereignisse“11 dar. Wenn jemand in der alltäglichen Kommunikation als guter Erzähler charakterisiert wird, werden im Besonderen mündliche Fähigkeiten ausgezeichnet, die sich nur eingeschränkt in schriftlichen Erzählungen widerspiegeln. Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von spezifischen „Kunsttechniken, die speziell an die mündliche Äußerung gebunden sind: gestische und mimische Darstellung [sowie] intonatorische Effekte aller Art zur Unterstreichung und Nachahmung.“12 Während sich die literarische Textsorte insbesondere durch eine anschauliche und detailreiche Darstellungsweise auszeichnet, gehört zum „gekonnten [mündlichen] Erzählen […] die Sparsamkeit im Einsatz vor allem der rein verbalen Mittel.“13 Bei der mündlichen Realisierungsform können sehr viele Informationen über die Prosodie, Gestik, Mimik etc. nonverbal vermittelt werden und so reichen oftmals bereits Andeutungen aus, um dem Hörer ein Nacherleben der Geschichte zu ermöglichen. Weiterhin bedarf es bei der mündlichen im Gegensatz zur schriftlichen Erzählung keiner Verben, die Sprachakte zum Ausdruck bringen, oder Adverbien, die diese weiter charakterisieren. Bei ihr kann der Erzählende diese in seine Darstellung mitübernehmen und so seine Darstellungsform an das Geschehene anpassen. Er braucht nicht explizit zu sagen, jemand sei erstaunt gewesen, sondern kann dies implizit über seine Kommunikationsweise vermitteln und mimt den Moment des Erstaunens, sodass es für den Hörer nachempfindbar ist. In einer schriftlichen Erzählung muss hingegen alles, was in der mündlichen Erzählung durch den Erzählenden inszenatorisch nachgeahmt wird, umschrieben werden: „Was sich in einer mündlichen Erzählung schlagend mit einem Gesichtsausdruck, einer Geste darstellen ließ, erfordert jetzt vielleicht mehrere Sätze.“14 Beim mündlichen Erzählen wird sich insgesamt einer Fülle von Gestaltungsmitteln wie der Stimme, Gestik, Mimik und Sprache bedient. Beim schriftlichen Erzählen hingegen können jene dramaturgischen Mittel nicht bzw. nur eingeschränkt verwendet werden. Dieses zeichnet sich durch Wortwahl und Satzbau sowie durch die häufigere Verwendung rhetorischer Elemente und prägnante sprachliche Charakterisierungen der erzählten Referenzobjekte aus.
Darüber hinaus machen Flader/Hurrelmann darauf aufmerksam, dass das mündliche Erzählen keineswegs ein einseitiger Prozess ausgehend vom Sprecher sei und der Hörer als Mittel zum Zweck lediglich unbeteiligt zuhöre. Der Hörer hat die Funktion, durch das Geben von „Hörersignale[n], Kurzkommentare[n], Nachfragen etc. […] sein Verstehen und das jeweilige Interesse im Ablauf des Erzählvorgangs [zu dokumentieren].“15 Er oder sie bestimmt damit wesentlich den Fortlauf einer Erzählung und kann die erzählende Person unmittelbar beeinflussen. Bei einem schriftlichen Text kann der Rezipient diese Funktion nicht ausführen.
2.2. Funktionen und Motive von Erzählen und Erzählungen
Die Beweggründe, jemandem etwas zu erzählen, können aus unterschiedlichen Motivationen heraus entwickelt werden. Folgt man der bereits oben genannten Definition Hurrelmanns beinhaltet das Erzählen stets eine bestimmte Intentionalität des Erzählenden.16 Dieser verfolgt dementsprechend eine gewisse Absicht, weshalb er/sie einer anderen Person etwas erzählt. Sowohl Fix als auch Merz-Grötsch identifizieren drei zentrale Beweggründe für das Erzählen eines Ereignisses: die Informationsfunktion, die Unterhaltungsfunktion sowie die psychische Entlastungsfunktion.17 Je nach Funktion kann sich auch der Fokus verändern und unterschiedliche Aspekte bzw. Personen pointieren. In diesem Zusammenhang differenziert Quasthoff in primär hörerorientierte, primär sprecherorientierte und primär kontextorientierte Funktionen einer Erzählung.18 Auch wenn Quasthoff sich in ihrer Analyse auf konversationelle Erzählungen beschränkt, so lässt sich die Differenzierung auch auf schriftliche Erzählungen übertragen, indem die Begriffe schreiber- / leserorientiert analog zu hörer- / sprecherorientiert verwendet werden können.
Zunächst können Erzählungen, ob mündlich oder schriftlich, dafür genutzt werden, um andere Personen über einen bestimmten Sachverhalt zu informieren. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass nicht alle Kommunikationsprozesse Informationen übermitteln. Nur solche Erzählungen, die explizit dahingehend motiviert sind, Informationen über ein zugrundeliegendes Ereignis mitzuteilen, werden in dieser Funktion zusammengefasst.19 Die primär hörerorientierte Funktion ergibt sich einerseits aus dem Bedürfnis, dem Hörer um seinetwillen etwas mitzuteilen, und andererseits aus der Fremdinitiierung der Erzählung, welche sich beispielsweise durch explizites Nachfragen ergibt.20 Selbiges gilt auch für Erzählungen, die vorwiegend eine Unterhaltungsfunktion innehaben. In diesem Zusammenhang kann Erzählen dazu genutzt werden, um Menschen, zum Beispiel durch Belustigung, zu unterhalten. Auch wenn dabei keine Person, sondern die Sache bzw. der Erzählgegenstand im Vordergrund der Erzählung steht21, so findet in den meisten Fällen eine Fremdinitiierung entweder durch eine gezielte Nachfrage oder situationelle Anforderungen statt und orientieren sich explizit an den Erwartungen des Hörers.22
Darüber hinaus kann die Artikulation einer erlebten Erfahrung dabei helfen, sich psychisch zu entlasten. Im Sinne von „geteiltes Leid ist halbes Leid“ kann es Menschen helfen, sich besser zu fühlen, indem sie ihre (negativen oder traumatischen) Erfahrungen mit anderen Menschen teilen oder unter Umständen Anteilnahme erzeugen. In diesem Fall hat der Sprecher das Bedürfnis, ein bestimmtes Erlebnis mündlich oder schriftlich mitzuteilen, und die Konversation von sich aus zu initiieren, das heißt ohne ein etwaiges Zutun des Interaktionspartners. Dann kann davon ausgegangen werden, dass „die Verbalisation des Erlebnisses ein „Ventil“ für einen inneren Spanungszustand des Erzählers darstellt.“23 In diesem Sinne haben Erzählungen eine primär sprecherorientierte Funktion, da sie dadurch dem Sprecher unter anderem dabei helfen, Erfahrungen zu reflektieren. Dementsprechend orientieren sich solche Erzählungen primär an den Bedürfnissen des Erzählers selbst.
Neben den drei Funktionen Informations-, Unterhaltungs- und Entlastungsfunktion, die entweder hörer- oder sprecherorientiert sind, identifiziert Quasthoff noch weitere Erzählungen, „die sich aus dem Zusammenhang einer übergeordneten Diskurseinheit ableiten.“24 Diese primär kontextorientierte Funktion besitzen jene Erzählungen, deren Sinn sich ausschließlich aus der Einbettung in einen bestimmten Kontext ergibt. In der Form ist dies bei Belegen und Erklärungen der Fall. Die Belegfunktion einer Erzählung ist dahingehend kontextorientiert, als das sie lediglich dann realisiert werden kann, wenn sie sich auf einen übergeordneten Diskurs bezieht. Es braucht einen konkreten Kontext, auf den sich der Beleg bezieht und der mit Hilfe einer Erzählung belegt werden soll. Weiterhin wird die Äußerung einer Erzählung, welche dem Belegen dient, durch die Einbettung in die übergeordnete Diskurseinheit und nicht durch den Hörer oder Sprecher motiviert. Analog gilt dies für Erklärungen.25
2.3. Merkmale von Erzählen und Erzählungen
Bereits in der definitorischen Abgrenzung des Erzählens zu anderen Kommunikationstechniken bzw. der Erzählung zu anderen Textsorten sind einige charakteristische Merkmale benannt worden, über die sich das Erzählen bzw. die Erzählung definieren. Dazu gehören nach Hurrelmann zwingend die retrospektive Darstellung eines bestimmten Sachverhaltes, in dem singuläre Handlungsabläufe vermittelt werden, sowie eine Motivation des Sprechers, dem Hörer ein Nacherleben des Ablaufs zu ermöglichen.26 Auch gibt es bestimmte Merkmale, die charakteristisch für das mündliche oder schriftliche Erzählen sind, wie dem Einsatz nonverbaler Mittel oder der Nutzung von Verben, mit denen Sprechakte ausgedrückt werden. Darüber hinaus weisen Erzähltexte bestimmte allgemeine sowie sprachliche Merkmale auf, die die Textsorte Erzählung auszeichnen. Ihnen liegt allgemein ein narratives Textmuster zugrunde, welches eine Abfolge von miteinander verknüpften Handlungen darbietet. Es wird ein erzählwürdiges Ereignis aus der Vergangenheit reproduziert.27 Die Erzählwürdigkeit ergibt sich primär aus dem subjektiven Empfinden des Erzählenden. Er bzw. sie muss selber eigenständig bewerten, ob ein vergangenes Ereignis erzählwürdig ist oder nicht. Van Dijk fordert in diesem Zusammenhang ein „Interessantheitskriterium“, das der Selektion dienen soll, indem es bewirkt, „daß [sic] nur das Geschehen oder die Handlungen erzählt werden, die bis zu einem gewissen Grade von einer Norm, von Erwartungen oder Gewohnheiten abweichen.“28 Durch die Normabweichung resultiert demnach eine Selektion verschiedener Ereignisse, aus der sich das Besondere ergibt, welches es wert macht, jenes Erlebnis zu erzählen. Aus der subjektiven Selektionsmaßnahme resultiert, dass es sich bei Erzählungen um subjektorientierte Textsorten handelt. In Bezug auf die Textsorte lassen sich darüber hinaus noch weitere sprachliche Merkmale bestimmen. Aus der konstitutiven vergangenen Darstellung einer Handlungsabfolge ergibt sich, dass als Tempus das Präteritum genutzt werden muss. Weiterhin können nur Erlebnisse aus subjektiven Erfahrungen erzählt werden, weshalb sie immer von der eingenommen Perspektive des Erzählers abhängen. Als Erzählformen eignen sich dementsprechend ein personaler Erzähler aus der Ich-Perspektive oder ein auktorialer Erzähler.29
Bezüglich der strukturellen Eigenschaften gibt es mehrere Modelle zur Begründung einer Erzählstruktur. Nach dem Modell nach Labov/Waletzky sind Erzählungen nach einer starren Primärfolge aufgebaut, die die Abfolge der erzählten Handlungen und Ereignisse direkt linear in der Äußerungsfolge abbildet und die nicht-narrativen Sätze gebündelt an den Anfang stellt.30 Auf dieser Basis teilen die beiden Autoren die Gesamtstruktur von Erzählungen in fünf aufeinanderfolgende Phasen ein: Die Orientierung (Exposition des Zuhörers in den Handlungsrahmen und Orientierung in Bezug auf beteiligte Personen, Ort und Zeit), die Komplikation (erzählenswertes Ereignis, das durch ein Resultat abgeschlossen wird), die Evaluation (Verdeutlichung der Wichtigkeit des Erzählens und der erzählten Ereignisse für den Erzähler), die Auflösung (Resultat einer Erzählung), die Coda (Verbindung des Erzählten mit der Gegenwart). Dem Modell zufolge muss eine Erzählung die Phasen Orientierung, Komplikation und Auflösung beinhalten, um verständlich und abgeschlossen zu sein. Eine Evaluation sowie die Coda sind fakultativ für die Erzählung.31
Eine zwar weniger starre und komplexe, aber dennoch ähnliche Strukturordnung nehmen Boueke/Schülein vor. Sie differenzieren lediglich in die drei Hauptphasen Orientierung (Einführung in das Geschehen bezüglich Ort, Zeit und Aktanten), Episode(n) (Darstellung der Handlungsfolge mit der Erzählung des Geschehens, der Komplikation und der Auflösung) und Coda (Abschluss mit Schlussbewertung und Evaluation), welche hierarchisch angeordnet sind und sich weiter ausdifferenzieren.32 Die strikte Linearität ist damit weitestgehend durch eine Hierarchisierung und Untergliederung der Strukturelemente, die einen Erzählrahmen konstituieren, ersetzt worden. Die abschließende Coda stellt bei diesem Modell keine fakultative Ergänzung, sondern einen obligatorischen Bestandteil der Erzählung dar.33
3. Sprachdidaktische Analyse
Nachdem sich bisher mit einer sprachwissenschaftlichen Betrachtung der Thematik auseinandergesetzt wurde, thematisiert das folgende Kapitel die didaktische Aufbereitung im schulischen Kontext. Dazu wird zunächst geklärt, wie die schulische Thematisierung legitimiert wird, welche Charakteristika sie aufweist und welche Formen Lerngegenstand sind. Daran anschließend geht es um die didaktischen Kompetenzen, die für den Erwerb einer Erzählfähigkeit evident sind, und wie der Erwerbsprozess stattfindet. Zum Abschluss werden auf Basis dessen didaktische Konsequenzen formuliert, die für die schulische Bildung evident sind.
3.1. Erzählen in der Schule
3.1.1. Legitimation
Bevor vertiefend auf die schulische Aufbereitung der Thematik eingegangen werden kann, ist es zunächst relevant, zu fragen, wie sich die Auseinandersetzung mit dieser im institutionalisierten Bildungssystem legitimiert. Gerade seitens der Erzähltextforschung wird in diesem Zusammenhang kritisiert, die Schule nehme sowohl auf die Erzählkompetenz als auch Erzählperformanz der Lernenden einen gravierenden Einfluss im Sinne der Übernahme konventioneller Form- und Gestaltungsmittel von Erzählungen. Dies führe weiter dazu, dass Schüler ausschließlich erlernen würden, bestimmte Erlebnisse schriftlich in determinierten Formschemata versprachlichen zu können, welche „normativ als Grundlage wohlgeformter Erzählungen postuliert [werden].“34 Der individuelle Charakter der Erzählfähigkeit, der das Resultat eines subjektiven Empfindens ist und das Nacherleben eines Ereignisses ermöglicht, würde somit verloren gehen. Eine Legitimation erhält die Beschäftigung mit dem Erzählen und der Produktion von Erzählungen über die Vermittlung allgemeiner sprachdidaktischer Grundkenntnisse. So stellt der Erwerb dieses Wissens eine zentrale Komponente im Hinblick auf die Entwicklung eines kompetenten Mitgliedes einer Gesellschaft dar, da die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in einer durch Schriftlichkeit geprägten Kultur an das Erlernen sprachlicher Gegenstände gekoppelt ist, weshalb diesem Komplex in der institutionalisierten Bildung eine evidente Funktion zukommt.“35 Scheffel kennzeichnet das Erzählen weiterhin als eine elementare kulturelle Handlungsform, über die sich einzelne Kulturen identifizieren und von anderen abgrenzen.36 Auch werden durch die Thematisierung spezielle Eigenschaften wie die Kreativität und die Empathie gefördert sowie verbale und nonverbale Verhaltenstechniken erworben. Der Erzählende verbalisiert ein Geschehen und reflektiert dadurch das Erlebte, während der Rezipient gleichzeitig etwas über andere Personen, Kulturen, Verhaltensweisen, unbekannte Themen etc. erfährt, sodass bestimmtes Wissen weitergegeben wird sowie Werte und interkultureller Austausch gefördert werden. Nach Fritzsche gewinnen Schüler des Weiteren „Klarheit […] über die Inhalte, […] über Menschen, über ihr Handeln, ihre Motive, ihre Gefühle, ihre Bestrebungen“ und somit letzten Endes auch über sich selbst.37 Erzählen schult durch die retrospektive Betrachtung und Reflexion des Geschehenen das Bewusstwerden über unterschiedliche Handlungsprozesse, Akteure, Intentionen sowie Emotionen und somit insgesamt das Verstehen der Welt. Dadurch wird ein tieferes Bewusstsein darüber geschaffen, was in der Situation passiert ist, das heißt, welche Akteure miteinander auf welche Art und Weise interagiert haben, welche Handlungsmotive und Gefühle vorlagen sowie welche Konklusion sich daraus ergeben hat. Diese Auseinandersetzung mit den Inhalten und beteiligten Personen des Erzählten bewirkt letzten Endes ein besseres Verständnis von zwischenmenschlichen Beziehungen, situationellen Faktoren sowie Gefühlen, Bestrebungen und Intentionen von Personen. Es geht beim Erzählen auch darum, Menschen, die Welt und das Leben verstehen zu lernen.38 Unter diesen Gesichtspunkt erfährt die Schule als Bildungsinstitution aus didaktischer Perspektive die Legitimation über die Thematisierung des Lerngegenstands.
[...]
1 Vgl. Brinker, Klaus, Antos, Gerd, Heinemann, Wolfgang & Sager, Sven F. (Hrsg.) (2000). Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. und 2. Halbband. Berlin/New York: De Gruyter.
2 Benjamin, Walter (1955): Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders. (Hrsg.): Illuminationen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 443.
3 Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (Hrsg.) (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin: Akademie Verlag, S. 293.
4 Vgl. Bertschi-Kaufmann, Andrea (2000): Lesen und Schreiben in einer Medienumgebung. Die literalen Aktivitäten von Primarschulkindern. Aarau: Sauerländer, S. 57.
3 Labov, William (1978): Sprache im sozialen Kontext. Beschreibung und Erklärung struktureller und sozialer Bedeutung von Sprachvariation. Königstein/Ts.: Scriptor, S. 64.
6 Grice, Herbert P. (1975): Logic and Conversation. In: ders. (Hrsg.): Studies in the Way of Words. Cambridge: Harvard University Press, S. 45.
7 Hurrelmann, Bettina (1980): Erzähltextverarbeitung im schulischen Handlungskontext. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 300.
8 Ebd.
9 Gülich, Elisabeth/Hausendorf, Heiko (2000): Vertextungsmuster Narration. In: Brinker, Klaus et al. (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. und 2. Halbband. Berlin/New York: De Gruyter, S. 373.
10 Vgl. Rank, Bernhard (1995): Wege zur Grammatik und zum Erzählen: Grundlagen einer spracherwerbsorientierten Deutschdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider, S. 106.
11 Gülich/Hausendorf (2000): Vertextungsmuster Narration, S. 373.
12 Fuchs, Anna (1984): Erzählen in der Schule und spontanes Erzählen. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.): Erzählen in der Schule. Tübingen: Narr, S. 188
13 Ebd.
14 Ebd., S. 191.
15 Flader, Dieter/Hurrelmann, Bettina (1984): Erzählen im Klassenzimmer: eine empirische Studie zum „freien“ Erzählen im Unterricht. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.): Erzählen in der Schule. Tübingen, S. 224.
16 Hurrelmann (1980): Erzähltextverarbeitung im schulischen Handlungskontext, S. 300.
17 Vgl. Fix, Martin (2008): Texte schreiben. Schreibprozesse im Deutschunterricht. Paderborn: Schöningh, S. 94; Merz-Grötsch, Jasmin (2010): Texte schreiben lernen. Grundlagen, Methoden, Unterrichtsvorschläge. Kallmeyer/Klett: Seelze, S. 163.
18 Vgl. Quasthoff, Uta (1980): Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen: Narr, S. 148.; Quasthoff verwendet die Begriffe Hörer und Sprecher, da sie sich in der Analyse auf konversationelle Erzählungen beschränkt.
19 Vgl. ebd., S. 156.
20 Vgl. ebd.
21 Vgl. Fix (2008): Texte schreiben, S. 94.
22 Vgl. Quasthoff (1980): Erzählen in Gesprächen, S. 159.
23 Ebd., S. 149.
24 Ebd., S. 160.
25 Vgl. ebd., S. 160f.; 168.
26 Vgl. Hurrelmann (1980): Erzähltextverarbeitung im schulischen Handlungskontext, S. 300.
27 Vgl. Fix (2008): Texte schreiben, S. 94.
28 van Dijk, Teun A. (1980): Textwissenschaft: eine interdisziplinäre Einführung. München: DTV, S. 141.
29 Merz-Grötsch (2010): Texte schreiben lernen. S. 164.
30 Vgl. Labov, William/Waletzky, Joshua (1973): Erzählanalyse: mündliche Versionen persönlicher -Erfahrung. In: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 1. Frankfurt a.M., S. 108.
31 Vgl. ebd., S. 78ff.
32 Vgl. Boueke, Dietrich/Schülein, Frieder (1988): „Story Grammars“. Zur Diskussion um einen erzählstrukturelles Konzept und seine Konsequenzen für die Erzähldidaktik. In: Wirkendes Wort 1988/1, S. 125.
33 Vgl. ebd.
34 Vgl. Klein, Klaus-Peter (1980): Erzählen im Unterricht. Erzähltheoretische Aspekte einer Erzähldidaktik. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 264.
35 Steinig, Wolfgang/Huneke, Hans-Werner (42011): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 12.
36 Vgl. Scheffel, Michael (2005): Theorie und Praxis des Erzählens. In: Der Deutschunterricht. 2/2005, S. 2.
37 Vgl. Fritzsche, Joachim (1994): Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts. Bd. 2: Schriftliches Arbeiten. Stuttgart: Klett, S. 49.
38 Vgl. Fritzsche (1994): Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts, S. 49.